Normen
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
FinStrG §203
StPO §§198 ff
StGG Art2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2018:G241.2017
Spruch:
Der Antrag wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesgericht Klagenfurt die Wortfolgen "nach §§198 bis 209 StPO und" sowie "vorbehaltlich der Sonderbestimmungen für Jugendstrafsachen (§24)" in §203 des Bundesgesetzes vom 26. Juni 1958, betreffend das Finanzstrafrecht und das Finanzstrafverfahrensrecht (Finanzstrafgesetz — FinStrG), BGBl 129 idF BGBl I 163/2015, in eventu die Wortfolge "nach §§198 bis 209 StPO und" in §203 FinStrG, in eventu §203 FinStrG zur Gänze als verfassungswidrig aufzuheben. Es wendet sich damit der Sache nach gegen den Ausschluss der Diversion im gerichtlichen Finanzstrafrecht.
II. Rechtslage
1. §203 wurde mit dem Abgabenänderungsgesetz 2015, BGBl I 163, in das FinStrG eingefügt und lautet wie folgt (die im Hauptantrag angefochtenen Wortfolgen sind hervorgehoben):
"Ein Vorgehen nach §§198 bis 209 StPO und nach §19 VbVG ist in Finanzstrafsachen vorbehaltlich der Sonderbestimmungen für Jugendstrafsachen (§24) nicht zulässig."
Die angefochtenen Wortfolgen verweisen auf die Bestimmungen der Strafprozeßordnung 1975 (StPO), die den Rücktritt von der Verfolgung (Diversion) im gerichtlichen Strafrecht regeln. §198 StPO idF BGBl I 121/2016 enthält die allgemeinen Voraussetzungen für den Rücktritt von der Verfolgung durch den Staatsanwalt, §199 StPO idF BGBl I 121/2016 regelt die sinngemäße Anwendung der Diversionsbestimmungen durch das Gericht.
§198 StPO und §199 StPO lauten wie folgt:
"§198. (1) Die Staatsanwaltschaft hat nach diesem Hauptstück vorzugehen und von Verfolgung einer Straftat zurückzutreten, wenn auf Grund hinreichend geklärten Sachverhalts feststeht, dass eine Einstellung des Verfahrens nach den §§190 bis 192 nicht in Betracht kommt, eine Bestrafung jedoch im Hinblick auf
1. die Zahlung eines Geldbetrages (§200) oder
2. die Erbringung gemeinnütziger Leistungen (§201) oder
3. die Bestimmung einer Probezeit, in Verbindung mit Bewährungshilfe und der Erfüllung von Pflichten (§203), oder
4. einen Tatausgleich (§204)
nicht geboten erscheint, um den Beschuldigten von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken.
(2) Ein Vorgehen nach diesem Hauptstück ist jedoch nur zulässig, wenn
1. die Tat nicht mit mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist,
2. die Schuld des Beschuldigten nicht als schwer (§32 StGB) anzusehen wäre und
3. die Tat nicht den Tod eines Menschen zur Folge gehabt hat, es sei denn, dass ein Angehöriger des Beschuldigten fahrlässig getötet worden ist und eine Bestrafung im Hinblick auf die durch den Tod des Angehörigen beim Beschuldigten verursachte schwere psychische Belastung nicht geboten erscheint.
(3) Nach diesem Hauptstück darf im Fall des Missbrauchs der Amtsgewalt nach §302 Abs1 StGB nur vorgegangen werden, soweit der Beschuldigte durch die Tat keine oder eine bloß geringfügige oder sonst unbedeutende Schädigung an Rechten herbeigeführt hat und die Tat nicht auch nach §§304 oder 307 StGB mit Strafe bedroht ist. Im Übrigen ist ein Vorgehen nach diesem Hauptstück ausgeschlossen, soweit es sich um eine im Zehnten Abschnitt des Besonderen Teils des StGB geregelte strafbare Handlung handelt, die mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht ist.
§199. Nach Einbringen der Anklage wegen Begehung einer strafbaren Handlung, die von Amts wegen zu verfolgen ist, hat das Gericht die für die Staatsanwaltschaft geltenden Bestimmungen der §§198, 200 bis 209b sinngemäß anzuwenden und das Verfahren unter den für die Staatsanwaltschaft geltenden Voraussetzungen bis zum Schluss der Hauptverhandlung mit Beschluss einzustellen."
