Normen
AVG §71 Abs1 lita idF 1990/357;
AVG §71 Abs1 Z1;
AVG §71 Abs1 lita idF 1990/357;
AVG §71 Abs1 Z1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Gambias, beantragte am 13. Jänner 2003 Asyl. Mit Bescheid vom 30. September 2003 wies das Bundesasylamt diesen Antrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Gambia gemäß § 8 AsylG für zulässig.
Über eine dagegen erhobene Berufung führte die belangte Behörde am 12. November 2007 eine mündliche Berufungsverhandlung durch, zu der der Beschwerdeführer nicht erschien. Mit Bescheid vom selben Tag wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 7, 8 AsylG ab.
Mit Schriftsatz vom 28. November 2007 beantragte der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsverhandlung. Zur Begründung brachte er vor, er habe den negativen Bescheid erhalten, obwohl er davon ausgegangen sei, dass er durch seine Rechtsberaterin K K vom Verein U B (für die Verhandlung vor der belangten Behörde) entschuldigt worden sei. Er sei über diesen Verein untergebracht und werde dort betreut, er erhalte aber keine Grundversorgung und sei auch nicht krankenversichert. Am 12. November 2007 habe er hohes Fieber bekommen, in der Nacht seien starke Magenschmerzen und Erbrechen hinzugekommen. Er habe nur einen Bekannten von SOS-Mitmensch erreichen können, diesen habe er gebeten, die Information (über die plötzliche Erkrankung) K K vom Verein U B zukommen zu lassen. Der Bekannte von SOS-Mitmensch habe ihn am selben Tag auch besucht und ihm einige Medikamente vorbeigebracht. Jetzt sehe er den negativen Bescheid und könne nicht verstehen, was er hätte anderes tun können, als seinen Bekannten zu bitten, die notwendige Information an die belangte Behörde bzw. die Rechtsberaterin weiterzuleiten; er wisse nicht, warum diese dies nicht getan hätten. Er sei sich keiner Pflichtverletzung bewusst, man habe ihm vor der Ladung bereits mehrmals mitgeteilt, dass er nicht versichert sei und im Krankheitsfall nur zum Roten Kreuz gehen könne. Er habe nicht gewusst, wohin er sich hätte wenden können. Er spreche auch kein gutes Deutsch und hätte auch nicht selbst anrufen können, körperlich sei er nicht in der Lage gewesen, das medizinische Zentrum aufzusuchen, um Medikamente oder eine Bestätigung zu holen, seine unmittelbaren Nachbarn seien auch Asylwerber und es sei ihm zu schlecht gegangen, um irgendwelche anderen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.
In weiterer Folge langten bei der belangten Behörde Stellungnahmen der vom Beschwerdeführer genannten Mitarbeiterin des Vereins U B sowie des Mitarbeiters von SOS-Mitmensch ein. In der zuletzt genannten Stellungnahme wird u.a. bestätigt, dass der Beschwerdeführer am 12. November (2007) in seiner Wohnung besucht und mit Medikamenten und Lebensmitteln versorgt wurde, zumal dieser "offensichtlich an einer Darm-Grippe-Infektion" gelitten habe.
Mit dem angefochtenen, ohne weiteres Ermittlungsverfahren erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ab.
Sie ging - im Anschluss an eine Darstellung des Verfahrensganges und eine Wiedergabe des § 71 Abs. 1 AVG - davon aus, dass die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorlägen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes - zitiert werden dazu die hg. Erkenntnisse vom 19. September 1983, Zl. 83/05/0045, vom 25. Oktober 1990, Zl. 89/06/0064, und vom 16. Februar 1994, Zl. 90/13/0004 - stelle "eine plötzlich eingetretene Erkrankung nur dann einen Wiedereinsetzungsgrund dar, wenn dadurch die Dispositionsfähigkeit des Antragstellers ausgeschlossen" werde. Es sei "zweifelhaft", ob die bloße Behauptung einer "Magen-Darm-Erkrankung am Tag der Berufungsverhandlung für sich betrachtet" ausreiche, um von einer Glaubhaftmachung im Sinne des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ausgehen zu können, zumal der Beschwerdeführer keine ärztliche Bescheinigung über die Infektion vorgelegt habe. Es sei irrelevant, aus welchen Gründen der Beschwerdeführer nicht in der Lage sei, eine ärztliche Bestätigung beizubringen. Bestätigt werde die Erkrankung "lediglich" von einem Mitarbeiter des Vereins SOS-Mitmensch, der den Beschwerdeführer seinen Angaben zufolge am Tag der mündlichen Berufungsverhandlung in dessen Unterkunft besucht habe.
