VwGH 2008/21/0131

VwGH2008/21/01315.7.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des Y, vertreten durch Mag. Karlheinz Amann, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Nibelungengasse 1, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 8. Jänner 2008, Zl. St 50/05, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

62003CJ0136 Dörr VORAB;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
AVG §1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §9 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
62003CJ0136 Dörr VORAB;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
AVG §1;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §9 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Bezirkshauptmannschaft Ried im Innkreis erließ gegen den 1968 geborenen, seit 1991 in Österreich aufhältigen Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, mit Bescheid vom 14. Jänner 2005 gemäß § 36 Abs. 1 und 2 Z 1 und 5 des (bis 31. Dezember 2005 in Geltung gestandenen) Fremdengesetzes 1997 - FrG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot.

Der dagegen erhobenen Berufung gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (die belangte Behörde) mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. Jänner 2008 gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 und 2 Z 1 des (am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen) Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid.

In der Begründung ging die belangte Behörde unter erkennbarer Übernahme des im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Inhalts des erstinstanzlichen Bescheides davon aus, der Beschwerdeführer sei am 7. November 1991 "sichtvermerksfrei" nach Österreich eingereist und habe am 20. Februar 1992 eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Im Hinblick darauf seien ihm beginnend mit 23. Juni 1992 Aufenthaltstitel - zuletzt befristet bis 27. April 1999 - erteilt worden. Die erwähnte Ehe sei mit Gerichtsurteil vom 27. Oktober ?997 für nichtig erklärt worden, weil sie gegen Leistung eines Betrages von ATS 20.000,-- nur zu dem Zweck geschlossen worden sei, dem Beschwerdeführer eine "Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung" zu verschaffen. Der Sachverhaltswiedergabe ist weiters zu entnehmen, dass dem Beschwerdeführer in der Folge beginnend ab 10. Mai 1999 dreimal Niederlassungsbewilligungen erteilt wurden, zuletzt für den Zeitraum 29. April 2003 bis 5. Mai 2004. Er habe bis zum 5. Mai 2004 auch über einen Befreiungsschein verfügt und in Österreich "insgesamt mindestens 10 Jahre in verschiedenen Berufen gearbeitet", wobei das letzte Arbeitsverhältnis "ca. im März 2003" geendet habe.

Das Aufenthaltsverbot gründete die belangte Behörde darauf, dass der Beschwerdeführer mit Urteil vom 8. September 2003 wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt worden sei. Diese Bestrafung gehe auf eine Auseinandersetzung mit einem türkischen Staatsangehörigen zurück, dem der Beschwerdeführer eine Ohrfeige versetzt habe. Weiters sei über den Beschwerdeführer mit Urteil vom 25. August 2004 wegen "gewerbsmäßiger Schlepperei" gemäß § 104 Abs. 1 und 3 erster und zweiter Fall FrG eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt worden. Ihm sei "die gewerbsmäßige Schleusung von ca. 120 Personen in etwa 30 Fahrten" zur Last gelegt worden. Schließlich berücksichtigte die belangte Behörde dann noch die (nach Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides ergangene) Verurteilung vom 6. Juni 2005, womit der Beschwerdeführer wegen der Verbrechen der (Beteiligung an einer) kriminellen Organisation nach § 287a StGB und der Schlepperei nach § 104 Abs. 1 und 3 erster und zweiter Fall FrG zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt wurde. Er sei für schuldig befunden worden, "in einer unternehmensähnlichen Verbindung eine große Zahl von Personen geschleppt (zu haben) bzw. an diesen Schleppungen beteiligt gewesen zu sein".

In der rechtlichen Beurteilung ging die belangte Behörde davon aus, der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG sei "schon insofern erfüllt, als (der Beschwerdeführer) bereits mehrmals von österreichischen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurde". Gegenteiliges sei vom Beschwerdeführer auch nicht behauptet worden.