In den §§200 bis 204 StPO werden die vier diversionellen Erledigungsarten, nämlich die Zahlung eines Geldbetrages, die Erbringung gemeinnütziger Leistungen, die Bestimmung einer Probezeit und der Tatausgleich geregelt. Die restlichen Bestimmungen der StPO, auf die §203 FinStrG verweist (§§205 bis 209 StPO), sehen die nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens, die Opfer- und Beschuldigtenrechte und gemeinsame Bestimmungen für Staatsanwaltschaft und Gericht bei diversionellem Vorgehen vor.
2. Mit §19 Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG), BGBl I 151/2005 idF BGBl I 112/2007, verweist §203 FinStrG auf den Rücktritt von der Verfolgung von Verbänden.
III. Antragsvorbringen und Äußerung der Bundesregierung
1. Das Landesgericht Klagenfurt stellte den Antrag aus Anlass einer bei ihm eingebrachten Anklageschrift, in der der Angeklagten u.a. das Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach §33 Abs1 und 2 lita und b FinStrG als Tatbeteiligte nach der dritten Alternative des §11 FinStrG zur Last gelegt wird. Nach Ansicht des antragstellenden Gerichtes lägen in diesem Fall die Voraussetzungen für einen Rücktritt von der Verfolgung nach §§198 bis 209 StPO vor; das Finanzstrafverfahren gegen die Angeklagte wäre einzustellen, gäbe es den angefochtenen §203 FinStrG nicht.
2. Als Bedenken gegen diese Bestimmung bringt das antragstellende Gericht vor, dass der angefochtene Ausschluss der Diversion in gerichtlichen Finanzstrafverfahren gegen Art7 B‑VG bzw. Art2 StGG verstoße, weil er zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von gerichtlichen Finanzstrafsachen gegenüber sonstigen Strafsachen führe.
2.1. Einer sachlichen Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung bedürfe es nach Ansicht des Gerichtes, weil das gerichtliche Finanzstrafverfahren "grundlegend" ein allgemeines Strafverfahren sei, in dem lediglich verfahrensrechtliche Sonderbestimmungen des FinStrG anzuwenden seien. Dies zeige bereits die Systematik des FinStrG, das für gerichtliche Finanzvergehen "grundlegend" die Geltung der Strafprozeßordnung 1975 anordne (vgl. §195 Abs1 FinStrG) und lediglich im dritten Unterabschnitt einige Sonderbestimmungen, wie eben §203 FinStrG, enthalte.
2.2. Aber selbst wenn das gerichtliche Finanzstrafrecht und das allgemeine Strafrecht kein gemeinsames Ordnungssystem bildeten, sondern verschiedene Ordnungssysteme, bedürfe der generelle Ausschluss der Diversion im gerichtlichen Finanzstrafrecht einer sachlichen Rechtfertigung, weil die Diversion einen über einzelne Verfahrenssysteme hinausgehenden Grundsatz im österreichischen Strafrecht bilde. Das gerichtliche Finanzstrafverfahren sei nämlich das einzige strafgerichtliche Verfahren, in dem die Diversion ausgeschlossen sei, wie ein Vergleich etwa mit §§35, 37 SMG, §41 Abs1 MedienG und §§1, 3 MilStrG zeige.
