VwGH 2001/11/0404

VwGH2001/11/040426.11.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Graf, Dr. Gall, Dr. Pallitsch und Dr. Schick als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Runge, über die Beschwerde der R in W, vertreten durch Wolf Theiss & Partner, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Schubertring 6, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 13. Juli 2001, Zl. MA 15-II-BEG 102/2000, betreffend Feststellung des Grades der Behinderung und der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, zu Recht erkannt:

Normen

BEinstG §2 Abs1;
BEinstG §3;
KOVG 1957 §4;
KOVG RichtsatzV 1965 §3;
BEinstG §2 Abs1;
BEinstG §3;
KOVG 1957 §4;
KOVG RichtsatzV 1965 §3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1089,68 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Antrag vom 29. November 1999 begehrte die Beschwerdeführerin die Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß den Bestimmungen der §§ 2 und 14 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG), BGBl. Nr. 313/1992, weil bei ihr folgende Gesundheitsschädigungen vorlägen: "status post. Schleudertrauma, chron. Lumbalgie, Depressionen, Platzangst, Kopfschmerzen, Hüft., + Kreuzschmerzen,

V. A. Morton'sches Neurom interdig. II ? Schlafstörungen, nervöse Blase, Regelstörungen, zeitweise Taubheit in Armen + Beinen, Alpträume".

Mit Bescheid des Bundessozialamtes für Wien Niederösterreich Burgenland vom 2. Mai 2000 wurde dieser bei der Behörde am 30. November 1999 eingelangte Antrag abgewiesen, weil "nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens (…) der Grad der Behinderung 20 v. H." beträgt.

In der dagegen erhobenen Berufung führte die Beschwerdeführerin aus, ihre durch einen Autounfall bewirkte neurologische Behinderung sei bei der Einschätzung des Grades der Behinderung nicht berücksichtigt worden. Auch habe sie Taubheitsgefühle und Schmerzen in den Armen und Beinen. Ihre Hüft- und Schulterschmerzen sowie ihr psychischer Zustand (als Folge der Schmerzen) seien ebenfalls nicht eingeschätzt worden.

Die belangte Behöre ordnete in der Folge die Untersuchung und Begutachtung der Beschwerdeführerin durch medizinische Sachverständige an.

Im neuropsychiatrischen Gutachten vom 14. September 2000 wird ausgeführt:

"Bei der Klientin besteht bei Zustand nach Verkehrsunfall XII/93 ein chronifiziertes Schmerzsyndrom im Bereich der HWS, wobei fallweise über eine Ausstrahlungstendenz in den Occipitalbereich berichtet wird. Unabhängig davon wird ein ‚Migräneleiden' erwähnt, wobei die diesbezügliche Anfallsfrequenz zuletzt deutlich rückläufig wäre und die Klientin nicht nennenswert belasten würde. Weiters wird auf Sensibilitätsstörungen an beiden Händen hingewiesen, diese würden im Intervall und positionsabhängig auftreten. Darüber hinaus würden Schmerzen und Sensibilitätsstörungen auch im linken Vorfuß seit etwa drei Jahren in langsamer Progredienz vorhanden sein.

Der beiliegenden Befundsammlung sind fachärztliche Berichte (Dr. L., Dr. H. 1994, 1995) zu entnehmen, in diesen wird auf ein depressives Syndrom hingewiesen. Die Klientin nimmt derzeit keine antidepressive Medikation ein, ein rezenter fachärztlicher Befundbericht wird nicht eingesehen.