Selbst wenn man von einer "Magen-Darm-Infektion" beim Beschwerdeführer ausgehe, so handle es sich um keine Erkrankung, die die Dispositionsfähigkeit im Sinne der genannten Judikatur ausschließe. Der Beschwerdeführer wäre im Gegenteil im Rahmen der ihm zukommenden Mitwirkungspflichten "keineswegs gehindert gewesen", die belangte Behörde zeitgerecht vor Beginn der mündlichen Verhandlung am 12. November 2007 um 9 Uhr fernmündlich von seinem Fernbleiben zu informieren. Wenn der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang seine schlechten Deutschkenntnisse ins Treffen führe, sei ihm entgegenzuhalten, dass die Verständigung bei der belangten Behörde auch in englischer Sprache erfolgen hätte können. Der Beschwerdeführer habe offenkundig nicht einmal versucht, die belangte Behörde von seinem Fernbleiben zu verständigen. Bereits auf Grund dieses Verhaltens liege ein nicht bloß minderer Grad des Versehens vor, zumal der Beschwerdeführer in der Ladung auch auf die Folgen seines Fernbleibens hingewiesen worden sei.
Dass die Dispositionsfähigkeit im Sinne der genannten Judikatur aber sehr wohl gegeben gewesen sei, ergebe sich auch und vor allem aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer seinen Angaben zufolge seinen Bekannten von SOS-Mitmensch erreichen habe können und diesen gebeten habe, die Information über seine Erkrankung an eine Vertreterin des Vereins U Bweiterzugeben. Zudem habe diese Verständigung offenkundig dazu geführt, dass der Bekannte nach dem Anruf des Beschwerdeführers in dessen Wohnung gekommen sei, um ihn mit Medikamenten zu versorgen. Der Beschwerdeführer habe es aber offenkundig unterlassen, diesen Bekannten über die Bedeutung der Information aufzuklären bzw. diesen über den Verhandlungstermin bei der belangten Behörde in Kenntnis zu setzen. Auch in dieser Verhaltensweise sei ein nicht bloß minderer Grad des Versehens zu sehen, da es der Beschwerdeführer schuldhaft unterlassen habe, seinen Besucher über die Wichtigkeit und Dringlichkeit der gewünschten Informationsweitergabe aufzuklären. Es sei völlig irrelevant, aus welchen Gründen und unter welchen Umständen der Bekannte von SOS-Mitmensch die Vertreterin des Vereins Ute Bock nicht rechtzeitig erreichen habe können und aus welchen Gründen eine zeitgerechte Verständigung der belangten Behörde über das krankheitsbedingte Fernbleiben des Beschwerdeführers von der mündlichen Verhandlung unterblieben sei. Es werde der Vollständigkeit halber aber darauf hingewiesen, dass keine Bevollmächtigung zugunsten der beiden Vereine aktenkundig sei.
In einer "Gesamtschau der (…) beschriebenen Abläufe" stehe fest, dass die Krankheit des Beschwerdeführers diesen nicht gehindert hätte, "aktiv auf eine zeitgerechte Information" bei der belangten Behörde - durch Anruf bei der belangten Behörde oder zumindest durch eine vollständige Information des Vertreters von SOS-Mitmensch - hinzuwirken. Auf Grund dieses Verhaltens des Beschwerdeführers sei von einem nicht bloß minderen Grad des Versehens auszugehen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
1. Die im Beschwerdefall maßgebliche Bestimmung des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG lautet:
"§ 71. (1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:
1. die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, ..."
2. Die belangte Behörde äußerte in der Bescheidbegründung zunächst zwar Zweifel daran, dass die "bloße Behauptung" einer Erkrankung des Beschwerdeführers - ohne Vorlage einer ärztlichen Bestätigung (wobei die Gründe, warum der Beschwerdeführer nicht in der Lage sei, eine derartige Bestätigung vorzulegen, irrelevant seien) - "für sich betrachtet" ausreiche, um von einer Glaubhaftmachung im Sinne des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG ausgehen zu können, führte im Anschluss daran aber aus, dass die Erkrankung von einem Mitarbeiter von SOS-Mitmensch bestätigt werde. Ausführungen dazu, dass die belangte Behörde vor diesem Hintergrund von einer mangelnden Glaubhaftmachung der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten plötzlichen Erkrankung (hohes Fieber, starke Magenschmerzen, Erbrechen; "Darm-Grippe-Infektion") ausgegangen ist, enthält der angefochtene Bescheid nicht. Auch in ihren weiteren Überlegungen geht die belangte Behörde - wenn auch in Form einer Wahrunterstellung - von der vom Beschwerdeführer als Hinderungsgrund geltend gemachten Erkrankung aus, sodass der angefochtene Bescheid auf dieser Grundlage einer Überprüfung zu unterziehen ist.
3. Davon ausgehend hat die belangte Behörde zunächst verkannt, dass die Bedachtnahme auf einen "minderen Grad des Versehens" in § 71 Abs. 1 Z. 1 (ursprünglich: lit. a) AVG auf die Novelle BGBl. Nr. 357/1990 zurückgeht. Die Bewilligung der Wiedereinsetzung hatte in der bis dahin geltenden Fassung der Bestimmung vorausgesetzt, dass die Partei "ohne ihr Verschulden" verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen. Aus der Zeit vor der Änderung des Gesetzes stammt auch die von der belangten Behörde im vorliegenden Fall angesprochene Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, der zufolge eine Erkrankung nur dann als Wiedereinsetzungsgrund in Betracht komme, wenn sie die "Dispositionsunfähigkeit des Erkrankten" zur Folge gehabt habe.
