VwGH 2008/23/0027

VwGH2008/23/00278.9.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kail sowie die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte MMag. Maislinger, Dr. Hofbauer und Mag. Dr. Wurdinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Stelzl, über die Beschwerde der SS in L, geboren 1978, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den am 12. April 2005 mündlich verkündeten und am 13. April 2005 schriftlich ausgefertigten Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 246.498/9- II/04/05, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, reiste am 5. Jänner 2003 über Deutschland in das Bundesgebiet ein und beantragte am 7. Jänner 2003 Asyl. Zu ihren Fluchtgründen gab sie im Wesentlichen an, sie sei verheiratet und im August 2001 als Angehörige eines Gastarbeiters aus Istanbul nach Deutschland gekommen. Ihr Ehemann habe sie unterdrückt, hinausgeworfen und gesagt, dass sie nicht in Deutschland oder Europa leben dürfe. Die Scheidung sei eingereicht; ihr Ehemann wolle die Ehe nicht aufrecht erhalten. Ihre Familie in der Türkei würde sie nicht "zurücknehmen" und verlangen, dass sie beim Ehemann bleibe. Sie könne in der Türkei nicht alleine leben, weil sie "etwaiger Männerbesuche" verdächtigt würde. In Deutschland habe sie keinen Asylantrag gestellt, weil sie Angst vor ihrem Ehemann habe und die Polizei sie nicht "rund um die Uhr" schützen könnte.

Mit Bescheid vom 23. Dezember 2003 wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei gemäß § 8 AsylG für zulässig.

Über die dagegen erhobene Berufung verhandelte die belangte Behörde am 12. April 2005. Die Beschwerdeführerin legte das rechtskräftige Scheidungsurteil des Amtsgerichtes Reutlingen vom 26. November 2003 vor und gab zusammengefasst an, sie gehöre der türkischen Volksgruppe an und fürchte sich wegen der Scheidung sowohl vor der Familie ihres früheren Ehemannes als auch ihrer eigenen Familie, die von ihr deswegen nichts mehr wissen wolle. Ihr in Istanbul lebender Vater habe gedroht, er werde sie im Fall der Scheidung töten. In ihrer Familie habe es noch keine Scheidung gegeben. Wenn ihr Vater wüsste, wo sie sich in der Türkei aufhalte, würde er sie töten. Von ihrem geschiedenen Mann befürchte sie keine Gefährdung.

