VwGH 2000/11/0226

VwGH2000/11/022623.1.2001

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Graf, Dr. Gall, Dr. Pallitsch und Dr. Schick als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Lenhart, über die Beschwerde der Dr. S in W, vertreten durch Dr. Reinhard Neureiter, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Reichsratsstraße 15, gegen den Bescheid des (im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof durch Braunegg, Hoffmann & Partner, Rechtsanwälte in 1013 Wien, Gonzagagasse 9, vertretenen) Beschwerdeausschusses des Wohlfahrtsfonds der Ärztekammer für Wien vom 15. Juni 2000, Zl. B 36/00, betreffend Invaliditätsversorgung, zu Recht erkannt:

Normen

ÄrzteG 1998 §100 Abs1;
ÄrzteG 1998 §100 Abs2;
ÄrzteG 1998 §18 Abs1;
AVG §37;
ÄrzteG 1998 §100 Abs1;
ÄrzteG 1998 §100 Abs2;
ÄrzteG 1998 §18 Abs1;
AVG §37;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Ärztekammer für Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Fachärztin für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, unterzog sich am 12. Jänner 2000 beim Vertrauensarzt des Wohlfahrtsfonds der Ärztekammer für Wien Dr. D. einer Untersuchung. Das schriftliche Gutachten Dris. D. vom 12. Jänner 2000 hat folgenden Inhalt:

"Frau Dr. M. leidet seit ca. einem Jahr an rezidivierenden Gelenksproblemen, welche besonders die Schultergelenke betreffen. Erstmalig traten die Beschwerden im Bereich der linken Schulter auf. Sie hatte besonders Beschwerden beim Lagewechsel des Armes. Die Röntgenuntersuchung erbrachte eine Insertionstendinose und eine Bursitis calcarea subdeltoidea.

Ein MR-Befund bestätigte dies, dort zeigte sich zusätzlich eine interstitielle Ödembildung im Bereich des M.infraspinatus. Eine damals vorgeschlagene Operation vom Neurochirurgen (Prof. Dr. W.) wurde abgelehnt. Auf eine physikalische Therapie sowie Laserbestrahlung - Besserung der Beschwerden.

Im Frühjahr 1999 Auftreten von Beschwerden im Bereich der rechten Schulter. Diese Untersuchung erbrachte eine supraspinatus Tendinitis mit perintendinösen Verquellungen im Sinne einer Periarthropathia humeroscapularis non calzificans. Auf medikamentöse (Voltaren) sowie physikalische Therapie, Besserung der Symptomatik.

Am 05.09.1999 Verkehrsunfall, Auffahrunfall (sie ist während der Fahrt eingeschlafen und gegen einen Baum geprallt). Ein Peitschenschlagtrauma, Comotio Cerebri sowie eine Absplitterung im Bereich des linken Carpus. Die anschließend durchgeführten Untersuchungen und Befunde liegen bei.

Seit dieser Zeit hat sie eine subjektive Kraftminderung in der linken Hand. Durch die Komplexität der Beschwerden im Bereich beider Schultern mit Insertionstendopathien Halswirbelsäulenbeschwerden, welche nach dem Peitschenhiebtrauma auftraten sowie der Kraftminderung der linken Hand (Patient ist Rechtshänderin) sieht sie sich nicht mehr in der Lage weiter zu arbeiten.

Sie ist nicht mehr Willens mit diesen Schmerzen zu arbeiten, da sie ständig die Schulter und die Halswirbelsäule belasten muss, und sie sieht weiters nicht ein, dass sie ständig Schmerzmittel nehmen soll, um ihre Ordination führen zu können. Eine im Dezember 1999 durchgeführte neurologische Begutachtung wegen angeblicher Tremors im Bereich der Hände nach der Comotio Cerebri wird als organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirntrauma gewertet und fraglicher vertebrobasilärer posttraumatischer Insuffienz. Ein beginnendes Parkinson-Syndrom kann nicht bestätigt aber auch nicht ausgeschlossen werden. Vom neurologischen Standpunkt (Frau Prof. Dr. M.) ist sie nicht arbeitsfähig.

Bei der Vorstellung, im Rahmen einer grobneurologischen Untersuchung, kein Tremor feststellbar."

Mit Schreiben vom 14. Jänner 2000 beantragte die Beschwerdeführerin die Zuerkennung der Invaliditätsversorgung wegen dauernder Berufsunfähigkeit ab 1. April 2000. Sie führte aus, sie sei infolge dauernder Schmerzen im Nacken und gesamten Schulterbereich nicht mehr in der Lage, ihre zahnärztliche Tätigkeit auszuüben.

Mit Bescheid vom 1. März 2000 wies der Verwaltungsausschuss des Wohlfahrtsfonds der Ärztekammer für Wien diesen Antrag ab. In der Begründung dieses Bescheides wurde nach Hinweis auf § 100 Abs. 1 ÄrzteG 1998 und § 18 Abs. 1 der Satzung des Wohlfahrtsfonds der Ärztekammer für Wien sowie auf die Stellungnahme des Vertrauensarztes ausgeführt, sowohl bei der Insertionstendinose als auch bei der Bursitis calcarea subdeltoidea und der Periarthropathia handle es sich um Erkrankungen, die zweifelsohne behandelbar seien. Auch der Zustand aufgrund eines bei einem Verkehrsunfall erlittenen Schleudertraumas sei grundsätzlich besserungsfähig, sodass nicht zu erkennen sei, weshalb die Beschwerdeführerin zur Ausübung ihres Berufes nicht mehr fähig sein sollte. Der im Dezember 1999 festgestellte Tremor sei bei der am 12. Jänner 2000 vorgenommenen Untersuchung durch den Vertrauensarzt nicht mehr feststellbar gewesen.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an die belangte Behörde, in der sie darauf hinwies, dass sie seit 8. März 2000 wegen eines vegetativen Erschöpfungszustandes in eine näher bezeichnete Krankenanstalt aufgenommen worden sei. Die im erstinstanzlichen Bescheid erwähnte Behandelbarkeit ihrer Krankheiten sei zwar richtig, doch sei damit nichts über die Wiederherstellung gesagt. Außerdem sei ihre näher umschriebene Spondylarthrose außer Acht gelassen worden, die beträchtliche Beschwerden verursache. Ihre linke Hand sei nicht voll einsetzbar. Die Feinmotorik sei schmerzhaft gestört und die Kraft vermindert. Die Untersuchung durch den Vertrauensarzt des Wohlfahrtsfonds sei oberflächlich gewesen.

Dieser Beschwerde an die belangte Behörde lag ein nervenfachärztliches Gutachten des Univ. Prof. Dr. D. (ohne Datum) bei, das zum Ergebnis kommt, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer komplexen chronifizierten neuropsychiatrischen Störung und ihres Alters vom neuropsychiatrischen Standpunkt aus für die weitere Berufsausübung als Zahnärztin nicht mehr geeignet sei.

Mit Eingabe vom 25. April 2000 legte die Beschwerdeführerin eine Mitteilung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Landesstelle Wien, vom 18. April 2000 vor, nach deren Inhalt die Beschwerdeführerin im Sinne des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes (GSVG) erwerbsunfähig ist, sowie mehrere von dieser Sozialversicherungsanstalt eingeholte Befunde.

Ohne ein Ermittlungsverfahren dazu durchzuführen, wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid die an sie gerichtete Beschwerde ab und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid.

