VfGH G372/2015

VfGHG372/20157.10.2015

Zurückweisung eines Parteiantrags auf Aufhebung von Bestimmungen des VerbandsverantwortlichkeitsG mangels Vorliegens einer entschiedenen Rechtssache

Normen

B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
VerbandsverantwortlichkeitsG §3 Abs2
StPO §212
VfGG §62a Abs1
B-VG Art140 Abs1 Z1 litd
VerbandsverantwortlichkeitsG §3 Abs2
StPO §212
VfGG §62a Abs1

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

1.1. Die Staatsanwaltschaft Wien stellte mit Anklageschrift vom 11. Dezember 2014 einen Antrag auf Verhängung einer Verbandsgeldbuße gemäß §3 Abs1 Z2, Abs2 iVm §4 Abs1, Abs3, dritter Spiegelstrich Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (im Folgenden: VbVG) iVm §28a Abs1 Finanzstrafgesetz (im Folgenden: FinStrG) über die Antragstellerin, und zwar mit der Begründung, dass zwei handelsrechtliche Geschäftsführer der Antragstellerin als für die steuerrechtlichen Belange Verantwortliche in einem bestimmten Zeitraum die in §119 BAO normierte Offenlegungs- und Wahrheitspflicht verletzt hätten, indem sie vorsätzlich durch Abgabe unrichtiger Jahressteuererklärungen zur Körperschaftssteuer das Einkommen der Antragstellerin zu niedrig dargestellt und somit eine Verkürzung bescheidmäßig festzusetzender Abgaben in Höhe von insgesamt € 3.429.380,50 bewirkt hätten. Die beiden Angeklagten wurden mit Urteil vom 3. Oktober 2014 (noch nicht rechtskräftig) zu jeweils zwei Jahren Freiheitsstrafe gemäß §153 Abs2 2. Fall StGB sowie zu einer Geldstrafe von € 800.000,– gemäß §33 Abs5 FinStrG, für den Fall der Uneinbringlichkeit zur einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten, verurteilt.

1.2. Die Antragstellerin erhob am 2. Jänner 2015 gegen die Anklageschrift Einspruch an das Oberlandesgericht Wien und beantragte, dem Einspruch gemäß §215 Abs2 StPO Folge zu geben und das Verfahren gegen die Antragstellerin einzustellen sowie vor seiner Entscheidung über diesen Einspruch gemäß Art89 Abs2 B‑VG beim Verfassungsgerichtshof den Antrag zu stellen, §3 Abs2 VbVG wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben.

1.3. Mit Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 1. Juni 2015 wurde der Einspruch abgewiesen und damit die Anklageschrift gegenüber der Antragstellerin rechtswirksam. Das Oberlandesgericht Wien hegte keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bestimmungen des VbVG.

1.4. Mit Schriftsatz vom 29. Juli 2015 stellte die Antragstellerin einen Antrag gemäß §363a Abs1 StPO an den Obersten Gerichtshof. Der Oberste Gerichtshof möge das bisherige Verfahren erneuern, indem der Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 1. Juni 2015 aufgehoben und diesem aufgetragen werde, auf Grund der aufgezeigten Bedenken gegen die Verfassungskonformität des §3 Abs2 VbVG eine Antragstellung nach Art89 Abs2 zweiter Satz B‑VG an den Verfassungsgerichtshof vorzunehmen.

2. Mit Schriftsatz vom selben Tag stellte die Antragstellerin beim Verfassungsgerichtshof unter Anschluss einer Ausfertigung des Erneuerungsantrages gemäß §363a StPO, des Beschlusses des Oberlandesgerichtes Wien vom 1. Juni 2015 und des Einspruches vom 2. Jänner 2015 gegen die Anklageschrift den vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG gestützten Antrag, §3 Abs2 VbVG, BGBl I 151/2005 idF BGBl I 11/2007, zur Gänze als verfassungswidrig aufzuheben sowie die im Spruch genannten Eventualanträge.

2.1. Die Antragstellerin werde durch die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien in ihren subjektiven Rechten verletzt, nämlich im Anspruch auf Unterbleiben der Anklageerhebung, wenn die gesetzlich normierten Voraussetzungen nicht gegeben seien. Die angefochtenen Bestimmungen seien vom Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung über den Einspruch der Antragstellerin angewendet worden.