Beim - direkten oder indirekten - Rückgriff auf ältere Entscheidungen zur Frage der "Dispositionsunfähigkeit" wäre aber zu beachten gewesen, dass es das geltende Recht, anders als die Gesetzeslage zur Zeit der Entstehung dieser Judikatur, für die Bewilligung der Wiedereinsetzung ausreichen lässt, wenn die Partei durch den geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrund (durch die Erkrankung) so weitgehend beeinträchtigt war, dass ihr das Unterbleiben der für die Fristwahrung erforderlichen Schritte nicht mehr als ein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden vorgeworfen werden kann. Das Erfordernis völliger Dispositionsunfähigkeit im Sinne der von der belangten Behörde ins Treffen geführten, zur früheren Rechtslage ergangenen (zum Teil aber auch neueren) Rechtsprechung kann nach dem geltenden Gesetz - anders als nach der früheren Fassung der genannten Bestimmung des AVG - nicht dahingehend verstanden werden, dass der Grad der Beeinträchtigung das Unterbleiben der fristwahrenden Handlung als unverschuldet erscheinen lassen müsse. Der nach wie vor gültige Kern der in der Annahme eines solchen Erfordernisses liegenden Aussage ist darin zu sehen, dass es für die Wiedereinsetzung nicht ausreicht, wenn die Partei daran gehindert war, die fristwahrende Handlung selbst zu setzen. Ein Wiedereinsetzungsgrund liegt nur vor, wenn die Partei auch daran gehindert war, der Fristversäumung durch andere geeignete Dispositionen - im Besonderen durch Beauftragung eines Vertreters - entgegen zu wirken (vgl. zum Ganzen die hg. Erkenntnisse vom 26. April 2001, Zl. 2000/20/0336, und vom 22. Juli 2004, Zl. 2004/20/0122).
Das hat die belangte Behörde verkannt, indem sie ihre Entscheidung auf die Auffassung gründete, die plötzlich eingetretene Erkrankung des Beschwerdeführers wäre nur dann als unvorhergesehenes oder/und unabwendbares Ereignis im Sinne des § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG zu werten, wenn dadurch seine "Dispositionsfähigkeit ausgeschlossen" und der Beschwerdeführer dadurch außer Stande gewesen wäre, die nach der Sachlage erforderlichen Maßnahmen zu setzen. Bei dem von der belangten Behörde herangezogenen Maßstab für die Verneinung eines den minderen Grad des Versehens übersteigenden Verschuldens handelt es sich in Wahrheit um jenen für die Verneinung jedweden Verschuldens, was - wie oben dargestellt - nicht dem Gesetz entspricht. Entscheidend wäre vielmehr gewesen, ob dem Beschwerdeführer auf Grund seines damaligen Gesundheitszustandes und der sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen der Vorwurf zu machen ist, mit der Unterlassung des Erscheinens zur Verhandlung bzw. mit der Unterlassung präventiver Dispositionen (wie etwa einer Vertreterbestellung) das unter den konkreten Umständen zumutbare Maß an Aufmerksamkeit und Mühe so krass unterschritten zu haben, dass sich darauf das Urteil auffallender Sorglosigkeit gründen lässt (vgl. zu diesem Maßstab das hg. Erkenntnis vom 24. Mai 2005, Zl. 2004/01/0558).
4. Soweit die belangte Behörde eine auffallende Sorglosigkeit des Beschwerdeführers darin sieht, dass dieser nicht "aktiv auf eine zeitgerechte Information" bei der belangten Behörde - durch Anruf bei der belangten Behörde oder zumindest durch eine vollständige Information des Vertreters von SOS-Mitmensch - hingewirkt habe, so ist dem fallbezogen nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass die von der belangten Behörde ins Treffen geführten Handlungsweisen als solche nicht die Säumnis des Beschwerdeführers verhindern, sondern (allenfalls) die belangte Behörde zur Vertagung der Verhandlung veranlassen hätten können, hat der Beschwerdeführer in der hier vorliegenden Konstellation einer plötzlich aufgetretenen Erkrankung mit hohem Fieber, starken Magenschmerzen und Erbrechen dadurch, dass er es dabei bewenden ließ, den für ihn erreichbaren Bekannten von SOS-Mitmensch um Weitergabe der Information über die plötzliche Erkrankung an die (vom Verhandlungstermin bei der belangten Behörde informierte) Mitarbeiterin des Vereins U B zu ersuchen, das unter den konkreten Umständen zumutbare Maß an Aufmerksamkeit und Mühe nicht derart krass unterschritten, dass sich darauf das Urteil auffallender Sorglosigkeit gründen ließe.
5. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 4 und 6 VwGG Abstand genommen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil neben dem pauschalierten Ersatz des Schriftsatzaufwandes weder ein Kostenersatz unter dem Titel Umsatzsteuer noch - in Anbetracht der gewährten Verfahrenshilfe - ein Ersatz der verzeichneten Eingabegebühr zusteht.
Wien, am 28. Juni 2011
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