2.3. In jedem Fall fehle es an einer sachlichen Rechtfertigung für den generellen Ausschluss der Diversion in gerichtlichen Finanzstrafsachen. Gerichtliche Finanzvergehen wiesen keinen höheren Unrechtsgehalt als sonstige gerichtliche Straftaten auf und seien mit manchen Straftaten des StGB durchaus vergleichbar. Dazu führt das antragstellende Gericht aus:
"Der vorrangige Zweck des Finanzstrafrechts ist der strafrechtliche Schutz des vollständigen und rechtzeitigen Steueraufkommens, wobei das geschützte Rechtsgut der Besteuerungsanspruch des Staats ist […]. Bei sonstigen Straftaten (etwa nach dem Strafgesetzbuch) steht der Schutz unterschiedlicher Rechtsgüter als Zweck im Vordergrund, wobei dazu auch Ansprüche des Staats zählen, wie etwa bei Förderungsmissbrauch (§153b StGB), Vorenthalten von Dienstnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung (§153c StGB), Betrügerisches Anmelden zur Sozialversicherung oder Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse (§153d StGB), oder auch Missbrauch der Amtsgewalt (§302 StGB). Dabei darf nicht übersehen werden, dass das Strafgesetzbuch auch strafbare Handlungen festlegt, die zwar nicht vorrangig den Zweck haben, die Ansprüche des Staats zu schützen, jedoch trotzdem auch Ansprüche des Staats schützen, wie der Staat etwa Opfer einer Untreue (§153 StGB) sein kann. Indem sonstige strafbare Handlungen des Strafgesetzbuchs auch Ansprüche des Staats oder mittelbar bestehendes Vermögen des Staats schützen, sind diese sonstigen strafbaren Handlungen hinsichtlich ihres Unrechtsgehalts mit Finanzvergehen jedenfalls vergleichbar. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs darf daher Finanzstraftaten kein an sich höherer Unrechtsgehalt als sonstigen (der Diversion zugänglichen) Straftaten unterstellt werden […]. Die Möglichkeit einer Diversion bei Finanzstraftaten würde keinesfalls bedeuten, dass der Staat auf den Schutz öffentlicher Ansprüche verzichtet, weil die Diversion keine Entkriminalisierung im Sinne eines Verzichts auf den Rechtsgüterschutz bezweckt. Der Gesetzgeber hat sich bereits zu einer generellen Diversion im Erwachsenenstrafrecht bekannt (§198 StPO), weshalb die Anwendung dieser Reaktion nicht durch den Ausschluss spezifischer Deliktskategorien — wie Finanzvergehen (§203 FinStrG) — eingegrenzt werden darf […].
Der Gesetzgeber rechtfertigt den Ausschluss der Diversion in Finanzstrafsachen vermeintlich damit, dass 'für die Sanktionierung von Finanzvergehen — im Unterschied zu den Strafdrohungen des StGB — die Geldstrafe im Vordergrund steht und (nur) zusätzlich eine Freiheitsstrafe zu verhängen ist. Damit erscheint das Abstellen der Diversionszulässigkeit (bloß) auf die Freiheitsstrafdrohung für den Bereich des Finanzstrafrechtes nicht sachgerecht.' (EBRV AbgÄG 2015, 896 BIgNR 25. GP 31). Der Gesetzgeber übersieht dabei zunächst, dass auch im allgemeinen Strafverfahren vorrangig nicht die Freiheitsstrafe anzuwenden ist, sondern nur unter Beachtung von spezial- und generalpräventiven Gründen als das letzte mögliche Mittel (ultima ratio); das nicht nur im Bereich der Bagatellkriminalität, sondern auch im Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität (§37 StGB […]). Bei der Sanktionierung von sonstigen Straftaten steht also keineswegs — im vermeintlichen Unterschied zu Finanzstraftaten — die Freiheitsstrafe im Vordergrund. Der Gesetzgeber erweckt zudem mit dieser Begründung den Anschein, die Geldstrafe wäre eine geringere Sanktion als eine diversionelle Maßnahme. Die Diversion ist jedoch die dritte Spur des österreichischen Sanktionenrechts und im Gegensatz zu einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe gerade keine Strafe, weshalb eine diversionelle Maßnahme kein größeres Übel als eine Geldstrafe ist."
2.4. Abschließend weist das antragstellende Gericht darauf hin, dass der Fall der Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe wegen Uneinbringlichkeit der Geldstrafe meist bei Verkürzung eines Abgabenanspruchs gegenüber einem anderen Steuerpflichtigen als dem Täter eintrete, weshalb gerade bei untergeordneter Beitragstäterschaft mit nicht schwerer Schuld ein diversionelles Vorgehen angezeigt wäre, um die persönlichen Verhältnisse des Täters und seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit entsprechend zu berücksichtigen. Diese Möglichkeit bestehe im Hinblick auf den Strafrahmen des §33 Abs5 FinStrG, die verpflichtende Mindestbemessung der Geldstrafe und der begrenzten Möglichkeit der bedingten Nachsicht der Geldstrafe (§23 Abs4, §26 Abs1 FinStrG) derzeit nicht.
3. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie den Bedenken des antragstellenden Gerichtes entgegentritt.
