VwGH 2001/13/0054

VwGH2001/13/005419.12.2001

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Weiss und die Hofräte Dr. Hargassner, Dr. Fuchs, Dr. Büsser und Dr. Mairinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Zehetner, über die Beschwerde des R in W, vertreten durch Neuner + Henzl Treu-Mandat GmbH, Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft in Wien IX, Garnisongasse 20, gegen den Bescheid der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Berufungssenat VI, vom 16. Jänner 2001, Zl. RV/184-16/05/97, betreffend Wiederaufnahme des Einkommensteuerverfahrens für das Jahr 1988 und Einkommensteuer für das Jahr 1988, zu Recht erkannt:

Normen

BAO §132 Abs1;
BAO §303 Abs1 litb;
BAO §303 Abs4;
BAO §132 Abs1;
BAO §303 Abs1 litb;
BAO §303 Abs4;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist Patentanwalt und übernahm im Jahr 1984 die bis dahin gemeinsam mit seinem Vater geführte Patentanwaltskanzlei als Alleinunternehmer. Zum Stichtag 1. Jänner 1988 wechselte er die Gewinnermittlung von der bis dahin geführten Überschussrechnung zum Betriebsvermögensvergleich. In seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 1988 deklarierte er einen Übergangsgewinn, für welchen er unter Berufung auf § 37 Abs. 2 Z. 3 EStG 1972 den ermäßigten Steuersatz in Anspruch nahm. Mit Bescheid vom 28. August 1990 wurde der Beschwerdeführer zur Einkommensteuer für das Jahr 1988 erklärungsgemäß veranlagt.

In dem mit 22. Jänner 1997 datierten Bericht über eine das Unternehmen des Beschwerdeführers betreffende abgabenbehördliche Prüfung stellte der Prüfer die Außerordentlichkeit der aus dem Wechsel der Gewinnermittlung resultierenden Einkünfte mit der Begründung in Frage, dass diese Außerordentlichkeit der Einkünfte im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesondert dahin zu überprüfen sei, ob zusammengeballt in einem Jahr anfallende Einkünfte wirtschaftlich als das Ergebnis einer mehrjährigen Tätigkeit anzusehen seien. Zu diesem Zweck habe der Prüfer Sachverhaltsermittlungen hinsichtlich der Forderungsstruktur des Übergangsgewinnes und der Zahlungseingänge der betroffenen Forderungen angestellt. Über die Forderungsstruktur (Leistungszeitraum) gäben prinzipiell die Ausgangsrechnungen Auskunft, welche daher entsprechend den Vorschriften des § 132 BAO der siebenjährigen Aufbewahrungsverpflichtung unterlägen. Da der Leistungszeitraum ein wesentliches Kriterium für die Inanspruchnahme des Hälftesteuersatzes nach § 37 EStG 1972 für den Übergangsgewinn darstelle, die erforderlichen Unterlagen aber nicht mehr vorhanden gewesen seien, sei der Beschwerdeführer diesbezüglich befragt worden. Nach seiner Aussage seien die Belege nicht aufbewahrt und sei damit der Verpflichtung nach § 132 BAO nicht nachgekommen worden. Zur Glaubhaftmachung sei der Beschwerdeführer wiederholt mündlich und schriftlich befragt worden und habe jedes Mal angegeben, dass die Abrechnung zum ehestmöglichen Zeitpunkt nach der Leistungserbringung erfolgt sei. Trotzdem habe der Prüfer versucht, in einzelnen Fällen aus den Akten den Leistungszeitraum zu erheben, welche Bemühungen sich aber als unmöglich erwiesen hätten, weil Grundaufzeichnungen, aus denen der Leistungszeitraum hätte entnommen werden können, nicht mehr vorhanden gewesen seien. Der Prüfer habe daher auf Grund der Aussagen des Beschwerdeführers und der eigenen Ermittlungen auf kurzfristige Forderungen (kürzer als ein Jahr) geschlossen. In diesem Punkt könne daher davon ausgegangen werden, dass die für das Kriterium der Außerordentlichkeit geforderte Zusammenballung von Einkünften aus mehr als zwei Jahren jedenfalls nicht gegeben sei. Hinsichtlich der Forderungseingänge habe auf Grund der Konten jedenfalls festgestellt werden können, dass von den zum Übergangsstichtag offenen Forderungen über 87 % bereits 1988 eingegangen seien. Diese Forderungen wären somit bei fortgedachter Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG 1972 ohnehin im Jahr 1988 der Einkommensteuer zu unterziehen gewesen und erfüllten damit nicht das Kriterium der Außerordentlichkeit, wobei es unwesentlich sei, ob die Forderungen aus einer Tätigkeit resultierten, die selbst mehrere Jahre in Anspruch genommen habe, oder ob es sich um solche handelte, die kurze Leistungszeiträume beträfen. Da einerseits die in der Bilanz ausgewiesenen Forderungen kurzfristig seien und die Forderungseingänge andererseits im selben Jahr erfolgten, lägen nach Ansicht des Prüfers keine außerordentlichen Einkünfte im Sinne des § 37 EStG 1972 vor, weshalb der Hälftesteuersatz auf den Übergangsgewinn aus dem freiwilligen Wechsel der Gewinnermittlungsart nicht anwendbar sei. Zur Wiederaufnahme des Verfahrens wurde im Prüfungsbericht ausgeführt, dass auf Grund der im Erstverfahren allein vorliegenden Abgabenerklärungen (einschließlich der Bilanzen und anderen Beilagen) der im Betriebsprüfungsverfahren ermittelte Sachverhalt nicht vollständig offen gelegt und der Abgabenbehörde daher auch nicht bekannt gewesen sei. Da auch nach den Angaben des Beschwerdeführers sowie dessen steuerlichen Vertreters die Forderungsstruktur sowie der Leistungszeitraum der zum Stichtag 1. Jänner 1988 offenen Forderungen sich nicht mehr genau ermitteln lasse, weil die dazu erforderlichen Unterlagen nicht mehr vorhanden seien (Verletzung der Belegaufbewahrungsverpflichtung nach § 132 BAO), sei eine vollständige Offenlegung auch im Zuge der Betriebsprüfung nicht erfolgt. Auch hätten die Zahlungseingänge im Jahr 1988 der zum Stichtag 1. Jänner 1988 bestehenden Forderungen dem Einkommensteuerakt nicht entnommen werden können. Bei der Ermessensentscheidung sei dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit der Vorrang vor dem Prinzip der Rechtsbeständigkeit einzuräumen gewesen.

