VwGH 2006/19/0425

VwGH2006/19/042528.8.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Mag. Rehak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde der beschwerdeführenden Parteien 1. B, 2. T, und 3. K, alle vertreten durch Mag. Dr. Wolfgang Fromherz, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Graben 9, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 5. Oktober 2005, Zlen. 262.723/0-XII/36/05 (ad 1.), 262.724/0- XII/36/05 (ad 2.) und 262.725/0-XII/36/05 (ad 3.), betreffend §§ 5, 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §24b Abs1 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §24b Abs1 idF 2003/I/101;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit und Mitglieder einer Familie (der Erstbeschwerdeführer ist der Vater der zweit- und drittbeschwerdeführernden Parteien). Sie reisten gemeinsam mit ihrer Ehefrau/Mutter (Beschwerdeführerin zu 2006/19/0424) im Juni 2005 in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und beantragten am 7. Juni 2005 in der Slowakei Asyl. Am 26. Juni 2005 gelangten sie von dort in das Bundesgebiet und brachten am folgenden Tag (weitere) Asylanträge ein.

Das Bundesasylamt wies diese Anträge mit Bescheiden jeweils vom 18. Juli 2005 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurück, stellte fest, dass gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates die Slowakei für die Prüfung der Asylanträge zuständig sei, und wies die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet dorthin aus.

Dagegen erhoben die beschwerdeführenden Parteien Berufungen. Mit Schreiben vom 29. September 2005 erstattete der Erstbeschwerdeführer ein ergänzendes Vorbringen, wonach er in seiner Heimat anlässlich einer Hausdurchsuchung und einer Säuberungsaktion misshandelt und brutal zusammengeschlagen worden sei; dabei seien ihm vor allem im Bereich des Unterleibs erhebliche Verletzungen zugefügt worden. Das Zulassungsverfahren sei vor allem "hinsichtlich der amtswegigen Ermittlungspflicht" mangelhaft gewesen. Die ärztliche Untersuchung habe lediglich 15 Minuten gedauert, weshalb er kaum Gelegenheit gehabt habe, über seinen Gesundheitszustand ausführlich zu berichten. Weiters habe er in Anbetracht des Umstandes, dass er von einer Frau untersucht worden sei, Hemmungen gehabt, über die wahren Beschwerden und über die Schwellung im Unterleib zu sprechen. Gleichzeitig übermittelte der Erstbeschwerdeführer der belangten Behörde einen urologischen Befund vom 31. August 2005.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufungen gemäß §§ 5 und 5a AsylG ab.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

1. Gemäß § 24b Abs. 1 AsylG (in der im vorliegenden Fall maßgeblichen Fassung der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101) ist das Asylverfahren zuzulassen, wenn sich in der Ersteinvernahme oder einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren (§ 24a) medizinisch belegbare Tatsachen ergeben, die die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber Opfer von Folter oder durch die Geschehnisse in Zusammenhang mit dem die Flucht auslösenden Ereignis traumatisiert sein könnte.

2. Die bisherige hg. Judikatur zur Auslegung dieser Bestimmung hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 11. November 2008, 2006/19/0497, auf dessen Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, in ihren wesentlichen Aussagen zusammengefasst.

3. Betreffend den Erstbeschwerdeführer führte die belangte Behörde zum Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG begründend u.a. aus, dass das Vorbringen "betreffend Folterungen" erst im Zuge des Berufungsverfahrens erstattet worden sei und daher dem in § 32 Abs. 1 AsylG vorgesehenen Neuerungsverbot unterliege. Die in den Ziffern 1 bis 4 dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahmen vom Neuerungsverbot würden nicht vorliegen. Soweit sich der Erstbeschwerdeführer darauf berufe, dass er seine Beschwerden nicht geschildert habe, weil die Untersuchung von einer Frau durchgeführt worden sei, sei ihm zu entgegnen, dass er "den betreffenden Vorfall" auch dem einvernehmenden Beamten in der Erst- oder Zweiteinvernahme hätte schildern können. Es sei auch kein Grund ersichtlich, warum der Erstbeschwerdeführer im erstinstanzlichen Verfahren nicht in der Lage gewesen sein soll, die im Zuge des Berufungsverfahrens vorgetragenen Gründe zu schildern, weshalb davon auszugehen sei, dass er das Verfahren zu verzögern versuche. Weiters führte die belangte Behörde aus, selbst unter der Annahme, dass es sich um ein zulässiges Vorbringen handle, wäre die Behauptung des Erstbeschwerdeführers betreffend Folterungen nicht glaubhaft bzw. nicht medizinisch belegt. Der Erstbeschwerdeführer habe im erstinstanzlichen Verfahren keine Folterung behauptet, sondern sein diesbezügliches Vorbringen erst in einer im Berufungsverfahren erstatteten Stellungnahme nachgeschoben. Er habe dieses Vorbringen auch nicht näher konkretisiert, sondern sich nur allgemein auf eine Schwellung im Unterleib berufen. Laut medizinischem Lexikon handle es sich bei den in der Diagnose des urologischen Befundes angegebenen "spondylogenen" Beschwerden um von Wirbelkörpern oder der Wirbelsäule ausgehende Beschwerden und bei der "Varicocele links" um eine Erkrankung des Hodens, die auf eine Durchblutungsstörung zurückzuführen sei. Ein Hinweis auf Folterungen ergebe sich daraus nicht.