Im organneurologischen Status finden sich im Bereich Caput sowie an den Hirnnerven I bis XII abgesehen von einer Beweglichkeitseinschränkung bei forcierter Reklination keine Auffälligkeiten, an den oberen Extremitäten ist ein organneurologisch unauffälliger Status zu erheben, die angegebenen Schmerzen im Bereich der linken Schulter-Arm-Region sind keinem organneurologischen Substrat zuzuordnen. Die - im Intervall auftretenden - Sensibilitätsstörungen an beiden Händen bedingen keine relevanten Beeinträchtigungen. An den unteren Extremitäten fällt eine Dorsalextensions/Plantarflexionsschwäche links auf, diese ist ebenfalls keinem neurologischen Substrat zuzuordnen, zumal dieses Defizit von der Klientin auf Schmerzen im Bereich des linken Sprunggelenkes zurückgeführt wird. Die Schmerzen im Bereich der LWS zeigen derzeit keine radikuläre Ausstrahlung, das MER-Muster ist seitengleich mittellebhaft, es bestehen keine Muskelathrophien, die Pyramidenzeichen sind beidseits negativ.

Das Gangbild imponiert organneurologisch weitgehend unauffällig, im neuropsychiatrischen Bereich findet sich lediglich eine mäßige Antriebssteigerung, definitive Hinweise auf ein depressives Syndrom sind zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht nachweisbar.

Unter Berücksichtigung sämtlicher eingesehener Befunde sowie dem klinischen Status folgend bestehen derzeit aus organneurologisch-psychiatrischer Sicht keine Gesundheitsschädigungen, welche für die Gesamteinschätzung des Grades der Behinderung zu berücksichtigen sind. Eine organneurologisch Ausfallssymptomatik liegt derzeit nicht vor, im psychischen Bereich bestehen keine relevanten Einschränkungen."

Im orthopädischen Gutachen vom 20. September 2000 werden die fachspezifischen Gesundheitsschädigungen der Beschwerdeführerin wie folgt beurteilt:

"Gesundheitsschädigungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 20 v. H., die auch im Zusammenwirken mit anderen Gesundheitsschädigungen keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursachen:

Lfd. Art der Gesundheitsschädigung Position in

den Grad der

Nr.:

Richtsätzen Behinderung

1. Degenerative Veränderungen der I/f/190

20 v. H.

Wirbelsäule

(Unterer Rahmensatz entsprechend

der Funktionsstörung)

2. Polyarthralgie mit Befall mehrerer III/j/417

10 v. H.

Gelenke

(Oberer Rahmensatz dem Beschwerdebild entsprechend)"

Im zusammenfassenden Gutachten der Amtssachverständigen vom 22. September 2000 erfolgte die Einschätzung gemäß Richtsatzkatalog im Sinne des § 7 KOVG dahingehend, dass der Gesamtgrad der Behinderung sich durch die im vorzitierten orthopädischen Gutachten angeführte Position 1. (degenerative Veränderung der Wirbelsäule) ergebe und daher 20 v. H. betrage; dieser sei ab 30. November 1999 anzunehmen. Ein einschätzungswürdiges neurologisches oder psychiatrisches Leiden liege nicht vor.

In ihrer Stellungnahme vom 25. Oktober 2000 bemängelte die Beschwerdeführerin das neuropsychiatrische Gutachten mit dem Hinweis, ihr psychischer Zustand sei nicht hinterfragt worden. Seit dem Unfall habe sie Depressionen (depressive Verstimmung mit Somatisierung); sie nehme derzeit zwar nur Passedantabletten, da sie Angst habe, von Medikamenten abhängig zu werden. Sie habe früher (näher bezeichnete) Antidepressiva genommen. Sie beantrage, ihren "psychischen Zustand einzuschätzen".

Im ergänzenden neurologischen Gutachten vom 28. November 2000 wird auf Grund dieser Stellungnahme festgehalten, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen der Befundung ausreichend Gelegenheit gehabt habe, ihre Beschwerden - auch psychischer Art - darzustellen und die vorgelegten fachärztlichen Befunde bei der Erstellung des Gutachtens mit berücksichtigt worden seien. Die Stellungnahme der Beschwerdeführerin beinhalte keine neuen, medizinisch relevanten Aspekte. (Eine neuerliche Untersuchung der Beschwerdeführerin erfolgte nicht.)

Mit Schreiben vom 30. März 2001 übermittelte die Beschwerdeführerin der belangten Behörde ein "Neuropsychiatrisches Fachgutachten" des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. vom 22. März 2001 mit dem Hinweis, dass in diesem Gutachten die von ihr bereits behauptete Verschlechterung ihres "Gesamt-Gesundheitszustandes" festgestellt werde. Auch sei sie zur weiteren orthopädischen Behandlung von ihrem Hausarzt an einen Facharzt für Orthopädie und vom Amtsarzt des AMS an einen Psychologen zur Behandlung überwiesen worden.

In dem genannten Neuropsychiatrischen Fachgutachten wird darauf hingewiesen, dass es im November 2000 "zu einer weiteren Verschlechterung der depressiven Symptomatik" bei der Beschwerdeführerin gekommen sei, "sodass auch Selbstmordphantasien auftraten. Auf Grund der schweren Depression mit multiplen psychosomatischen Störungen ist die nervliche Belastbarkeit der Patientin auf mehr als ein Minimum herabgesunken, sodass sie auch beziehungsunfähig wurde". Zusammenfassend wird sodann festgehalten, dass auf Grund der neuro-psychiatrischen Untersuchung unter Verlaufsbeachtung während der vergangenen 5 1/2 Jahre aus nervenfachärztlicher Sicht gesagt werden könne, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine schwere psychosomatische Gesundheitsstörung im Sinne einer depressiven Symptomatik mit multiplen psychosomatischen Reaktionsmustern wie Herzklopfen, Verspannungen der Wirbelsäule, vegetative Erschöpfung, Engegefühl im Brustbereich, Störung der Konzentrationsfähigkeit, Vitalitätsstörungen auf allen Ebenen, handle. Ebenso liege eine radikuläre Schmerzsymptomatik im Bereich der Halswirbelsäule, ausstrahlend in beide Oberarme entsprechend Segment C7 und ein schmerzhaftes Lumbalsyndrom, rechts mehr als links, mit Gefühlsstörung im Bereich des linken Vorfußes und auch eine muskuläre Bewegungseinschränkung im selben Bereich, vor. Insgesamt handle es sich bei der Beschwerdeführerin um eine schwere seelisch-körperliche Gesundheitsstörung, die zum Teil mit dem Verkehrsunfall im Jahre 1993 zu tun habe, da es damals zum Beginn der depressiven Phasen gekommen sei und auch damals im Wesentlichen das Cervikal- und auch das Lumbalsymptom aufgetreten seien. Es bestehe bei der Untersuchten daher im neuropsychiatrischen Bereich eine Behinderung, die bereits über den festgestellten 20 Prozentpunkten liege.

Unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin abgegebenen Stellungnahmen und des von ihr vorgelegten neuropsychiatrischen Fachgutachtens ergänzte der neuropsychiatrische Amtssachverständige - ohne die Beschwerdeführerin zu untersuchen - sein Gutachten am 22. Mai 2001 im Wesentlichen wie folgt:

"Die relevante Anamnese (Zustand nach Verkehrsunfall 1993 mit daraus resultierenden Beschwerden) wurde im VGA, Dr. H. ho. vom 18. 09. 2000 voll inhaltlich berücksichtigt. Hinsichtlich der im Gutachten Dr. L. vom 22. 03. 2001 erwähnten psychiatrischen Symptome ist zu bemerken, dass diese zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung am 13. 09. 2000 nicht vorhanden waren (siehe Abschnitt 'Psychiatrischer Status'). Die Beziehungsunfähigkeit mit einer nachfolgenden Ehescheidung ist für die Beurteilung des Ausmaßes des Grades der Behinderung nach § 7 KOVG nicht relevant.

Im Abschnitt 'Psychiatrischer Befund' des Gutachtens Dr. L. vom 22. 3. 2001 wird eine affektiv ängstliche depressiv gespannte konzentrationsgestörte Patientin beschrieben. Zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung Dr. H. ho. am 13. 09. 2000 wurde eine wache, allseits orientierte, im Duktus kohärente Klientin ohne Konzentrationsstörungen angetroffen, im Affekt war damals eine Ausgeglichenheit zu beobachten, lediglich der Antrieb imponierte mäßig gesteigert. Eine relevante depressive Symptomatik, wie im Gutachten von Dr. L. angegeben, lag am 13. 09. 2000 somit nicht vor.

Hierzu ist fachärztlicherseits nochmals festzustellen, dass bei der Klientin im Rahmen des VGA Dr. H. ho. vom 18. 09.2000 keine psychischen Veränderungen festgestellt wurden, welche für den Grad der Behinderung als einstufungswürdig zu bezeichnen wären. Die von Herrn Dr. L. angegebenen Beschwerden wie Herzklopfen, Verspannungen der Wirbelsäule, vegetative Erschöpfung, Engegefühl im Brustbereich, Störung der Konzentrationsfähigkeit sowie eine Vitatitätsstörung auf allen Ebenen waren zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung am 13. 09. 2000 nicht vorhanden. Eine 'depressive Anamnese' kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, eine Erwähnung derselben ist dem behandelnden FA für Psychiatrie zuzubilligen.

Die 'radikuläre Schmerzsymptomatik, entsprechend den Segmenten C7' ist nicht nachvollziehbar, im besonderen ist die Angabe, dass die Segmente C7 den Oberarmabschnitten entsprechen würden, anatomisch nicht korrekt. Die Gefühlsstörungen im linken Vorfuß konnten bei der Gutachtenserstellung am 13. 09. 2000 nicht festgestellt werden, die suszipierten Bewegungseinschränkungen wurden keinem organneurologischen Substrat zugeordnet, eine Affektion des linken Sprunggelenkes wurde damals suszipiert.

Zusammenfassend ergibt sich somit auch unter Berücksichtigung der nunmehr vorliegenden Befunde keine Abänderung der Ergebnisse des Gutachtens vom 18. 09.2000."

In ihrer Stellungnahme vom 10. Juli 2001 bekämpfte die Beschwerdeführerin die Richtigkeit dieses ergänzenden neuropsychiatrischen Gutachtens insbesondere mit dem Hinweis, dass ihr Gesundheitszustand zum jetzigen Zeitpunkt "quasi per Ferndiagnose festgestellt" werde, obwohl sich dieser immer mehr verschlechtert habe.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde die Berufung der Beschwerdeführerin gemäß § 66 Abs. 4 AVG als unbegründet abgewiesen und festgestellt, dass die Beschwerdeführerin "auf Grund ihres Grades der Behinderung (GdB) von 20 v. H. den in § 2 Abs. 1 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) genannten Behinderten nicht zuzuzählen ist". Der Grad der Behinderung sei im Gutachten des Gesundheitsamtes der Stadt Wien vom 22. September 2000, das als schlüssig erkannt und in freier Beweiswürdigung dem Bescheid zugrundegelegt werde, mit 20 v. H. ab 30. November 1999 eingeschätzt worden. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 BEinstG seien daher nicht erfüllt.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragt in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Die Beschwerdeführerin replizierte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 2 Abs. 1 erster Satz Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) sind begünstigte Behinderte im Sinne dieses Bundesgesetzes österreichische Staatsbürger mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 v. H.

Gemäß § 3 BEinstG (idF BGBl. I Nr. 17/1999) ist Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustand beruht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

Gemäß § 14 Abs. 2 BEinstG (idF BGBl. I Nr. 17/1999) hat, wenn ein Nachweis im Sinne des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag des Behinderten das örtlich zuständige Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen den Grad der Behinderung einzuschätzen und bei Zutreffen der im § 2 Abs. 1 angeführten sonstigen Voraussetzungen die Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (§ 2) sowie den Grad der Behinderung (Abs. 3) festzustellen. Hinsichtlich der ärztlichen Sachverständigen ist § 90 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, anzuwenden.