Die Erlassung des Aufenthaltsverbotes sei im Sinne des § 66 Abs. 1 FPG dringend erforderlich, weil aus dem bisherigen Verhalten des Beschwerdeführers eine enorme kriminelle Energie feststellbar sei. So habe er nicht nur "ca. 120 Personen in etwa 30 Fahrten geschleppt", sondern sich auch an einer kriminellen Organisation beteiligt. In den weiteren Ausführungen legte die belangte Behörde näher dar, dass an der Unterbindung von Schlepperei ein großes öffentliches Interesse bestehe. Daher käme es geradezu einer Förderung des Schlepperunwesens gleich, würde man dem Beschwerdeführer den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet gestatten. Es sei zwar zu beachten, dass ihm eine der Dauer seines Aufenthaltes in Österreich von 16 Jahren entsprechende Integration zuzubilligen und dass er bereits über mehrere Jahre einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, dass er hier mit seiner Lebensgefährtin und den drei (minderjährigen) Kindern lebe und dass sich auch sein Bruder und seine Schwester im Bundesgebiet aufhielten. Unter Abwägung aller angeführten Tatsachen würden jedoch die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von einem Aufenthaltsverbot im Hinblick auf die für den Beschwerdeführer zu stellende negative Zukunftsprognose wesentlich schwerer wiegen als die Auswirkungen dieser Maßnahme auf seine Lebenssituation, weshalb das Aufenthaltsverbot auch im Sinne des § 66 Abs. 2 FPG zulässig sei. Aus den angeführten Gründen sei auch das Ermessen nicht zugunsten des Beschwerdeführers zu üben.

Das Aufenthaltsverbot sei - so die belangte Behörde abschließend - auf unbefristete Dauer zu erlassen, weil derzeit nicht abgeschätzt werden könne, wann die Gründe für seine Erlassung wieder wegfallen würden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde nach der Übergangsvorschrift des § 125 Abs. 1 FPG zu Recht die Bestimmungen des genannten Gesetzes - in der hier noch maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011 - angewendet hat.

2. Gemäß § 9 Abs. 1 FPG entscheiden - als im Verfassungsrang normierte Ausnahme zur grundsätzlichen Zuständigkeit der Sicherheitsdirektionen - über Berufungen gegen nach dem FPG ergangene Bescheide im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die unabhängigen Verwaltungssenate - vor dem Hintergrund des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 2. Juni 2005, Rs C-136/03 (Dörr/Ünal) - aber auch in Berufungssachen nach dem FPG im Falle von türkischen Staatsangehörigen zuständig, sofern diese die Voraussetzungen nach Art. 6 oder nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB) erfüllen (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 29. April 2008, Zl. 2008/21/0072, mwN).

Mit der demnach maßgeblichen Frage, ob dem Beschwerdeführer Rechte nach dem ARB zukommen, hat sich die belangte Behörde aber überhaupt nicht auseinander gesetzt. Die Erstbehörde vertrat dazu zwar noch die (im angefochtenen Bescheid wiedergegebene) Auffassung, der Anwendung des Art. 6 ARB stehe die vom Beschwerdeführer eingegangene Scheinehe, die zur Erteilung der bis 27. April 1999 gültigen Aufenthaltsberechtigungen und eines Befreiungsscheines geführt habe, entgegen, weil dadurch kein "ordnungsgemäßer Wohnsitz" geschaffen worden sei. Das steht zwar mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa das Erkenntnis vom 20. April 2006, Zl. 2005/18/0555) im Einklang, doch wäre im vorliegenden Fall zu beachten gewesen, dass dem Beschwerdeführer auch noch nach der Nichtigerklärung der Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin Niederlassungsbewilligungen und ein Befreiungsschein erteilt wurden. Angesichts der von den Verwaltungsbehörden angenommenen (erlaubten) Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers in Österreich hätte es somit schon unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit der belangten Behörde einer näheren Befassung mit der (nicht von vornherein zu verneinenden) Frage einer möglichen ARB-Berechtigung des Beschwerdeführers bedurft

3. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen türkischen Staatsangehörigen, der über eine ARB-Berechtigung verfügt, bedarf - worauf in diesem Zusammenhang noch hinzuweisen ist - im Hinblick auf Art. 14 ARB und die insoweit gebotene Gleichbehandlung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit EWR-Bürgern in materiell-rechtlicher Hinsicht des Vorliegens der im § 86 Abs. 1 FPG, mit dem die Richtlinie 2004/38/EG umgesetzt wurde, umschriebenen Voraussetzungen. Dabei wäre fallbezogen zu beachten, dass der Beschwerdeführer im Sinn des fünften Satzes dieser Bestimmung vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte. Diesfalls wäre auf die besonderen, im fünften Satz des § 86 Abs. 1 FPG normierten - auch gegenüber den Anforderungen im ersten und zweiten Satz strengeren - Voraussetzungen (nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit) Bedacht zu nehmen (vgl. auch dazu das Erkenntnis Zl. 2008/21/0072).

4. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 60 Abs. 1 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Für diese Beurteilung ist demnach nicht das Vorliegen von rechtskräftigen Bestrafungen oder Verurteilungen, sondern das diesen zu Grunde liegende Verhalten des Fremden maßgeblich. Dabei ist also - anders als bei der Frage, ob der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG erfüllt ist - nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 86 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht im Übrigen schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. zum Ganzen neuerlich das Erkenntnis Zl. 2008/21/0072, mwN).

Die belangte Behörde hat diesen Anforderungen (auch in Verbindung mit den im angefochtenen Bescheid wiedergegeben Ausführungen im erstinstanzlichen Bescheid) - wie sich schon aus der obigen Wiedergabe der Bescheidbegründung ersehen lässt - nicht ausreichend entsprochen. Die dem zusammengefassten Urteilstenor folgenden Feststellungen zu den Straftaten reichen im vorliegenden Fall - wie die Beschwerde zu Recht bemängelt - nicht für eine nachvollziehbare Darstellung der individuellen Gefährdungsprognose, für die es vor allem einer Beschreibung der vom Beschwerdeführer gesetzten Tathandlungen bedarf, um seine Rolle im Rahmen der durchgeführten Schleppungen und innerhalb der kriminellen Organisation beurteilen zu können. Im Übrigen hätte in die diesbezüglichen Überlegungen auch das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Wohlverhalten seit der Haftentlassung im Februar 2005 einbezogen werden müssen.

Außerdem ist - soweit die belangte Behörde davon ausgeht, der Beschwerdeführer sei bereits "mehrmals" von österreichischen Gerichten rechtskräftig verurteilt worden - darauf hinzuweisen, dass die beiden Verurteilungen vom 25. August 2004 und vom 6. Juni 2005 zueinander im Verhältnis der §§ 31 und 40 StGB stehen und daher als Einheit zu werten sind (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, Zl. 2009/21/0050); sie können nur als eine rechtskräftige Verurteilung angesehen werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. März 2002, Zl. 2000/21/0216, mwN; siehe darauf verweisend zuletzt auch das hg. Erkenntnis vom 9. November 2009, Zl. 2006/18/0411).

5. Unter dem Gesichtspunkt der nach § 66 (iVm § 60 Abs. 6) FPG vorzunehmenden Interessenabwägung ist schließlich noch zu bemängeln, dass unklar bleibt, ob der Beschwerdeführer mit seiner "Lebensgefährtin" und den gemeinsamen Kindern aktuell zusammenlebt. Während die Erstbehörde dies offenbar verneint - sie spricht von Kindern "aus" einer Lebensgemeinschaft mit einer türkischen Staatsangehörigen - und nach dem Vorbringen in der Berufungsergänzung sich diese Angehörigen in der Türkei aufzuhalten scheinen, geht die belangte Behörde nämlich im angefochtenen Bescheid von einem Zusammenleben der genannten Familienangehörigen in Österreich aus.

6. Schon angesichts dieser (weitgehend sekundären) Begründungsmängel war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003. Wien, am 5. Juli 2011

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte