VwGH 2007/21/0197

VwGH2007/21/019726.9.2007

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des W, vertreten durch Dr. Romana Zeh-Gindl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 5/10, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 9. November 2006, Zl. Senat-AB-06-3003, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §125 Abs1;
FrPolG 2005 §125 Abs3;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrPolG 2005 §125 Abs1;
FrPolG 2005 §125 Abs3;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein niederländischer Staatsangehöriger, hält sich - seinen Angaben im Verwaltungsverfahren zufolge - seit 1986 in Österreich auf. Seine beiden am 23. Juni 1995 geborenen Kinder, die bei der Mutter leben, sind österreichische Staatsangehörige.

Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn vom 18. November 2004 wurde gegen den Beschwerdeführer im Hinblick auf eine gegen ihn ergangene strafgerichtliche Verurteilung gemäß § 48 Abs. 1 und 3 iVm § 36 Abs. 1 und 2 Z 1 des (bis 31. Dezember 2005 in Geltung gestandenen) Fremdengesetzes 1997 - FrG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer eine Berufung, in der er unter Vorlage entsprechender Bescheinungsmittel vor allem die von der Erstbehörde angestellte negative Gefährdungsprognose und das Bestehen einer Wiederholungsgefahr bestritt sowie unter Bezugnahme auf seine Stellung als EWR-Bürger auch kritisierte, dass sich die Erstbehörde nicht mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre.

Das Berufungsverfahren wurde im Hinblick auf ein vom Verwaltungsgerichtshof (in einem anderen, bei ihm anhängigen Verfahren) gestelltes, eine auch hier präjudizielle Vorfrage betreffendes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH von der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich als damals zuständige Berufungsbehörde vorübergehend ausgesetzt. Der Berufung wurde dann mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des - nach § 9 Abs. 1 Z 1 des (am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen) Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG zuständig gewordenen - Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich (der belangten Behörde) vom 9. November 2006 gemäß § 66 Abs. 4 AVG keine Folge gegeben und der erstinstanzliche Bescheid "vollinhaltlich" bestätigt.

In der Begründung erwähnte die belangte Behörde einleitend das von der Erstbehörde "gemäß § 48 Absatz 3 u.a. Fremdengesetz" verhängte unbefristete Aufenthaltsverbot, das "als nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen gilt". Aufgrund des im Verwaltungsakt der Erstbehörde dokumentierten Ermittlungsverfahrens sei - so die belangte Behörde weiter - erwiesen, dass der Beschwerdeführer vom Landesgericht für Strafsachen Wien mit Urteil vom 5. März 2002 rechtskräftig "wegen strafbarer Handlungen nach den Paragraphen 206, 207 und anderer des Strafgesetzbuches" verurteilt worden sei, weil er die ihm zum Teil anvertrauten unmündigen Kinder seiner Lebensgefährtin sexuell missbraucht habe. Daran schließen Wiedergaben aus der Begründung des erstinstanzlichen Bescheides an, wonach das Verhalten des Beschwerdeführers den Schluss auf eine besonders sozialschädliche Neigung zur Missachtung österreichischer Rechtsvorschriften, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sowie zur Verhinderung strafbarer Handlungen im Interesse eines geordneten Zusammenlebens bestünden, zulasse, und dass auch "in gewissenhafter Abwägung" der persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem "eventuellen" weiteren Verbleib in Österreich gegenüber dem Interesse des Schutzes "der Rechtsgüter der öffentlichen Ordnung und nationalen Sicherheit" die nachteiligen Folgen einer Abstandnahme vom Aufenthaltsverbot schwerer wiegen würden als "allfällige" Auswirkungen auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers. Nach der Zitierung von Vorschriften des FPG (§§ 60, 66 und 63) folgen dann im angefochten Bescheid nachstehende fallbezogene Überlegungen:

"Im vorliegenden Fall ist der dem Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zugrundeliegende Sachverhalt durch die Ergebnisse des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens sowie durch die nach der Aktenlage getroffenen Tatsachenfeststellungen zweifelsfrei erwiesen .

In Abwägung der Sach- und Rechtslage konnte der Unabhängige Verwaltungssenat zu der Überzeugung gelangen, daß aufgrund der strafrechtlichen Vorgeschichte des Berufungswerbers ein wie in der Vergangenheit zu Tage getretenes Fehlverhalten für die Zukunft nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, so daß ein eindeutiges Überwiegen des öffentlichen Interesses am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie der körperlichen und psychischen Integrität von Menschen gegenüber den persönlichen Interessen an einem eventuellen weiteren Verbleib des Berufungswerbers in Österreich gegeben ist.