Gemäß § 14 Abs. 3 BEinstG ist der Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen ermächtigt, nach Anhörung des Bundesbehindertenbeirates gemäß § 8 Bundesbehindertengesetz - BBG durch Verordnung nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung festzulegen. Diese Bestimmungen haben die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen auf das allgemeine Erwerbsleben zu berücksichtigen und auf den Stand der medizinischen Wissenschaft Bedacht zu nehmen.

Gemäß § 19 Abs. 1 BEinstG finden auf das Verfahren, soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt, die Vorschriften des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes 1991 Anwendung.

Nach der Übergangsbestimmung des § 27 Abs. 1 BEinstG sind bis zum Inkrafttreten der Verordnung gemäß § 14 Abs. 3 für die Einschätzung des Grades der Behinderung die Vorschriften der §§ 7 und 9 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 v. H. außer Betracht zu lassen sind, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht.

Da eine Verordnung gemäß § 14 Abs. 3 BEinstG noch nicht erlassen wurde, hat die von der Beschwerdeführerin beantragte Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß den Bestimmungen der §§ 2 und 14 auf Grund der gemäß § 7 Abs. 2 des Kriegsopferversorungsgesetzes 1957 ergangenen Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 9. Juni 1965, BGBl. Nr. 150, über die Richtsätze für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach den Vorschriften des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 und die in der Anlage zu dieser Verordnung genannten Richtsätze zu erfolgen.

In dieser Verordnung wird u. a. angeordnet:

"§ 1. (1) Die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 ist nach den Richtsätzen einzuschätzen, die nach Art und Schwere des Leidenszustandes in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage festgelegt sind. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Leiden, für die Richtsätze nicht festgesetzt sind, ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit unter Bedachtnahme auf die Richtsätze für solche Leiden einzuschätzen, die in ihrer Art und Intensität eine zumindest annähernd gleiche körperliche Beeinträchtigung in Hinsicht auf das allgemeine Erwerbsleben bewirken.

§ 3. Treffen mehrere Leiden zusammen, dann ist bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht. Sodann ist zu prüfen, ob und inwieweit der durch die Gesamteinschätzung zu erfassende Gesamtleidenszustand infolge des Zusammenwirkens aller gemäß § 4 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigt. Fällt die Einschätzung der durch ein Leiden bewirkten Minderung der Erwerbsfähigkeit in mehrere Fachgebiete der ärztlichen Wissenschaft, ist sinngemäß in gleicher Weise zu verfahren.

…"

Die Gesamtbeurteilung mehrerer regelwidriger körperlicher, geistiger oder psychischer Zustände im Sinne des § 3 BEinstG hat demnach nicht im Wege einer Addition der aus den Richtsatzpositionen (bzw. der durch die Sachverständigen aus den jeweiligen Fachgebieten der ärztlichen Wissenschaft gemäß § 1 Abs. 2 der vorzitierten Richtsatzverordnung erfolgten Einschätzungen) sich ergebenden Hundertsätze der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erfolgen, sondern nach den Grundsätzen des § 3 dieser Richtsatzverordnung. Nach dieser Bestimmung ist, wenn mehrere Leiden zusammentreffen, bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht. Sodann ist zu prüfen, ob und inwieweit der durch die Gesamteinschätzung zu erfassende Gesamtleidenszustand infolge des Zusammenwirkens aller gemäß § 4 Kriegsopferversorgungsgesetz 1957 zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen (siehe das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2001, Zl. 2000/11/0191).

Die Beschwerdeführerin rügt, dass die belangte Behörde die bei ihr vorliegende reaktive Depression nicht hinreichend berücksichtigt habe. Hätte die belangte Behörde diesbezüglich den Sachverhalt vollständig ermittelt, wäre sie zur Feststellung gelangt, dass der Grad der Behinderung bei der Beschwerdeführerin mindestens 50 v. H. betrage und die Beschwerdeführerin dem Kreis der begünstigen Personen angehöre.

