Normen
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FlKonv Art1 AbschnC Z5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §45 Abs2;
AVG §58 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FlKonv Art1 AbschnC Z5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
Spruch:
Der angefochtene Spruchpunkt wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste am 29. November 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 1. Februar 2000 gab er als Fluchtgrund an, er habe vor etwa zwei Jahren an einem von der Islamischen Wahdat-Partei gegen die Taliban organisierten Aufstand teilgenommen. Vor eineinhalb Jahren hätten die Taliban aber eine Offensive gegen Mazar-e Sharif gestartet und die Kämpfer zur Aufgabe gezwungen. Der Beschwerdeführer sei zunächst nach Amrakh geflohen, doch sei er vor etwa vier Monaten von den Taliban festgenommen worden. Er sei fünfzig Tage im Gefängnis gewesen, wo er zusammengeschlagen und gefoltert worden sei. Sein Onkel, der einen Kommandanten der Taliban gekannt habe, habe die Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Gefängnis erwirken können. Er sei aber als Kämpfer bekannt und fürchte im Falle seiner Rückkehr von den Taliban wieder inhaftiert und umgebracht zu werden.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 3. Februar 2000 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (in der Folge: AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer Berufung.
Am 11. Jänner 2002 führte die belangte Behörde eine mündliche Berufungsverhandlung durch, in der der Beschwerdeführer vorbrachte, sein Vater sei unter (dem früheren afghanischen Präsidenten) Najibullah Offizier der Luftwaffe, sein Bruder unter General Dostum Kompaniekommandant einer Division und sein Schwager Zayni Pahlavan, ein Usbeke, ein weiterer Kommandant dieser Division gewesen. Mit diesem Schwager habe es "familiäre Probleme" gegeben. Er habe die Heirat mit der Schwester des Beschwerdeführers erzwungen, diese schlecht behandelt und immer wieder geschlagen, worauf der Bruder und der Vater des Beschwerdeführers ihn mehrmals aufgefordert hätten, diese Misshandlungen zu unterlassen. Am Anfang des dritten Monats 1376 (Ende Mai 1997) - etwa fünf Tage, bevor die Taliban mit Hilfe von Malek nach Mazar-e Sharif gekommen seien - sei der Schwager bei Kampfhandlungen in der Nähe von Kundus von hinten erschossen worden. Der Bruder des Schwagers, der von den erwähnten familiären Problemen gewusst habe, sei davon ausgegangen, dass der Bruder des Beschwerdeführers den Schwager aus diesem Grund getötet habe und habe daraufhin seinerseits den Bruder des Beschwerdeführers ermordet. Der Beschwerdeführer wisse davon aus Erzählungen durch Freunde des Bruders. Der Bruder sei am selben Tag, an dem der Schwager getötet worden sei, vom Bruder des Schwagers in Haft genommen und anschließend getötet worden. Auf die Frage, ob der Bruder des Beschwerdeführers tatsächlich den Schwager getötet habe, antwortete der Beschwerdeführer, das wisse er nicht, er hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, seinen Bruder zu fragen. Es sei üblich, dass im Falle der Tötung eines Kommandanten sein Bruder sein Nachfolger werde, weshalb jetzt die Brüder des getöteten Schwagers - Aynoddin und Shamsoddin - die Macht hätten, den Beschwerdeführer zu töten. General Dostum habe nach seiner Rückkehr nach Afghanistan sicher seine Gefolgschaft mitgebracht, der die Brüder des Schwagers angehören würden. Auf Vorhalt, warum er von diesen Vorfällen in der erstinstanzlichen Einvernahme und in der Berufung nichts erwähnt habe, gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht gefragt worden sei, was sein Bruder gemacht oder welche Position sein Vater gehabt habe; am Schluss der Einvernahme habe er die Frage, ob der Grund für seine Flucht die Angst vor den Taliban und dem Tod im Falle einer Gefangennahme durch die Taliban sei, bejaht, "damals war von Dostum keine Rede". Zum Zeitpunkt seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt sei von Dostums Gefolgschaft niemand in Afghanistan gewesen. Dostum sei ebenfalls von den Taliban verfolgt worden; dies habe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Einvernahme von vielen Afghanen gehört. Damals habe somit keine Gefahr für ihn bestanden, von den Brüdern seines Schwagers getötet zu werden. In der Berufung sei der Vorfall nicht erwähnt worden, weil der Beschwerdeführer sprachlich nicht in der Lage gewesen sei, der Mitarbeiterin der Caritas bzw. den Anwälten diesen Vorfall zu schildern.