Der Berufung des (Beschwerdeführer) war aus den genannten Gründen der Erfolg zu versagen und mit Abweisung vorzugehen."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerde macht in Bezug auf die Verurteilung des Beschwerdeführers und seine familiären Verhältnisse Feststellungsmängel geltend und rügt, der angefochtene Bescheid sei "formal völlig unzulänglich". Sie ist damit insofern im Recht, als (noch aufzuzeigende) Mängel des angefochtenen Bescheides vor allem auf einer mehrfachen Verkennung der Rechtslage durch die belangte Behörde beruhen:

1. Mit dem Hinweis im angefochtenen Bescheid, das von der Erstbehörde noch im Geltungsbereich des FrG erlassene und auf dessen Bestimmungen gestützte Aufenthaltsverbot gelte als nach dem FPG erlassen, bezog sich die belangte Behörde offenbar auf die Übergangsvorschrift des § 125 Abs. 3 FPG. Danach gelten Aufenthaltsverbote, deren Gültigkeitsdauer bei In-Kraft-Treten des FPG am 1. Jänner 2006 noch nicht abgelaufen sind, als nach diesem Bundesgesetz erlassene Aufenthaltsverbote mit derselben Gültigkeitsdauer. Diese Norm bezieht sich freilich nur auf am 1. Jänner 2006 rechtskräftig erlassene Aufenthaltsverbote. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bei In-Kraft-Treten des FPG (im Berufungsstadium) anhängig war, ist vielmehr die Übergangsregelung des § 125 Abs. 1 FPG maßgeblich, wonach diese Verfahren nach den Bestimmungen des FPG weiterzuführen sind. Dem entsprechend hätte die belangte Behörde nicht nur durch die Zitierung der §§ 60, 66 und 63 FPG in der Begründung des angefochtenen Bescheides, sondern (gemäß § 59 Abs. 1 erster Satz AVG) auch im Spruch zum Ausdruck bringen müssen, dass das Aufenthaltsverbot auf Bestimmungen des FPG gestützt werde.

2. Gemäß dem (von der belangten Behörde zur Gänze zitierten) § 60 FPG kann gegen einen Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet (Abs. 1 Z 1) oder anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft (Abs. 1 Z 2). Gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 FPG hat als bestimmte, eine Gefährdungsannahme im Sinn des Abs. 1 rechtfertigende Tatsache zu gelten, wenn der Fremde von einem inländischen Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender strafbarer Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 60 Abs. 1 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Für diese Beurteilung ist demnach nicht das Vorliegen von rechtskräftigen Bestrafungen oder Verurteilungen, sondern das diesen zu Grunde liegende Verhalten des Fremden maßgeblich. Dabei ist also - anders als bei der Frage, ob der erwähnte Tatbestand des § 60 Abs. 2 FPG erfüllt ist - nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa das zur insoweit inhaltsgleichen Bestimmung des § 36 FrG ergangene Erkenntnis vom 26. September 2006, Zl. 2004/21/0097, mit zahlreichen weiteren Hinweisen). Demzufolge reichen die wiedergegebenen Feststellungen der belangten Behörde zur Verurteilung des Beschwerdeführers, denen weder die ihm im Schuldspruch konkret angelastete Straftat und deren Begleitumstände noch die Höhe der verhängten Strafe zu entnehmen sind, nicht für eine nachvollziehbare Darstellung der Gefährdungsannahme der belangten Behörde.

3. Die belangte Behörde hat aber bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Beschwerdeführer - trotz der diesbezüglichen Berufungsausführungen - überdies außer Acht gelassen, dass der Beschwerdeführer niederländischer Staatsangehöriger und somit EWR-Bürger ist. Für diese Personengruppe bestimmt § 86 FPG - soweit hier relevant - Folgendes:

"Sonderbestimmungen für den Entzug der Aufenthaltsberechtigung und für verfahrensfreie Maßnahmen

§ 86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. ..."

Bei der nach § 86 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht somit schon aus dem Gesetz klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können. Es hätte somit entsprechender Feststellungen zu dem der strafgerichtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Verhalten des Beschwerdeführers bedurft, die hier - wie schon erwähnt - fehlen, und es wäre eine Prüfung der Gefährdungsannahme am Maßstab der zitierten Norm unter nachvollziehbarer Bedachtnahme auf das Berufungsvorbringen vorzunehmen gewesen.

4. Schon angesichts dieser (sekundären) Begründungsmängel war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, wobei noch anzumerken ist, dass die belangte Behörde auch keine ausreichenden Feststellungen zu den aktuellen persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers getroffen hat, um die Abwägung nach § 66 (iVm § 60 Abs. 6) FPG einer Überprüfung unterziehen zu können.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 26. September 2007

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