Bei der Beurteilung des der Einschätzung des Grades der Behinderung zu Grunde zu legenden Leidens der Beschwerdeführerin war für die belangte Behörde die im Zeitpunkt ihrer Entscheidung geltende Sachlage maßgebend (siehe die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), Seiten 1294 ff, insbes. E 289, referierte hg. Rechtsprechung); im Zuge des Berufungsverfahrens (allenfalls) eingetretene Änderungen des Leidenszustandes waren daher von der belangten Behörde ihrer rechtlichen Beurteilung zu Grunde zu legen (zur Vorgangsweise im Falle feststellbarer Entwicklungen des Leidenszustandes und des Bestehens schwankender Leidenszustände unter Berücksichtigung des im § 3 BEinstG geforderten Beobachtungszeitraumes siehe das hg. Erkenntnis vom 24. Juni 1997, Zl. 95/08/0072).

Die Beschwerdeführerin hat im Berufungsverfahren unter Bezugnahme auf das von ihr beigebrachte neuropsychiatrische Fachgutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. vom 22. März 2001 eine Verschlechterung ihres "Gesamt-Gesundheitszustandes" behauptet. In dem genannten Gutachten wird darauf hingewiesen, dass es im November 2000 bei der Beschwerdeführerin zu einer weiteren Verschlechterung der depressiven Symptomatik mit Selbstmordphantasien gekommen sei. Dieser Gutachter ging zum Zeitpunkt der Erstellung seines Gutachtens (22. März 2001) von einer Behinderung der Beschwerdeführerin "im neuro-psychiatrischen Bereich" von über 20 % aus.

Der von der belangten Behörde als Amtssachverständiger beigezogene Facharzt für Neurologie und Psychiatrie hat in seinem ergänzenden neuropsychiatrischen Gutachten vom 16. Mai 2001 - ohne die Beschwerdeführerin neuerlich zu untersuchen - zum Gegengutachten mehrfach festgehalten, dass die darin erwähnten psychiatrischen Symptome zum Zeitpunkt der Erstattung seines Gutachtens am 13. September 2000 nicht vorgelegen seien. Ob der vom Gegengutachter festgestellte (ab November 2000 als bestehend angenommene) Leidenszustand der Beschwerdeführerin entscheidungsrelevant von dem im Gutachten des Amtssachverständigen festgestellten abweicht und bejahendenfalls einem Richtsatz der Richtsatzverordnung zugeordnet werden kann bzw. gemäß § 1 Abs. 2 dieser Verordnung einem solchen Richtsatz entspricht, wird darin aber nicht erörtert (und wäre mangels neuerlicher Untersuchung der Beschwerdeführerin wohl auch nicht möglich gewesen).

Ungeachtet der Tatsache, dass sich die belangte Behörde in der Begründung ihres Bescheides mit dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Gegengutachten nicht ausdrücklich auseinander gesetzt hat, durfte sie daher im Hinblick auf die von ihr im Zeitpunkt ihrer Entscheidung zu beurteilende Sachlage die vorliegenden Gutachten der Amtssachverständigen ihrer Entscheidung nicht zu Grunde legen, solange - was auf Grund der Aktenlage nicht ausgeschlossen werden kann - nicht feststand, ob sich der Leidenszustand der Beschwerdeführerin - wie von ihr behauptet - tatsächlich seit November 2000 verschlechtert hat und trotz einer allenfalls festgestellten Verschlechterung keine Änderung der Einschätzung des Grades der Behinderung eingetreten ist bzw. nur eine solche eingetreten ist, die nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 BEinstG erfüllt.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher durch Einholung von (ergänzenden) Gutachten aus den erforderlichen Fachgebieten der ärztlichen Wissenschaft zu klären sein, ob die von der Beschwerdeführerin behauptete Verschlechterung ihres Leidenszustandes eingetreten ist und bejahendenfalls ob und seit welchem Zeitpunkt damit eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 BEinstG verbunden ist.

Schon aus diesem Grund belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am 26. November 2002

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