In dieser Verhandlung erstattete der Sachverständige Mehmet Öztürk Bericht zur Gefährdung der Beschwerdeführerin u.a. "wegen ihrer familiären Situation". Im traditionellen kurdischen wie auch türkischen Milieu werde auf die "Ehre", definiert als "sittenstrenges Betragen" unverheirateter Mädchen und Ehefrauen, in besonderer Weise geachtet. Verstöße gegen diese Verhaltensnormen könnten grundsätzlich zu sogenannten "Ehrenmorden" führen. Ehebruch (oder auch eine diesbezügliche Vorbereitungshandlung) der Ehefrau verstoße gegen die "Ehre" der Frau (und damit auch der Familie ihres Ehemannes und ihrer eigenen). Auch einer Ehefrau, die ihren Ehemann verlasse oder selbst aktiv die Scheidung betreibe, werde gerne unterstellt, dies wegen eines anderen Mannes zu unternehmen, wodurch diese Handlungen als Ehrverletzungen betrachtet werden könnten. Aus dem Scheidungsurteil sei ersichtlich, dass dieses auf Betreiben des Ehemannes ausgesprochen worden sei, die "Erwähnung eines Scheidungsantrages" auch der Beschwerdeführerin erwecke "demgegenüber den Eindruck einer Antwort." Nach einem vorgelegten Schreiben ihrer deutschen Rechtsanwälte sei die Beschwerdeführerin an einer Fortsetzung der Ehe interessiert. Sie selbst gebe an, ihr Ehemann habe die Ehe beenden wollen. "Vor diesem Hintergrund" sehe der Sachverständige "keine Anhaltspunkte dafür, dass das Scheitern der Ehe seitens der Herkunftsfamilie der (Beschwerdeführerin) dieser zur Last gelegt würde." Im Scheidungsurteil sei von keinem ehelichen Fehlverhalten der Beschwerdeführerin die Rede, vielmehr habe sich der Ehemann eineinhalb Jahre nach Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft "einer neuen Partnerin" zugewandt, was in Verbindung mit der verzögerten Aufnahme der ehelichen Gemeinschaft ("erst etwa ein Jahr nach der Hochzeit") den Schluss zulasse, ihr Ehemann sei nie ernsthaft an der Führung einer Ehe mit ihr interessiert gewesen. In einem solchen Fall habe aber nicht die Beschwerdeführerin die "Ehre ihrer Familien" verletzt, sondern ihr ehemaliger Mann. Dies führe angesichts des starken Zusammenhalts ethnisch türkischer Familien zu einer Solidarisierung der "Herkunftsfamilie" mit der "beleidigten Frau." Die Behauptungen der Beschwerdeführerin, mit ihrem Vater keinen Kontakt mehr und Todesdrohungen erhalten zu haben, seien "reine Schutzbehauptungen". Die Tötung eines Verwandten aufsteigender oder absteigender Linie werde nach Art. 450 Z 1 türkisches StGB bestraft. Diese Strafnorm werde von den türkischen Behörden effektiv vollzogen. Es gebe "keineswegs ein Klima faktischer Straflosigkeit gegenüber 'sexuellen Übergriffen oder Ehrenmorden', schon gar nicht in Istanbul oder sonstigen urbanen Gebieten." Die Türkei sei diesbezüglich für eine "effiziente Strafgerichtsbarkeit" bekannt.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin gemäß den §§ 7, 8 AsylG ab. Der Entscheidung lägen - so die Bescheidbegründung - in sachverhaltsmäßiger Hinsicht zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen und zu den "konkreten Lebensumständen" der Beschwerdeführerin deren Vorbringen zugrunde, soweit es mit den Feststellungen im Scheidungsurteil des Amtsgerichtes Reutlingen sowie mit der Beurteilung des Sachverständigen im Einklang stehe. Hinsichtlich des "komplementären Teils" folge die belangte Behörde den Feststellungen im Scheidungsurteil (insbesondere "der Verteilung der Initiative zu deren Beendigung und des damit in Zusammenhang stehenden Verhaltens des ehemaligen Gatten") sowie den schlüssigen und nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen, denen die Beschwerdeführerin nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten sei. Auf dieser Grundlage ergebe sich in rechtlicher Hinsicht, dass die Beschwerdeführerin - entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen - aus dem Scheitern ihrer Ehe weder eine Gefährdung durch ihren ehemaligen Mann noch durch ihren Vater ableiten könne. Ihr könne weder das Betreiben der Ehescheidung noch ein sonstiges, ehrenrühriges Fehlverhalten vorgeworfen werden. Hilfsweise argumentiert die belangte Behörde, selbst bei Bestehen einer Tötungsgefahr durch ihren Vater entbehre dieser Umstand "vollständig der Relevanz", "da der türkische Staat hiegegen ... eine - auch effektiv vollzogene - Strafrechtsnorm (Art. 450 Z 1 tStGB) bereitstellt."

Da auch weitere Gefährdungen nicht hervorgekommen seien, sei die Berufung vollinhaltlich abzuweisen.

Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die Beschwerde macht geltend, auch die Beschwerdeführerin habe das Scheidungsverfahren betrieben. Aus dem Urteil des Amtsgerichtes Reutlingen sei ersichtlich, dass sie einen Scheidungsantrag gestellt habe und die Ehe als zerrüttet ansehe. Sie habe die Ehe nicht nach den Vorstellungen ihrer türkischen Verwandten führen können. Für diese sei allein maßgeblich, dass sie sich von ihrem Ehemann getrennt habe und nunmehr alleine in Österreich lebe. Schon durch dieses Verhalten fühle sich ihre Familie (insbesondere ihr Vater) als auch die Familie ihres Ehemannes in der "Ehre" verletzt. Sie sei aufgrund der Scheidung massiven Verfolgungshandlungen in der Türkei ausgesetzt und die Rückkehr könne ihr nicht zugemutet werden. Sie fürchte einen Ehrenmord. Allein durch die Existenz eines türkischen Strafgesetzes sei kein effektiver Schutz gegen private Übergriffe gewährleistet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt auf Begründungsdefizite in Bescheiden der belangten Behörde hingewiesen, die keine expliziten Sachverhaltsfeststellungen enthielten, sondern sich darauf beschränkten, das Vorbringen der Beschwerdeführerin insoweit, als dieses mit den Ausführungen des Sachverständigen in Einklang zu bringen ist, der Entscheidung zugrunde zu legen. Ließ sich bei einer solchen Vorgangsweise nicht eindeutig erkennen, welchen (rechtlich relevanten) Sachverhalt die belangte Behörde als erwiesen angenommen hat, oder aus welchen (beweiswürdigenden) Erwägungen die Behörde im Einzelnen den Darlegungen des Sachverständigen gegenüber einer gegenteiligen Aussage des Asylwerbers den Vorzug gegeben hat, so entzog sich der Bescheid einer nachprüfenden Kontrolle und konnte keinen Bestand haben (vgl. zusammenfassend das Erkenntnis vom 3. September 2008, Zl. 2006/19/0026, mwN).