3.1. Der Auffassung des antragstellenden Gerichtes, dass das Finanzstrafrecht "grundlegend" ein allgemeines Strafrecht sei und daher ein einheitliches Ordnungssystem vorliege, hält sie entgegen, dass es sich um jeweils unterschiedliche Ordnungssysteme handle, die von vornherein einen Vergleich ausschließen würden. Dazu führt sie wörtlich aus:
"Die (gerichtliche) Ahndung von Finanzvergehen erfolgt in einem weitgehend eigenständigen Regelungssystem und ist mit den Regelungen des allgemeinen Strafrechts nicht in jedem Punkt vergleichbar […]. Zwar verweist das Finanzstrafgesetz in §195 Abs1 FinStrG hinsichtlich des Verfahrens auf die StPO, trifft jedoch in seinem dritten Unterabschnitt nicht unwesentliche Modifizierungen, die den Besonderheiten der Verfolgung von Finanzvergehen Rechnung tragen. Dass der verfahrensrechtliche Teil des FinStrG in Teilen auf die Regelungen der StPO verweist und diese somit in das System des Gesetzes einbezieht, ändert daher nichts an der Eigenständigkeit der Regelung des Verfahrensablaufs durch das FinStrG selbst und an der Schaffung eines eigenen Regelungssystems. Sämtliche Bausteine, die für eine Strafbarkeit, aber auch für die Verfahrensführung erforderlich sind, finden sich im FinStrG; es stellt ein eigenes (Ordnungs-)System dar, das einen Vergleich der darin enthaltenen Bestimmungen mit anderen Rechtsgebieten bzw. anderen Gesetzen ausschließt […]."
3.2. Auch bilde die Diversion keinen Grundsatz im österreichischen Strafrecht, der den Gesetzgeber dazu verpflichte, bestimmte über einzelne Verfahrenssysteme hinausgehende Verfahrensbereiche sachlich gleich zu behandeln. Insbesondere sei die Diversion kein "die gesamte Strafrechtsordnung durchdringendes, in der österreichischen Strafrechtstradition tiefverwurzeltes" Grundprinzip (vgl. dazu VfSlg 11.865/1988), sondern im Gegenteil ein noch relativ junges Rechtsinstitut. Auch das SMG, das MedienG und das MilStrG würden nur Sonderbestimmungen zum StGB bzw. zur StPO vorsehen und keine eigenständige Strafrechtssystematik bilden. Zudem sei eine diversionelle Erledigung gerade keine Sanktion, sondern eine alternative Reaktionsform, die in keinen Vergleich zu dem sonstigen Sanktionensystem zu setzen sei.
3.3. Den (sonstigen) Sachlichkeitsbedenken, die das antragstellende Gericht durch den Vergleich der Delikte im StGB mit jenen des gerichtlichen FinStrG vorbringt, hält die Bundesregierung entgegen:
"Für Finanzvergehen, die auf betrügerische Weise oder durch Täuschung begangen worden sind, ist ausschließlich das Finanzstrafrecht anzuwenden (§22 Abs2 FinStrG). Dies führt dazu, dass die Bestimmung §146 StGB (Betrug) für Finanzvergehen nicht anzuwenden ist. Für den schweren Betrug mit einem 5 000 Euro übersteigenden Schaden ist in §147 StGB eine primäre Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorgesehen. Wer durch die Tat einen Schaden mit mehr als 300 000 Euro herbeiführt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren zu bestrafen (§147 Abs3 StGB). Demgegenüber ist eine Abgabenhinterziehung gemäß §33 FinStrG mit einer Schadenssumme in der genannten Höhe nur mit Geldstrafe bis zum Zweifachen des Verkürzungsbetrages zu ahnden, wobei bei einem Schadensbetrag ab 100 000 Euro nur unter besonderen Voraussetzungen eine zusätzliche Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren festgesetzt werden kann.