Das Finanzamt schloss sich der Auffassung des Prüfers an, nahm mit Bescheid vom 11. Februar 1997 das Einkommensteuerverfahren für das Jahr 1988 gemäß § 303 Abs. 4 BAO wieder auf und erließ gleichzeitig einen neuen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1988, in welchem eine Anwendung des begünstigten Einkommensteuersatzes des § 37 Abs. 1 EStG 1972 auf den vom Beschwerdeführer erklärten Übergangsgewinn unterblieb.

Der Beschwerdeführer erhob Berufung sowohl gegen den Wiederaufnahmebescheid als auch gegen den neuen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1988. Ein Wiederaufnahmegrund liege nicht vor. Der Beschwerdeführer habe im Veranlagungsverfahren dem Finanzamt gemeinsam mit der Gewinn- und Verlustrechnung für den Zeitraum vom 1. Jänner 1988 bis 31. Dezember 1988 auch die Eröffnungsbilanz zum 1. Jänner 1988 sowie eine Aufstellung über die Ermittlung des Übergangsgewinnes vorgelegt und den Hälftesteuersatz nach § 37 EStG 1972 für den Übergangsgewinn beantragt. Der Sachverhalt für eine Anwendung des § 37 EStG 1972 sei damit für das Finanzamt klar erkennbar gewesen. Die vom Prüfer im Nachhinein durchgeführte Ermittlung über die Forderungsstruktur des Übergangsgewinnes und über den Zahlungseingang der Forderungen beruhe einzig und allein auf einer geänderten rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes durch die Abgabenbehörde. Hätte diese damals die Rechtsmeinung vertreten, es käme für die Beurteilung der Außerordentlichkeit der Einkünfte auf die genaue Differenzierung nach den Leistungszeiträumen und den Daten der Zahlungseingänge der einzelnen offenen Forderungen nach dem Übergangsstichtag an, dann hätte die Behörde den Beschwerdeführer mit Vorhalt aufgefordert, diese maßgebenden Umstände bekannt zu geben. Tatsächlich habe das Finanzamt gemäß der zum Zeitpunkt seiner Bescheiderlassung herrschenden Rechtsmeinung dem Antrag auf Anwendung des Hälftesteuersatzes ohne Vornahme dieser rechtlich nicht gedeckten Differenzierungen stattgegeben. Eine anders geartete rechtliche Beurteilung oder eine später abweichende Beurteilung des schon bekannten Sachverhaltes könne einen behördlichen Eingriff in die Rechtskraft nicht rechtfertigen. Die behördliche Rechtsansicht, nach welcher der begünstigte Steuersatz auf den vom Beschwerdeführer erklärten Übergangsgewinn nicht anzuwenden sei, erweise sich - im Ergebnis umfangreicher rechtlicher Darlegungen - als verfehlt.