Mit Bescheid vom 15. Jänner 2002 wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt 1.), stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan nicht zulässig sei (Spruchpunkt 2.) und erteilte dem Beschwerdeführer gemäß § 15 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt 3.). Die belangte Behörde stellte fest, dass der Beschwerdeführer der Volksgruppe der Tadschiken angehöre und als einfacher Soldat gegen die Taliban gekämpft habe. Eine Gefährdung der Anti-Taliban-Kräfte seitens des Taliban-Regimes würde nicht mehr vorliegen. Die erstmals in der Berufungsverhandlung gemachten Angaben des Beschwerdeführers, er fürchte, von den Brüdern seines Schwagers aus Rache getötet zu werden, hätten nicht festgestellt werden können, weil er diesen Umstand weder in der erstinstanzlichen Einvernahme noch in der Berufung erwähnt habe. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers habe die Ladung zur Berufungsverhandlung am 15. November 2001 übernommen und bis zu dieser fast zwei Monate Zeit gehabt, um etwaige Stellungnahmen einzubringen; auch habe der Beschwerdeführer seit seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt bis zur Berufungsverhandlung zwei Jahre Zeit gehabt, um selbst Ergänzungen seiner Aussage handschriftlich zu verfassen oder dafür etwa die Hilfe der Caritas in Anspruch zu nehmen, mit der er nach eigenen Angaben in regelmäßigem Kontakt gestanden sei. Im Hinblick auf diese Umstände und die geänderte Lage in Afghanistan - mit dem Wegfall der vom Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt angegebenen alleinigen Gefährdung durch die Taliban - seien die erstmalig in der Berufungsverhandlung gemachten Angaben des Beschwerdeführers als - unglaubwürdiges - gesteigertes Vorbringen zu werten. Aufgrund der katastrophalen Versorgungslage in Afghanistan sei dem Beschwerdeführer aber Refoulementschutz zu gewähren gewesen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen Spruchpunkt 1. dieses Bescheides gerichtete Beschwerde erwogen:
1. Vorweg ist festzuhalten, dass der angefochtene Bescheid vom Verwaltungsgerichtshof anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen ist (vgl. etwa das Erkenntnis vom 26. November 2003, Zl. 2002/20/0090).
2. Die belangte Behörde wertet das erstmals in der Berufungsverhandlung erstattete Vorbringen des Beschwerdeführers - er fürchte, von den Brüdern seines Schwagers aus Rache getötet zu werden - als unglaubwürdig und begründet dies im Wesentlichen damit, dass er diesen Fluchtgrund weder in der erstinstanzlichen Einvernahme noch in der Berufung erwähnt habe, es sich also um "gesteigertes Vorbringen" handle.