Die Gegenüberstellung zeigt, dass das StGB für Vermögensdelikte mit einem Schadensbetrag, der dem gerichtszuständigkeitsbegründenden Betrag im FinStrG entspricht, primär Freiheitsstrafdrohungen vorsieht, während das FinStrG – abgesehen von besonders schwer qualifizierten Tatbeständen – in erster Linie Geldstrafdrohungen kennt, die durch die Gerichte nur bei besonderem Präventionsbedürfnis gemäß §15 FinStrG durch Freiheitsstrafen ergänzt werden dürfen. Weiters ist auch die Rechtsgutverletzung unterschiedlich: so wird durch den Tatbestand des Betruges ganz allgemein das Rechtsgut 'Vermögen' geschützt, hingegen bei der Abgabenhinterziehung speziell das Rechtsgut des Anspruchs aus der Besteuerungshoheit. Der Grad der Verwerflichkeit bzw. der Unrechtsgehalt der Straftaten kann dabei nur in der jeweiligen Strafordnung aufgezeigt werden. Dies gilt auch für Verfolgungsrücktritte, Verjährungsbestimmungen etc. Ein Vergleich der verschiedenen Strafsysteme ist somit nicht angebracht.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das FinStrG insbesondere mit der Selbstanzeige (§29 FinStrG) bereits im Vorfeld bzw. zu Beginn des Strafverfahrens eine umfassende und weitreichende Möglichkeit vorsieht, einer Strafbarkeit und einem Strafverfahren gänzlich zu entgehen. Diese Möglichkeit bietet sich in dieser Ausprägung nur im Finanzstrafverfahren und ist in Hinblick auf ihre Reichweite nicht mit der Regelung der Tätigen Reue nach §167 StGB vergleichbar. Auch dieser Blickwinkel rechtfertigt eine andere Vorgehensweise des Gesetzgebers in Hinblick auf die Diversion.
Darüber hinaus erscheint es zweifelhaft, ob im Hinblick auf das Täterverhalten und die Höhe des Schadens von über 100 000 Euro die Voraussetzungen für einen Rücktritt der Verfolgung (Diversion) vorliegen können, da mit dem Diversionsgedanken die Einbeziehung des Opfers (hier des Staates) und dessen berechtigtem Interesse einer Schadensgutmachung eng verbunden ist […].
Wenn das antragstellende Gericht darüber hinaus vermeint, der Ausschluss der Diversion sei auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil §23 Abs4 FinStrG zudem eine Mindeststrafe normiert, so ist zu entgegnen:
Nach §23 Abs4 erster Satz FinStrG ist eine Mindeststrafe, die zwar nicht durch einen absoluten Betrag, sondern durch eine Verhältnisgröße bestimmt wird, vorgesehen. Diese Mindeststrafe verfolgt den kriminalpolitischen Zweck einer effektiven, abschreckenden und sachgerechten Sanktionierung und ist mit einem Zehntel der angedrohten Geldstrafe in Relation zum Schadensbetrag (Verkürzungsbetrag) nicht unverhältnismäßig oder unsachlich ausgestaltet. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Mindeststrafe im Sanktionensystem für das gerichtliche Finanzstrafverfahren (anders als im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren) im Zusammenspiel mit der Möglichkeit einer bedingten Strafnachsicht steht. Die Grundlage dafür findet sich in der Bestimmung des §26 Abs1 FinStrG. Demnach dürfen Geldstrafen im gerichtlichen Finanzstrafverfahren bis höchstens zur Hälfte bedingt nachgesehen werden (§26 Abs1 FinStrG). Der nicht bedingt nachgesehene Teil der Geldstrafe muss jedoch mindestens 10 % des strafbestimmenden Wertbetrages betragen. Dies erschien dem Gesetzgeber im Hinblick auf das Gefährdungspotential gerechtfertigt und notwendig, um ein normgemäßes Verhalten durchsetzen zu können."
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw. des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
Es ist nichts hervorgekommen, was an der Präjudizialität der angefochtenen Gesetzesbestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Hauptantrag als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B‑VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.2. Der Antrag ist nicht begründet.
2.2.1. Das antragstellende Gericht hegt das Bedenken, dass §203 FinStrG durch den Ausschluss einer diversionellen Erledigung gemäß den §§198 ff. StPO in gerichtlichen Finanzstrafsachen gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art7 Abs1 B‑VG bzw. Art2 StGG verstoße.
2.2.2. Der Gleichheitsgrundsatz bindet den Gesetzgeber (s. etwa VfSlg 13.327/1993, 16.407/2001) als er ihm insofern inhaltliche Schranken setzt, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (vgl. zB VfSlg 14.039/1995, 16.407/2001). Innerhalb dieser Schranken ist es dem Gesetzgeber jedoch von Verfassungs wegen durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen (s. etwa VfSlg 16.176/2001, 16.504/2002). Diese Schranken sind im vorliegenden Fall nicht überschritten. Ob eine Regelung zweckmäßig ist und das Ergebnis in allen Fällen als befriedigend empfunden wird, kann nicht mit dem Maß des Gleichheitssatzes gemessen werden (zB VfSlg 14.301/1995, 15.980/2000 und 16.814/2003).