In der Begründung des angefochtenen Bescheides führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die im erstinstanzlichen Bescheid angeführten Erkrankungen seien behandelbar. Was die von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft in dem von ihr geführten Verfahren eingeholten Befunde betreffe, sei festzustellen, dass kein einziger dieser Befunde im Kalkül das Vorliegen der dauernden Berufsunfähigkeit ergebe. Die Annahme der Erwerbsunfähigkeit durch die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft binde die belangte Behörde nicht. Aus den Befunden ergebe sich vielmehr, dass eine dauernde Berufsunfähigkeit nicht vorliege.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde weist darauf hin, dass das in der Beschwerde gestellte Begehren, den angefochtenen und den erstinstanzlichen Bescheid aufzuheben und auszusprechen, dass der Beschwerdeführerin die dauernde Invaliditätsversorgung zustehe, verfehlt sei. Es trifft zwar zu, dass dieses Begehren, das der Sache nach die Abänderung des angefochtenen Bescheides in stattgebendem Sinne anstrebt, im Hinblick auf die aus § 42 Abs. 2 VwGG sich ergebende (bloß) kassatorische Entscheidungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes bei Bescheidbeschwerden verfehlt ist, doch führt dies nicht zur Zurückweisung der Beschwerde, weil im Falle der Stattgebung der Beschwerde ohnedies nur die Aufhebung des angefochtenen Bescheides in Frage kommt, weshalb einem verfehlten Antrag wie dem vorliegenden keine entscheidende prozessuale Bedeutung zukommt, wenn die Beschwerde sonst frei von Mängeln ist (siehe dazu u.a. das hg. Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 20. Oktober 1971, Slg. Nr. 4.293/F, und das hg. Erkenntnis vom 12. April 1984, Slg. Nr. 5.886/F).

Gemäß § 100 Abs. 1 ÄrzteG 1998 ist Invaliditätsversorgung zu gewähren, wenn der Kammerangehörige infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen zur Ausübung des ärztlichen Berufes dauernd oder vorübergehend unfähig ist. Der Verwaltungsausschuss ist berechtigt, zur Feststellung der Voraussetzungen eine vertrauensärztliche Untersuchung anzuordnen.

Gemäß § 100 Abs. 2 leg. cit. liegt vorübergehende Berufsunfähigkeit vor, wenn diese nach begründeter medizinischer Voraussicht in absehbarer Zeit zu beheben ist.

Gemäß § 18 Abs. 1 der Satzung des Wohlfahrtsfonds der Ärztekammer für Wien ist die Invaliditätsversorgung bei Eintritt des Ereignungsfalles der dauernden oder vorübergehenden Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beurteilung der Berufsunfähigkeit setzt - abgesehen von Fällen der Offenkundigkeit - in der Regel auf ärztlichen Sachverständigengutachten beruhende Sachverhaltsfeststellungen der Behörde über die körperlichen und geistigen Gebrechen des Kammerangehörigen und die davon ausgehenden Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes voraus.

Derartige Sachverhaltsfeststellungen enthält der angefochtene Bescheid nicht. Der Umstand, dass bestimmte im erstinstanzlichen Bescheid genannte Erkrankungen behandelbar sind, lässt keine Beurteilung zu, ob und wie lange die Beschwerdeführerin aufgrund dieser Erkrankungen zur Ausübung des ärztlichen Berufes unfähig ist. Dazu enthält auch das von der Erstbehörde eingeholte Gutachten des Vertrauensarztes keine Aussagen.

Dazu kommt, dass sich die belangte Behörde mit den im Zuge des bei ihr geführten Beschwerdeverfahrens vorgelegten Unterlagen nicht in ausreichender Weise auseinandergesetzt hat. Es ist zwar richtig, dass die Beurteilung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft betreffend die Erwerbsunfähigkeit für das von der belangten Behörde zu führende Verfahren keine bindende Wirkung hat, doch wäre die belangte Behörde aufgrund der ihr vorliegenden Mitteilung der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft und der von dieser Sozialversicherungsanstalt eingeholten Befunde gehalten gewesen zu begründen, warum die Beschwerdeführerin trotz Erwerbsunfähigkeit im Sinne des GSVG zur Ausübung des ärztlichen Berufes fähig oder aus welchem Grund die Annahme der Erwerbsunfähigkeit durch die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft unrichtig sein soll. Die belangte Behörde hätte darüber hinaus begründen müssen, warum sie das ihr vorliegende nervenfachärztliche Gutachten des Univ. Prof. Dr. D. für unrichtig oder unbeachtlich hält.

Aus den dargelegten Erwägungen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren von 20 % Umsatzsteuer (aus dem für Schriftsatzaufwand verzeichneten Betrag von S 12.500,--) war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer in den Pauschalbeträgen nach der zitierten Verordnung bereits enthalten ist.

Wien, am 23. Jänner 2001

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