Im vorliegenden Fall lässt sich der Begründung des angefochtenen Bescheides gerade noch entnehmen, welchen Sachverhalt die belangte Behörde ihrer Entscheidung zugrunde legte. Danach könne der Beschwerdeführerin weder ein Betreiben der Ehescheidung noch ein sonstiges, ehrenrühriges Fehlverhalten vorgeworfen werden, woraus die belangte Behörde aus dem Scheitern ihrer Ehe weder eine Gefährdung durch ihren Ehemann noch durch ihren Vater ableitet.

Die belangte Behörde stützte sich dabei auf die Ausführungen des Sachverständigen, denen die Beschwerdeführerin "nicht fundiert entgegengetreten" sei, und auf die Begründung des Scheidungsurteils des Amtsgerichtes Reutlingen, ohne darauf jeweils näher beweiswürdigend einzugehen. Der Sachverständige führte aus, dass einer Ehefrau, "die ihren Gatten faktisch verlässt oder gar selbst aktiv die förmliche Scheidung betreibt, gerne unterstellt wird, dass sie dies wegen eines anderen Mannes unternehme (wodurch auch diese Handlungen als Ehrverletzungen betrachtet werden können)," und derartige Verstöße "auch heute noch grundsätzlich zu sogenannten 'Ehrenmorden' führen." Nach den Entscheidungsgründen des Urteils des Amtsgerichtes Reutlingen hat die Beschwerdeführerin ebenfalls einen Scheidungsantrag gestellt und mitgeteilt, dass sie die Ehe als endgültig zerrüttet ansieht. Sie hat während aufrechter Ehe im Jänner 2003 Deutschland verlassen. Warum ihr Scheidungsantrag samt Zugeständnis der Zerrüttung der Ehe und der Wegzug aus Deutschland während aufrechter Ehe von ihrer Familie und der ihres geschiedenen Mannes nicht als "aktives Betreiben" der Scheidung bzw. als "faktisches Verlassen" ihres Ehemannes und damit wegen der Unterstellung, dies wegen eines anderen Mannes zu tun, nicht als "Ehrverletzung" angesehen wird, legte der Sachverständige nicht dar. Eine (schlüssige) Auseinandersetzung mit diesen Umständen lassen das Gutachten des Sachverständigen und der angefochtene Bescheid vermissen, weshalb der angefochtene Bescheid keine tragfähige Begründung für die Verneinung einer asylrelevanten Gefährdung enthält. Überdies unterließ die belangte Behörde Ermittlungen zur ebenfalls behaupteten Furcht vor Verfolgung durch die Familie ihres früheren Ehemannes. Dass die Beschwerdeführerin von ihrem geschiedenen Mann keine Gefährdung befürchtet, ersetzt nicht Feststellungen zur behaupteten Bedrohung durch dessen Familienangehörige.

Die Hilfsbegründung im angefochtenen Bescheid, der türkische Staat "stelle" eine "effektiv vollzogene" Strafnorm zur Abwendung der Gefahr der Tötung durch ihren Vater "bereit", greift zu kurz. Anders als nach den Feststellungen, die dem hg. Erkenntnis vom 8. Juni 2000, Zl. 2000/20/0141, zugrunde lagen, ist die Begründung deshalb nicht tragfähig, weil die belangte Behörde keine Feststellungen traf, wie bzw. mit welcher Effizienz die türkischen Behörden gegen private Verfolgungen im Zusammenhang mit "Ehrenmorden" vorgehen (vgl. im Zusammenhang mit der Verfolgung wegen "Blutrache" das hg. Erkenntnis vom 22. August 2006, Zl. 2006/01/0251). Für die Frage, ob der Staat ausreichenden Schutz bietet, kommt es maßgeblich darauf an, ob die Beschwerdeführerin mit einer "präventiven Verhinderung" ihrer Ermordung rechnen könnte und nicht bloß mit der nachträglichen, strafrechtlich "effektiven" Ahndung (vgl. die zu § 8 AsylG ergangenen, sinngemäß auch auf § 7 AsylG übertragbaren Begründungen in den hg. Erkenntnissen vom 30. Juni 2005, Zl. 2002/20/0205, und vom 17. Oktober 2006, Zl. 2006/20/0120; vgl. auch zur ausreichenden staatlichen Schutzgewährung die hg. Erkenntnisse vom 26. Februar 2002, Zl. 99/20/0509, und vom 22. März 2000, Zl. 99/01/0256).

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 8. September 2009

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