VwGH 2007/21/0356

VwGH2007/21/035614.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde der O, vertreten durch Dr. Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 21. Mai 2007, Zl. 148.416/2- III/4/06, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art6 Abs1;
FrG 1997 §7 Abs4 Z4;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §73 Abs4;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
ARB1/80 Art6 Abs1;
FrG 1997 §7 Abs4 Z4;
EMRK Art8;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §72;
NAG 2005 §73 Abs4;
NAG 2005 §74;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, verfügte seit Oktober 2004 über für jeweils drei Monate gültige Aufenthaltserlaubnisse mit dem Aufenthaltszweck "selbständig" gemäß § 7 Abs. 4 Z 4 Fremdengesetz 1997; die zuletzt erteilte Aufenthaltserlaubnis vom 15. Dezember 2005 war mit 30. Juni 2006 befristet und galt ab dem 1. Jänner 2006 gemäß § 11 Abs. 1 Abschnitt B Z 10 der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung als Aufenthalts-Reisevisum (Visum D+C, § 24 FPG) weiter. Am 8. Juni 2006 heiratete sie einen türkischen Staatsangehörigen, der seit 1989 in Österreich lebte und eine unbefristete Niederlassungsbewilligung besaß. Am 30. Juni 2006 stellte sie den Antrag, ihr "jeden in Betracht kommenden Aufenthaltstitel, in eventu eine humanitäre Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung" zu erteilen.

In einer Stellungnahme an die erstinstanzliche Behörde (die Bezirkshauptmannschaft Bludenz) vom 26. Juli 2006 gab die Beschwerdeführerin an, dass sie und ihr Ehemann ein Kind erwarteten. Die Beschwerdeführerin habe in der Vergangenheit bereits ein Kind verloren und sei auf Grund aktueller Schwangerschaftskomplikationen stationär behandelt worden. Auf Grund des Familienlebens in Österreich, der fortgeschrittenen Schwangerschaft sowie der massiven Frühgeburtsgefahr könne sie nicht ausreisen. Sie ersuche daher, die Inlandsantragstellung zuzulassen.

In einem weiteren Schreiben vom 14. August 2006 beantragte die Beschwerdeführerin, ihr gemäß § 73 Abs. 4 NAG aus humanitären Gründen eine Niederlassungsbewilligung - beschränkt zu erteilen und damit die Familienzusammenführung zu ermöglichen.

Mit Bescheid vom 6. November 2006 wies die Bezirkshauptmannschaft Bludenz mit Spruchpunkt I "gemäß § 73 Abs 4 des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG) iVm § 72 NAG" den (Feststellungs-)Antrag nach § 73 Abs. 4 NAG und mit Spruchpunkt II "gemäß § 46 Abs 4 iVm §§ 21 Abs 1 und 19 NAG" den Antrag auf Familienzusammenführung ab. Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass es der Beschwerdeführerin nach der Geburt ihres Kindes (am 12. August 2006) möglich und zumutbar sei, ihren Antrag auf Familienzusammenführung vom Ausland aus einzubringen und die Entscheidung darüber im Ausland abzuwarten. Die Voraussetzungen für eine "humanitäre Bewilligung" lägen nicht vor.

In der dagegen erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie und ihr neugeborenes Kind bei einer Rückkehr in die Ukraine großer Not ausgesetzt wären; die Beschwerdeführerin habe in der Ukraine weder Unterkunft noch Familie, sie müsse ihr Kind allein betreuen und könne daher nicht arbeiten gehen, und ihr Ehemann sei nicht in der Lage, einen weiteren Wohnsitz in der Ukraine zu finanzieren. Auf Grund der besonderen familiären und gesundheitlichen Umstände liege ein besonders berücksichtigungswürdiger Fall im Sinne der §§ 72 ff NAG vor.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 21. Mai 2007 wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 21 Abs. 1, 72, 73 und 74 NAG ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin durch seinen langjährigen Aufenthalt in Österreich als voll integriert anzusehen sei, was jedoch nicht bedeute, dass der Beschwerdeführerin eine Ausreise unzumutbar wäre. Durch ihre Vorgangsweise versuche sie, die Behörde vor vollendete Tatsachen zu stellen und sich ein Aufenthaltsrecht in Österreich zu erzwingen. Eine Niederlassung könne jedoch nie rechtswidrig begonnen werden. Mit Ausnahme ihrer familiären Situation - sie sei jedoch erst seit dem 8. Juni 2006 verheiratet und ihr Kind müsse bereits zur Welt gekommen sein - habe die Beschwerdeführerin keine Gründe vorgebracht, weshalb ihr der Zuzug nach Österreich unter Einhaltung der "üblichen gesetzlichen Bestimmung" nicht zugemutet werden könne. Mit Ausnahme des Umstands, dass ihr Ehemann nicht in der Lage wäre, zwei Wohnsitze zu finanzieren, habe sie keine wirtschaftlichen Gründe geltend gemacht. Da somit keine ausreichenden Gründe im Sinne des § 72 Abs. 1 NAG vorlägen, werde einer Inlandsantragstellung nicht "zugestimmt". Der Antrag sei daher gemäß § 21 Abs. 1 in Verbindung mit § 74 NAG abzuweisen gewesen. Auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" aus humanitären Gründen lägen - mangels besonders berücksichtigungswürdiger Gründe - nicht vor. Abschließend wies die belangte Behörde darauf hin, dass der Gesetzgeber bereits bei Erlassung des § 21 Abs. 1 NAG auf die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers Rücksicht genommen und die Regelung eines geordneten Zuwanderungswesens über die persönlichen Verhältnisse gestellt habe. Ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, sei daher entbehrlich.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

Da die Beschwerdeführerin noch nie über einen Aufenthaltstitel im Sinne des NAG, sondern nur über eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 7 Abs. 4 Z 4 Fremdengesetz 1997 verfügte, die ab dem 1. Jänner 2006 (siehe eingangs) als Aufenthalts-Reisevisum (Visum D+C) weitergalt, hat die belangte Behörde ihren Antrag zu Recht als Erstantrag gewertet, der gemäß § 21 Abs. 1 NAG im Ausland zu stellen und dessen Erledigung im Ausland abzuwarten war.

Das Recht, die Entscheidung im Inland abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG (in der Stammfassung) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland einschließlich des Abwartens über die Entscheidung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. September 2010, Zl. 2008/22/0807).

Im Beschwerdefall hat es die belangte Behörde unterlassen, sich ausreichend mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihrer familiären und gesundheitlichen Situation auseinanderzusetzen und gegebenenfalls weitere Feststellungen zu treffen. Vor allem wäre zu prüfen gewesen, ob der seit Ende 2004 in Österreich aufhältigen Beschwerdeführerin die Ausreise mit ihrem neugeborenen Kind und ohne ihren - nach den Feststellungen der belangten Behörde in Österreich "voll integrierten" - Ehemann, dem offensichtlich eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei zukam, zumutbar war.

Es kann - bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides, ungeachtet der später unter Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe erfolgten Ausreise der Beschwerdeführerin - nicht ausgeschlossen werden, dass die belangte Behörde bei Durchführung eines mängelfreien Verfahrens zur Bejahung humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG hätte gelangen können, sodass - neben einer positiven Beurteilung nach § 73 Abs. 4 NAG - die Inlandsantragstellung gemäß § 74 NAG von Amts wegen zuzulassen gewesen wäre. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 14. April 2011

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