VwGH 2007/18/0229

VwGH2007/18/022919.6.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Enzenhofer, Dr. Strohmayer und die Hofrätin Mag. Merl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Schmidl, über die Beschwerde des R B in S, geboren am 22. August 1976, vertreten durch Mag. Dietmar Heck, Rechtsanwalt in 2020 Hollabrunn, Hauptplatz 6, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 14. Dezember 2006, Zl. SD 1164/06, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots, zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §9 Abs1 Z1;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §9 Abs1 Z1;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (der belangten Behörde) vom 14. Dezember 2006 wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100, ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Mit Urteil vom 5. März 2001 sei der Beschwerdeführer wegen schweren gewerbsmäßigen Diebstahls zu einer bedingten Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden, weil er im November und Dezember 2000 zumindest 25 Mobiltelefone im Gesamtwert von etwa ATS 100.000,-- gestohlen habe.

Eine weitere Verurteilung sei am 28. August 2001 erfolgt. Der Beschwerdeführer sei wegen schweren Raubes zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von sieben Jahren rechtskräftig verurteilt worden, weil er gemeinsam mit seinem Bruder am 13. April 2001 einem anderen das Mobiltelefon geraubt habe. Der Beschwerdeführer habe das Opfer in den "Schwitzkasten" genommen und ein Messer mit einer 10 cm langen Klinge gegen das Gesicht gehalten. Mitte April 2001 hätten die Brüder erneut ein Mobiltelefon geraubt, wobei das Opfer mittels Stanleymesser mit herausgeschobener Klinge mit dem Umbringen bedroht worden sei.

Der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 FPG sei erfüllt. Die Voraussetzungen zur Erlassung des Aufenthaltsverbots im Grund des § 60 Abs. 1 FPG seien gegeben.

Der Beschwerdeführer sei ledig und habe keine Sorgepflichten. Er habe eine Freundin, die von ihm ein Kind erwarte. Vor der Inhaftierung habe der Beschwerdeführer mit den Eltern und vier Geschwistern gemeinsam gewohnt. Das Aufenthaltsverbot sei daher mit einem Eingriff in das Privat- und Familienleben verbunden. Dieser Eingriff sei jedoch im Hinblick auf die überaus große Gefährdung des gewichtigen öffentlichen Interesses an der Verhinderung der Eigentums- und Gewaltkriminalität dringend geboten und daher im Grund des § 66 Abs. 1 FPG zulässig. Bei der Interessenabwägung gemäß § 66 Abs. 2 FPG sei auf die aus der Aufenthaltsdauer ableitbare Integration Bedacht zu nehmen. Der Beschwerdeführer habe wiederholt geltend gemacht, seit seiner Geburt in Österreich zu leben und hier seine gesamte Schulbildung absolviert zu haben. Nach Auskunft des Stadtschulrates für Wien habe der Beschwerdeführer in den Schuljahren 1983/84 und 1984/85 eine Wiener Volksschule besucht. Danach habe erst wieder ab dem Schuljahr 1986/87 eine Sonderschule in Wien besucht. Auf Grund des Alters des Beschwerdeführers sei daher anzunehmen, dass er die erste und vierte Schulstufe nicht in Österreich sondern in seiner Heimat absolviert habe. Über diesbezügliche Vorhalte habe der Beschwerdeführer angegeben, von 1986 bis 1988 in der Türkei eine Schule besucht und in diesen Zeitraum auch dort gelebt zu haben. Diese Angaben stünden in unauflöslichem Widerspruch zur dargestellten Dokumentation des Stadtschulrates für Wien. Solcherart bleibe offen, ob und wo der Beschwerdeführer die erste und vierte Klasse Volksschule besucht habe.

Der Beschwerdeführer habe jedenfalls noch im Schuljahr 1988/89 und im folgenden Schuljahr türkischen Zusatzunterricht und einen sprachlichen Förderkurs besucht, woraus ersichtlich sei, dass er nicht wie ein von klein auf hier Aufgewachsener integriert sei. Die familiären Bindungen des Beschwerdeführers würden durch seine Volljährigkeit relativiert. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer noch in der Stellungnahme vom 9. November 2006 davon gesprochen habe, dass seine Freundin ein Kind erwartete, während das Kind tatsächlich bereits am 30. Oktober 2006 geboren worden sei, lasse die Bindung zur Kindesmutter und zum Kind relativiert erscheinen.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die der Sache nach inhaltliche Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und lebt nach den Feststellungen der belangten Behörde zumindest seit 1986 ununterbrochen in Österreich. Vor seiner Verhaftung lebte er mit den Eltern und vier Geschwistern im gemeinsamen Haushalt. Nach den Feststellungen der Behörde erster Instanz, auf die der angefochtene Bescheid verweist, verfügt der Beschwerdeführer über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung. Nach einem bei den Verwaltungsakten erliegenden Zeugnis vom 11. Februar 2004 (Blatt 29) hat der Beschwerdeführer die Lehrabschlussprüfung als Stahlbauschlosser bestanden. Bei seiner niederschriftlichen Vernehmung am 14. November 2002 durch die Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn hat der Beschwerdeführer angegeben, nach Beendigung seiner Schulausbildung bis auf einige kurze Unterbrechungen in Österreich immer berufstätig gewesen zu sein.

2. Gemäß Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB) hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat (erster Gedankenstrich) nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt; (zweiter Gedankenstrich) nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorranges - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedsstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben; (dritter Gedankenstrich) nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

Gemäß Art. 7 ARB haben Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, (erster Gedankenstrich) vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben; (zweiter Gedankenstrich) freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.

Nach der hg. Judikatur ist es geboten, für türkische Staatsangehörige, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB zukommt, den Instanzenzug zu einem Tribunal einzurichten und daher § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG, wonach über Berufungen gegen Entscheidungen nach diesem Bundesgesetz im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern entscheiden, anzuwenden (vgl. das Erkenntnis vom 27. Juni 2006, Zl. 2006/18/0138).

Sollte dem Beschwerdeführer daher die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB zukommen, wäre die belangte Behörde zur Entscheidung über die gegenständliche Berufung nicht zuständig gewesen.

3. Auf Grundlage der Feststellungen im angefochtenen Bescheid kann die - auch ohne Geltendmachung durch den Beschwerdeführer aufzugreifende (vgl. die bei Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, S. 581 wiedergegebene hg. Judikatur zu § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG) - Frage, ob die belangte Behörde zur Erlassung des angefochtenen Bescheides zuständig war, nicht abschließend beurteilt werden.

Die oben 1. wiedergegebenen Umstände bieten gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB zukommen könnte. Zur abschließenden Beurteilung dieser Frage wären jedoch Feststellungen darüber erforderlich, ob der Beschwerdeführer die von Art. 6 ARB geforderten Beschäftigungszeiten aufweist bzw. ob und seit wann es sich bei einem seiner Elternteile um einen dem regulären Arbeitsmarkt angehörigen türkischen Arbeitnehmer, von dem der Beschwerdeführer eine Rechtsposition gemäß Art. 7 ARB ableiten könnte, handelt.

Das Fehlen derartiger Feststellungen stellt daher einen die Beurteilung der Zuständigkeit der belangten Behörde hindernden und somit relevanten Verfahrensmangel dar.

4. Aus diesem Grund war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil für den Schriftsatzaufwand nur der pauschalierte Aufwandersatz, der die Umsatzsteuer bereits enthält, zusteht und die Gebühr gemäß § 24 Abs. 3 VwGG vom Beschwerdeführer infolge der gewährten Verfahrenshilfe nicht zu entrichten war.

Wien, am 19. Juni 2008

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