4. Die belangte Behörde hat das vom Erstbeschwerdeführer in der Berufungsergänzung erstattete Vorbringen "betreffend Folterungen" primär als dem Neuerungsverbot unterliegend angesehen. Dem ist zunächst entgegen zu halten, dass der Erstbeschwerdeführer - worauf auch die Beschwerde hinweist - bereits in seiner ersten Einvernahme durch das Bundesasylamt am 30. Juni 2005 angegeben hat, vor seiner Flucht von russischen Soldaten zusammengeschlagen worden zu sein, sodass das in der Berufungsergänzung erstattete Vorbringen in Bezug auf die behauptete Misshandlung keine Neuerung darstellt.

Soweit sich die belangte Behörde auch in Bezug auf die vom Erstbeschwerdeführer erstmals in der Berufungsergänzung angegebene Schwellung im Unterleib als Folge der behaupteten Misshandlung auf das Neuerungsverbot gestützt hat, wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, 2006/19/0554, verwiesen, in welchem der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf die Vorjudikatur zum Neuerungsverbot allgemein sowie zur Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens iSd § 32 Abs. 1 Z 2 AsylG Stellung genommen hat. Auch im vorliegenden Fall sind zu der vom Erstbeschwerdeführer im erstinstanzlichen Verfahren behaupteten Misshandlung keine klärenden Nachfragen durch das Bundesasylamt erfolgt. Das Bundesasylamt hat zwar eine ärztliche Untersuchung des Erstbeschwerdeführers im Zulassungsverfahren veranlasst, welche ergeben hat, dass aus aktueller Sicht keine krankheitswerte psychische Störung vorliege und keine Symptome einer "Trauma-Folge-Erkrankung" zu explorieren oder zu beobachten gewesen wären. Dass diese ärztliche Untersuchung auch der Klärung der Frage, ob medizinisch belegbare Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen würden, dass der Erstbeschwerdeführer Opfer von Folter sein könnte, gedient hätte, lässt sich dem ärztlichen Bericht schon mangels Angaben zur Rubrik "Vorliegen von Folterspuren und Angaben zu ihrer Entstehung" nicht entnehmen, zumal der untersuchenden Ärztin mit den unter Punkt 3. des ärztlichen Berichts formularmäßig vorgegebenen Fragen, "Schlussfolgerungen" zu möglicherweise erlittener Folter gar nicht abverlangt wurden. Auch in der dieser Untersuchung folgenden zweiten Einvernahme des Erstbeschwerdeführers am 4. Juli 2005 erfolgten keine klärenden Nachfragen zu der von ihm im Rahmen der ärztlichen Untersuchung neuerlich behaupteten Misshandlung. Da der Erstbeschwerdeführer bereits vor dem Bundesasylamt über in seiner Heimat stattgefundene Misshandlungen berichtet hat und das erstinstanzliche Verfahren in Bezug auf die in diesem Zusammenhang erforderliche Prüfung der Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG mangelhaft gewesen ist, hält die Primärbegründung der belangten Behörde, das vom Erstbeschwerdeführer in seiner Berufungsergänzung erstattete Vorbringen unterliege dem Neuerungsverbot, einer nachprüfenden Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht Stand.

5. Aber auch die von der belangten Behörde hilfsweise - ausgehend von der Zulässigkeit des in der Berufungsergänzung vom Erstbeschwerdeführer erstatteten Vorbringens - angestellten Erwägungen zur Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 24b Abs. 1 AsylG in Bezug auf die vom Erstbeschwerdeführer behauptete Misshandlung erweisen sich als nicht tragfähig.

Die der Beweiswürdigung zur Unglaubwürdigkeit dieses Vorbringens zugrunde liegende Annahme der belangten Behörde, der Erstbeschwerdeführer habe im Zuge des erstinstanzlichen Verfahrens keine Folterung behauptet, ist insofern nicht zutreffend, als der Erstbeschwerdeführer, wie oben ausgeführt, zumindest von Misshandlungen berichtet hatte, deren Ausmaß und Intensität von der Asylbehörde nicht weiter hinterfragt wurden. Inwiefern der Erstbeschwerdeführer sein Vorbringen in Bezug auf die von ihm behauptete Schwellung im Unterleib näher konkretisieren hätte sollen, ist in Anbetracht des gleichzeitig von ihm vorgelegten urologischen Befundes nicht nachvollziehbar.

Zu der von der belangten Behörde vertretenen Ansicht, aus den im urologischen Befund genannten Beschwerden würde sich kein Hinweis auf Folterungen ergeben, ist auszuführen, dass es für eine Zulassung des Verfahrens nach § 24b Abs. 1 AsylG entscheidend darauf ankommt, ob medizinisch belegbare Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Erstbeschwerdeführer Opfer von Folter sein könnte (vgl. dazu insbesondere Pkt. 1.1. des hg. Erkenntnisses vom 11. November 2008, 2006/19/0497, mwN). Dass schon diese Möglichkeit in Bezug auf die beim Erstbeschwerdeführer bestehenden (medizinisch belegten) Beschwerden auszuschließen sei, hat die belangte Behörde mit der von ihr vorgenommenen Erklärung der in der Diagnose des urologischen Befundes genannten medizinischen Fachausdrücke anhand eines medizinischen Lexikons nicht schlüssig begründet, zumal sich aus dieser Erklärung nichts über die möglichen Ursachen dieser Beschwerden gewinnen lässt. Die belangte Behörde hätte den Sachverhalt insoweit daher nicht als geklärt betrachten dürfen und diese Frage einer fachkundigen Beurteilung zuführen müssen (vgl. dazu insbesondere Pkt. 1.4. des zitierten Erkenntnisses vom 11. November 2008).

Der angefochtene Bescheid betreffend den Erstbeschwerdeführer war daher schon aus den genannten Gründen mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

6. Dieser Umstand schlägt gemäß § 10 Abs. 5 AsylG auch auf das Verfahren der zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien durch (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 20. April 2006, 2005/01/0556 bis 0560).

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 28. August 2009

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