Die Beschwerde bringt vor, dass im Zeitpunkt der Flucht des Beschwerdeführers eine Verfolgungsgefahr durch die Brüder seines usbekischen Schwagers nicht aktuell gewesen sei, weil die Brüder im damals gegebenen Einflussbereich der Taliban den Beschwerdeführer nicht bedrohen konnten. Mit dem Zusammenbrechen der Herrschaft der Taliban bzw. der nunmehrigen Machtstellung Dostums sei die Verfolgungsgefahr wieder gegeben. Damit wendet sich die Beschwerde - im Ergebnis mit Erfolg - gegen die Schlüssigkeit der Beweiswürdigung der belangten Behörde. Die Argumentation mit einem "gesteigerten Vorbringen" ist nämlich nur dann stichhaltig, wenn die Verhältnisse im Herkunftsstaat des Asylwerbers während des Verfahrens im Wesentlichen unverändert bleiben (vgl. dazu das zur Lageänderung im Kosovo ergangene Erkenntnis vom 6. März 2001, Zl. 2000/01/0056). Wie die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid selbst festgestellt hat - eine Gefährdung der Anti-Taliban-Kräfte seitens des Taliban-Regimes liege nicht mehr vor -, kann davon aber im Beschwerdefall nicht gesprochen werden. Angesichts der früher drohenden Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban - das diesbezügliche Vorbringen wurde von der belangten Behörde, die festgestellt hat, dass der Beschwerdeführer gegen die Taliban gekämpft hat, nicht als unglaubwürdig gewertet - bestand keine Veranlassung für den Beschwerdeführer, die ihm (angeblich) drohenden Gefahren durch die Brüder seines Schwagers schon in der erstinstanzlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 1. Februar 2000 zu erwähnen. Die belangte Behörde hat etwa auch nicht festgestellt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers, zum Zeitpunkt seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt seien Dostum und dessen Gefolgschaft nicht in Afghanistan gewesen und es habe dem Beschwerdeführer von deren Seite daher damals keine Gefahr gedroht, von einer unrichtigen Tatsachengrundlage ausgehe.
Auch die Argumentation der belangten Behörde, der Beschwerdeführer hätte seit seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt bis zur Berufungsverhandlung zwei Jahre Zeit gehabt, um seine Aussage schriftlich - allenfalls mit Hilfe der Caritas - zu ergänzen, ist nicht schlüssig, weil der Sturz der Taliban für den Beschwerdeführer während dieses Zeitraumes in keiner Weise voraussehbar war. Ebensowenig ist das Argument der belangten Behörde, der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers habe die Ladung zur Berufungsverhandlung am 15. November 2001 übernommen und bis zur Verhandlung fast zwei Monate Zeit gehabt, um eine Stellungnahme einzubringen, schon deshalb nicht stichhaltig, weil die Taliban nach dem in der Berufungsverhandlung erstatteten Gutachten des Sachverständigen - konkrete Feststellungen wurden im angefochtenen Bescheid nicht getroffen - (erst) seit Anfang Jänner 2002 vollständig in den nicht-pashtunischen Gebieten besiegt waren. Es kann dem Beschwerdeführer schon aus diesen Gründen nicht zum Vorwurf gemacht - und damit als Argument gegen seine Glaubwürdigkeit ins Treffen geführt werden -, dass er den in Rede stehenden Sachverhalt (erst) in der Berufungsverhandlung am 11. Jänner 2002 vorgebracht hat, zumal die belangte Behörde auch nicht festgestellt hat, dass eine Gefährdung des Beschwerdeführers durch die Taliban bereits vor Jänner 2002 nicht mehr vorgelegen sei.
3. Im Übrigen weist die Beschwerde mit dem Vorbringen, die damals erst kürzlich eingesetzte provisorische Regierung dürfte vor allem im Raum Kabul über Einfluss verfügen und in das Machtvakuum nach der Niederlage der Taliban seien regionale Kommandanten gestoßen, die eine Schutzunterstellung nicht zumutbar erscheinen ließen, zu Recht darauf hin, dass die Annahme einer grundlegenden politischen Veränderung im Herkunftsstaat (aus der sich der Verlust der zunächst gegebenen Flüchtlingseigenschaft ergeben soll) eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse voraussetzt, für deren Beurteilung es in der Regel eines längeren Beobachtungszeitraumes bedarf (vgl. dazu das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 16. Februar 2006, Zl. 2006/19/0030 mwN).
4. Der Bescheid war daher hinsichtlich des angefochtenen Spruchpunktes 1. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Wien, am 27. April 2006
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