2.2. Würde der Verfassungsgerichtshof dem Antrag auf Normenprüfung Folge geben, dann wären die genannten Bestimmungen vom Obersten Gerichtshof nicht mehr anzuwenden, dieser müsste dem Erneuerungsantrag stattgeben und die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien aufheben. Da die Antragstellerin gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 1. Juni 2015 mit Schriftsatz vom selben Tag einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß §§363a ff. StPO eingebracht habe, erfolge die Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof zudem auch aus Anlass der Erhebung eines der Partei zustehenden Rechtsmittels.

3. Zu §3 Abs2 VbVG wird im Antrag vorgebracht, dass diese Bestimmung gegen das "verfassungsrechtlich abgesicherte strafrechtliche Schuldprinzip", gegen die "Unschuldsvermutung gemäß Art6 Abs2 EMRK" sowie gegen den Grundsatz "nulla poena sine lege gemäß Art7 EMRK" verstoße.

4. Gemäß dem mit BGBl I 114/2013 in das B‑VG eingefügten, mit 1. Jänner 2015 in Kraft getretenen Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen "auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels".

§62a Abs1 VfGG idF BGBl I 92/2014 ordnet an, dass "eine Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache rechtzeitig ein zulässiges Rechtsmittel erhebt und wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, […] gleichzeitig einen Antrag stellen [kann], das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben".

5. Der Antrag ist nicht zulässig, weil mit der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien über einen Einspruch gegen die Anklageschrift gemäß §212 StPO keine "in erster Instanz entschiedene Rechtssache" im Sinne des Art140 Abs1 Z1 litd B‑VG bzw. §62a Abs1 VfGG vorliegt:

5.1. Dem Abänderungsantrag AA-336 BlgNR 24. GP , 3 zum Bericht des Verfassungsausschusses (AB 2380 BlgNR 24. GP ) zur nachmaligen B‑VG-Novelle, mit der der Parteiantrag auf Normenkontrolle eingeführt wurde (abgedruckt in StenProtNR 24. GP, 207. Sitzung, 130 ff.), ist zu entnehmen, dass erstinstanzliche Entscheidungen nur solche eines ordentlichen Gerichtes "in der Sache" sein sollen. Entscheidungen in einem Provisiorialverfahren und in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren würden nicht hinreichen.

5.2. Auch nach den Erläuterungen zur RV zu §62a VfGG, 263 BlgNR 25. GP , 3, sei

"[e]in eigener Ausnahmetatbestand für das strafprozessuale Ermittlungsverfahren [...] ungeachtet seines besonderen Charakters nicht erforderlich. Dass im strafprozessualen Ermittlungsverfahren ein Parteiantrag auf Normenkontrolle jedenfalls unzulässig ist, ergibt sich schon aus der Bezugnahme der Art139 Abs1 Z4 und 140 Abs1 Z1 litd B‑VG auf 'eine von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache' und dem Umstand, dass in Strafsachen eine mit einem ordentlichen Rechtsmittel anfechtbare gerichtliche Entscheidung in der Sache jedenfalls erst nach Einbringung der Anklage erfolgen [könne]."

Angesichts der mit der Einführung des Parteiantrages angestrebten Erweiterung (bzw. Komplettierung) des Rechtsschutzes gegen die Verletzung in Rechten wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen greift eine solche, durch die Materialien nahegelegte einschränkende Auslegung des Begriffs der "erstinstanzlichen Entscheidung" im Zusammenhang mit dem strafprozessualen Ermittlungsverfahren nicht in jeder Hinsicht, vor allem nicht in Fällen, in denen der betreffende Ermittlungsakt nicht (mehr) durch Rechtsmittel gegen das auf Grund einer Anklage im Hauptverfahren ergehende (kondemnierende) Urteil angefochten werden kann (VfGH 3.7.2015, G46/2015). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor: Durch die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien über die Zulässigkeit der Anklage wird nicht endgültig über eine Rechtssache abgesprochen, sondern lediglich das Ermittlungsverfahren abgeschlossen und damit der Weg für eine Hauptverhandlung und die nachfolgende gerichtliche Entscheidung bereitet. Alle im Strafverfahren maßgeblichen Rechtsfragen, so auch Fragen der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Strafnormen, können sowohl in der Hauptverhandlung als auch noch im Rechtsmittelverfahren gegen das erstinstanzliche Urteil (und aus diesem Anlass dann auch mit Parteiantrag gemäß Art140 Abs 1 Z1 litd B‑VG) geltend gemacht werden.

6. Der antragstellenden Partei fehlt es daher mangels Vorliegens einer entschiedenen Rechtssache an der Antragslegitimation, weshalb der Antrag schon aus diesem Grund zurückzuweisen ist.

7. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

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