In einer Stellungnahme zur Berufung vertrat der Prüfer die Auffassung, aus den vom Beschwerdeführer genannten Beilagen zu seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 1988 habe das Vorliegen der Voraussetzungen einer Beurteilung des Übergangsgewinnes als außerordentliche Einkünfte im Sinne des § 37 Abs. 1 EStG 1972 vom Finanzamt nicht geprüft werden können. Erst im abgabenbehördlichen Prüfungsverfahren sei offenkundig geworden, dass diese Voraussetzung nicht gegeben sei. Dies sei Ergebnis des vom Prüfer ermittelten Sachverhaltes und beruhe nicht auf einer geänderten rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes durch die Abgabenbehörde. Auch das Vorbringen des Beschwerdeführers, mit welchem er auf seine Berechtigung zur Anwendung des begünstigten Steuersatzes aus dem erklärten Übergangsgewinn poche, sei rechtlich nicht zu teilen.

Nachdem der Beschwerdeführer der Stellungnahme des Prüfers schriftlich widersprochen und in der von der belangten Behörde durchgeführten Verhandlung seinen Standpunkt vorgetragen hatte, wies die belangte Behörde seine Berufung gegen den Wiederaufnahmebescheid und gegen den Einkommensteuerbescheid mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid als unbegründet ab. Die Bestätigung des bekämpften Wiederaufnahmebescheides begründete die belangte Behörde zusammengefasst mit folgenden Erwägungen:

Tatsachen im Sinne des § 303 Abs. 4 BAO seien Sachverhaltselemente, die bei einer entsprechenden Berücksichtigung zu einem anderen als im Bescheid zum Ausdruck gebrachten Ergebnis geführt hätten, etwa Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften. Die Verpflichtung zur Aufbewahrung von Belegen bestehe im Interesse einer verlässlichen Prüfung der Richtigkeit von Aufzeichnungen gemäß § 132 Abs. 1 BAO auf die Dauer von sieben Jahren. Angesichts der Tatsache, dass die Aufbewahrungsfristen mit dem Schluss des Kalenderjahres, auf das sich die Belege beziehen, zu laufen begännen, sei dem Beschwerdeführer mit dem Beginn der abgabenbehördlichen Prüfung der Einkommensteuer für das Jahr 1988 am 23. März 1995 - somit vor Ablauf der Aufbewahrungsfrist für Belege des Jahres 1988 - bekannt gewesen, dass diese Belege für die Überprüfung der Einkommensteuerbemessungsgrundlage für das Jahr 1988 bis zum Abschluss des Prüfungsverfahrens von Bedeutung seien. Weiters sei festzuhalten, dass § 37 EStG 1972, auf Grund dessen der Beschwerdeführer die Anwendung des Hälftesteuersatzes auf den Übergangsgewinn beantragt hatte, eine abgabenrechtliche Begünstigungsbestimmung darstelle. Indem der Beschwerdeführer Belege im laufenden Prüfungsverfahren vernichtet habe, obwohl er habe annehmen können, dass er diese Belege noch als Beweismittel benötige, habe sich der steuerlich vertretene Beschwerdeführer nicht erfolgreich auf den Ablauf der Aufbewahrungsfrist berufen können, weil der Grundsatz der Amtswegigkeit der Sachverhaltsermittlung bei Begünstigungsbestimmungen generell in den Hintergrund trete. Als Folge dieses Verhaltens habe der Beschwerdeführer mit der "Nichtaufbewahrung" der seinen Antrag belegenden Schriftstücke bis zum Abschluss des abgabenbehördlichen Prüfungsverfahrens das im Rahmen der Beweiswürdigung sich ergebende Risiko zu tragen. Mit der Vernichtung der relevanten Beweismittel im Prüfungsverfahren sei dem Prüfer die Möglichkeit der Überprüfbarkeit der Aufzeichnungen an Hand von Belegen vom Beschwerdeführer genommen worden. Die unterlassene Aufbewahrung von Belegen sowie sonstiger Beweismittel, an Hand welcher das Kriterium der Außerordentlichkeit der aus dem Wechsel der Gewinnermittlung resultierenden Einkünfte hätte nachgewiesen werden können, stelle eine neue Tatsache im Sinne des § 303 Abs. 1 BAO dar, auf Grund welcher die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 303 Abs. 4 BAO hinsichtlich der Einkommensteuer für das Jahr 1988 bescheidmäßig auszusprechen gewesen sei. Damit stehe auch fest, dass dem bekämpften Wiederaufnahmebescheid nicht bloß eine Änderung der rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes durch die Abgabenbehörde zu Grunde liege. Ein allfälliges Verschulden der Abgabenbehörde am Unterbleiben einer Ausforschung wesentlicher Sachverhaltselemente stehe der amtswegigen Wiederaufnahme des Verfahrens nicht entgegen. Dass der Beschwerdeführer seinen Gewinn über mehrere Jahre zuvor nach § 4 Abs. 3 EStG 1972 ermittelt hatte, beweise noch keineswegs eine Zusammenballung von Einkünften des Beschwerdeführers im Jahr des Wechsels der Gewinnermittlungsart. Da das Ziel der amtswegigen Wiederaufnahme von Abgabenverfahren ein insgesamt rechtmäßiges Ergebnis sei, habe die Abgabenbehörde in der Ermessensübung keine andere Wahl gehabt, als dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit den Vorrang vor jenem der Rechtsbeständigkeit zu geben.

Zur Berufung des Beschwerdeführers gegen den neu erlassenen Einkommensteuerbescheid 1988 wird in der Begründung des angefochtenen Bescheides im Wesentlichen ausgeführt, dass die Tarifbegünstigung des § 37 EStG 1972 nur dann zum Tragen zu kommen habe, wenn die beabsichtigte Progressionsmilderung Einkünfte betreffe, die wirtschaftlich als das Ergebnis einer mehr als ein Jahr dauernden Tätigkeit oder von Vorgängen anzusehen seien, welche die Dauer eines Jahres überschritten. Da die Möglichkeit einer genauen Analyse der dem Übergangsgewinn zu Grunde liegenden Honorarforderungen infolge nicht mehr vorhandener Aufzeichnungen unstrittig sei, erweise sich das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Tarifbegünstigungsvorschrift als nicht überprüfbar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über welche der Verwaltungsgerichtshof nach Erstattung einer Gegenschrift und Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde und einer Replik durch den Beschwerdeführer erwogen hat:

Der Beschwerdeführer trägt in Bekämpfung des Wiederaufnahmebescheides vor, der ihm gemachte Vorwurf einer Vernichtung der relevanten Beweismittel im Prüfungsverfahren sei unberechtigt. Die abgabenbehördliche Prüfung habe am 23. März 1995 begonnen und ursprünglich nur die Veranlagungsjahre 1991 bis 1993 erfasst; erst ab Mai 1995 sei - ohne Ausdehnung des Prüfungsauftrages - auch der Übergangsgewinn des Jahres 1988 zur Debatte gestanden. Wenn der Beschwerdeführer Anfang des Jahres 1995 und damit vor Beginn der Betriebsprüfung die Buchhaltungsunterlagen 1987 vernichtet habe, so wie er auch zuvor schon unter Beachtung der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht vorgegangen sei, dann sei dies legitim gewesen, zumal für die Beurteilung der von der Abgabenbehörde aufgeworfenen Rechtsfrage nur ein Geschehnis in den Jahren bis inklusive 1987 von Bedeutung sein könne. Wenn die belangte Behörde damit argumentiere, dass es sich beim Hälftesteuersatz um eine abgabenrechtliche Begünstigung handle, lasse sie außer Acht, dass das Gesetz keine abweichenden Aufbewahrungspflichten für solche Unterlagen kenne, die für die Inanspruchnahme für Befreiungs- oder Begünstigungsvorschriften benötigt würden, was auch nicht unter dem Aspekt einer denkbaren Wiederaufnahme gelte. Die Neufassung der Bestimmung des § 132 BAO durch BGBl. I Nr. 9/1998 sei erst lange nach Abschluss der Prüfung in Kraft getreten. Die für die richtige rechtliche Beurteilung erforderlichen Unterlagen seien dem Finanzamt bei Erlassung des ursprünglichen Einkommensteuerbescheides für das Jahr 1988 bereits vorgelegen. Tatsächlich habe die Abgabenbehörde ihre rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes geändert und Wiederaufnahmegründe am Sachverhaltssektor nur vorgeschoben. Das "Nichtvorliegen" von Unterlagen, die eine exakte Beurteilung der Forderungsstruktur zum Stichtag ermöglicht hätten, stelle zudem auch keinen Wiederaufnahmegrund dar. Urkunden seien im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorgelegen und im Zeitpunkt der Prüfung nicht mehr vorgelegen. Solcher Art sei aber keine Tatsache und auch kein Beweismittel neu hervorgekommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden seien. Das Fehlen entsprechender Unterlagen im Jahre 1995 sei kein neues Beweismittel, sondern aus der irrigen Sicht der Abgabenverwaltung ein Beweismitteldefizit, also ein (nunmehr) fehlendes Beweismittel. Die Vernichtung der Unterlagen, deren Aufbewahrungsfrist jeweils abgelaufen gewesen sei, sei für das Jahr 1986 Anfang 1994 und für das Jahr 1987 Anfang 1995 erfolgt. Diese Unterlagen seien also bei Erlassung des von der strittigen Wiederaufnahme betroffenen Bescheides vom 28. August 1990 (und noch Jahre danach) noch vorhanden gewesen. Das, was die belangte Behörde ins Treffen führe, erfülle nicht die gesetzlichen Voraussetzungen des § 303 Abs. 4 BAO.

Schon diesem Beschwerdevorbringen kann Berechtigung nicht abgesprochen werden:

Gemäß § 303 Abs. 4 BAO ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen in allen Fällen zulässig, in denen Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden sind, und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

Die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid vertretene Auffassung, "die unterlassene Aufbewahrung von Belegen sowie sonstiger Beweismittel, an Hand welcher das Kriterium der Außerordentlichkeit der aus dem Wechsel der Gewinnermittlung resultierenden Einkünfte hätte nachgewiesen werden können", stelle eine neue Tatsache im Sinne des § 303 Abs. 1 BAO dar, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 303 Abs. 4 BAO gerechtfertigt habe, ist nicht zu teilen. Rechtlich zutreffend verweist der Beschwerdeführer schon auf den Umstand, dass die nach Ablauf der für die betroffenen Jahre geltenden Aufbewahrungsfrist des § 132 BAO vernichteten Unterlagen bei Erlassung des mit dem bekämpften Wiederaufnahmebescheid behobenen Einkommensteuerbescheides vom 28. August 1990 noch vorhanden gewesen seien, womit er inhaltlich geltend macht, dass es sich bei dem von der belangten Behörde herangezogenen Umstand um eine neu entstandene und nicht eine erst neu hervorgekommene Tatsache handle.