2.2.3. §203 wurde mit dem Abgabenänderungsgesetz 2015 (BGBl I 163) in das FinStrG eingefügt und trat zugleich mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2015 (BGBl I 112) am 1. Jänner 2016 in Kraft. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2015 wurde in §198 StPO die Grenze für ein diversionelles Vorgehen neu festgelegt. Waren davor nur Straftaten diversionsfähig, die nicht in die Zuständigkeit der Schöffen- und Geschworenengerichte fielen (s. §198 StPO idF BGBl I 195/2013), womit ein diversionelles Vorgehen im gerichtlichen Finanzstrafrecht wegen der dortigen Zuständigkeit des Schöffengerichtes (§196a FinStrG) ausgeschlossen war, wurde mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2015 ein diversionelles Vorgehen bei Straftaten mit einer Strafdrohung von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe ermöglicht. Da nach §195 FinStrG die Bestimmungen der StPO im Verfahren wegen gerichtlich strafbarer Finanzvergehen gelten, soweit das FinStrG keine eigenen Regelungen vorsieht, wäre durch die neue Diversionsgrenze in der StPO eine diversionelle Erledigung in fast allen gerichtlichen Finanzstrafverfahren (außer wegen schweren Abgabenbetrugs nach §39 Abs3 litc FinStrG) offen gestanden. Mit §203 FinStrG hat der Gesetzgeber die Diversionsmöglichkeit für gerichtliche Finanzstrafvergehen – unter Beibehaltung der Sonderregelung für Jugendstrafsachen (vgl. §24 Abs1 FinStrG) – weiterhin ausgeschlossen.
2.2.4. Dem Vorbringen des antragstellenden Gerichtes, dass der angefochtene Ausschluss der Diversion im gerichtlichen Finanzstrafrecht zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Finanzstrafsachen gegenüber den allgemeinen gerichtlichen Strafsachen führe, ist entgegenzuhalten, dass das Finanzstrafrecht, das durch spezifische Deliktstypen den Besteuerungsanspruch des Staates schützt und für die Strafrahmenbemessung am Verkürzungsbetrag anknüpft, ein eigenständiges Ordnungssystem bildet und deshalb mit dem gerichtlichen Strafrecht nicht in Vergleich zu setzen ist.
Dass der Gesetzgeber für das Verfahren wegen gerichtlich strafbarer Finanzdelikte auf die Bestimmungen der StPO verweist, steht dem – entgegen dem Vorbringen des antragstellenden Gerichtes – nicht entgegen, weil er durch die §§196a bis 245 FinStrG den Besonderheiten des finanzstrafgerichtlichen Verfahrens Rechnung trägt und insofern auch für das gerichtliche Finanzstrafverfahren ein eigenständiges Verfahrenssystem geschaffen hat.
2.2.5. Dem Gesetzgeber – so auch dem Finanzstrafgesetzgeber – kommt sohin ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu (vgl. VfSlg 19.831/2013 mwN), den er hier in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise genützt hat. Dem Vorbringen des antragstellenden Gerichtes, dass die Diversion einen "Grundsatz" im österreichischen Strafrecht bilde, der den Gesetzgeber dazu verpflichte, diese ins gerichtliche Finanzstrafrecht aufzunehmen, ist zu entgegnen, dass weder das Rechtsstaatsprinzip eine derartige Aufnahme gebietet noch sonst ein verfassungsrechtlicher Grund dafür ersichtlich ist.
2.2.6. Der Finanzstrafgesetzgeber ist demnach nicht gehalten, die diversionelle Erledigung von Straftaten im gerichtlichen Finanzstrafrecht vorzusehen. Der angefochtene Ausschluss der Diversion im FinStrG verstößt somit nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz.
V. Ergebnis
1. Die ob der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Wortfolgen "nach §§198 bis 209 StPO und" sowie "vorbehaltlich der Sonderbestimmungen für Jugendstrafsachen (§24)" in §203 FinStrG erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Der Antrag ist daher abzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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