Nach der Bescheiderlassung neu entstandene Tatsachen oder später zu Stande gekommene Beweismittel bilden keine taugliche Grundlage für eine Wiederaufnahme des Verfahrens (siehe etwa das hg. Erkenntnis vom 23. September 1997, 93/14/0065, mit weiteren Nachweisen sowie das zur vergleichbaren Bestimmung des § 165 Abs. 1 FinStrG ergangene hg. Erkenntnis vom 25. September 2001, 98/14/0204). Wie der Verwaltungsgerichtshof erst jüngst wieder klargestellt hat (siehe das hg. Erkenntnis vom 28. November 2001, 97/13/0078), ist es der die betroffene Abgabe zuletzt festsetzende Abgabenbescheid, der mit dem Zeitpunkt seiner Erlassung jenen Stichtag begründet, an dem zu messen ist, ob eine zur Wiederaufnahme des mit diesem Bescheid abgeschlossenen Verfahrens heranzuziehende Tatsache neu entstanden oder neu hervorgekommen ist. Im Beschwerdefall war dies der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1988 vom 28. August 1990. Eine "unterlassene Aufbewahrung von Belegen sowie sonstiger Beweismittel, an Hand welcher das Kriterium der Außerordentlichkeit der aus dem Wechsel der Gewinnermittlung resultierenden Einkünfte hätte nachgewiesen werden können", zum Stichtag 28. August 1990 wirft die belangte Behörde dem Beschwerdeführer nicht vor. Die im Einklang mit der durch § 132 Abs. 1 BAO in seiner damals maßgeblichen Fassung vor der Novellierung durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 9/1998 durch den Beschwerdeführer am Jahresanfang 1995 erfolgte Vernichtung von Aufzeichnungen für Zeiträume vor dem 1. Jänner 1988 ließ sich dem Beschwerdeführer weder rechtens vorwerfen, noch als neu hervorgekommene Tatsache im Sinne des § 303 Abs. 4 BAO qualifizieren, weil es sich dabei in Relation zu dem die Abgabe zuletzt festsetzenden Abgabenbescheid um eine neu entstandene und keine neu hervorgekommene Tatsache handelte. Zutreffend argumentiert der Beschwerdeführer darüber hinaus, dass dem von der belangten Behörde als Wiederaufnahmegrund herangezogenen Umstand auch die Qualität eines neu hervorgekommenen Beweismittels fehlt, sondern dieser Umstand vielmehr aus Sicht der belangten Behörde ein (neu entstandenes) Beweismitteldefizit darstellte und auch unter diesem Gesichtspunkt als Grund einer amtswegigen Verfahrenswiederaufnahme rechtlich nicht taugte.

Das von der belangten Behörde in der Gegenschrift erstattete Vorbringen, es habe das im Prüfungszeitpunkt gegebene Fehlen der maßgebenden Aufzeichnungen ohnehin "nicht den einzigen" Wiederaufnahmegrund dargestellt, steht zum einen im Widerspruch zur Bescheidbegründung und lässt, worauf der Beschwerdeführer in seiner Replik zutreffend hinweist, im Dunklen, welchen anderen vom Finanzamt herangezogenen Wiederaufnahmegrund die belangte Behörde als gegeben ansieht.

Es erweist sich der angefochtene Bescheid durch die darin bestätigte Wiederaufnahme des Einkommensteuerverfahrens für das Jahr 1988 ohne Stützung auf eine neu hervorgekommene Tatsache oder ein neu hervorgekommenes Beweismittel somit als inhaltlich rechtswidrig, was es erübrigt, die vom Beschwerdeführer gleichfalls bekämpfte Ermessensübung und die Frage zu prüfen, ob der von der belangten Behörde als Wiederaufnahmegrund verfehlter Weise herangezogene Umstand überhaupt geeignet gewesen wäre, die Abgabenbehörde zu einem im Spruch anders lautenden Bescheid gelangen zu lassen. Zum Sachbescheid sei im gegebenen Zusammenhang der Vollständigkeit halber auf die hg. Erkenntnisse vom 22. März 2000, 98/13/0168 und 99/13/0004, hingewiesen.

Der angefochtene Bescheid war, da dem bekämpften Abspruch der belangten Behörde über Einkommensteuer für das Jahr 1988 mit der Behebung des Wiederaufnahmebescheides dieses Verfahrens die Rechtsgrundlage entzogen ist, somit zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Von der vom Beschwerdeführer beantragten mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof aus dem Grunde des § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG Abstand genommen.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 19. Dezember 2001

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