VfGH G134/98,G237/98

VfGHG134/98,G237/98G134/98,G237/989.12.1998

Keine sachliche Rechtfertigung der Einschränkung von Nachbarrechten im Baubewilligungsverfahren bei Erforderlichkeit auch eines gewerberechtlichen Betriebsanlagengenehmigungsverfahrens; Verwaltungsökonomie, wirtschaftlicher Druck im gewerberechtlichen Verfahren und Vermeidung von Doppelgeleisigkeiten keine ausreichenden Rechtfertigungsgründe

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
Nö BauO §118 Abs9
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
Nö BauO §118 Abs9

 

Spruch:

1. §118 Abs9 letzter Satz der Niederösterreichischen Bauordnung 1976, LGBl. 8200-14, war verfassungswidrig.

2. Die verfassungswidrige Bestimmung ist auch in dem beim Verwaltungsgerichtshof zu Zl. 96/05/0020 anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden.

3. Der Landeshauptmann von Niederösterreich ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1364/96 eine Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrundeliegt:

Mit Bescheid vom 27. November 1995 erteilte der Bürgermeister der Gemeinde Kirchstetten der S-OHG, die u.a. einen Schlachthof betreibt, die Baubewilligung zur Errichtung einer betrieblichen Abwasservorreinigungsanlage samt Kanalleitungen auf als Bauland-Betriebsgebiet gewidmeten Grundstücken und wies die Einwendungen des Anrainers und nunmehrigen Beschwerdeführers, dessen Grundstück als Grünland-Parkanlage gewidmet und vom Grundstück der Bauwerberin nur durch ein Gewässer getrennt ist, unter Hinweis auf Sachverständigengutachten betreffend Geruchseinwirkungen und Lärmbelästigungen ab. Die vom Anrainer erhobene Berufung wies der Gemeinderat der Gemeinde Kirchstetten mit Bescheid vom 2. Jänner 1996 ab.

Mit Bescheid vom 1. Juli 1996 wies die Niederösterreichische Landesregierung die vom Anrainer erhobene Vorstellung ab und verwies in der Begründung auf den letzten Satz des §118 Abs9 der Niederösterreichischen Bauordnung 1976, LGBl. 8200-0 idF LGBl. 8200-14 (im folgenden: NÖ BauO 1976), wonach subjektiv-öffentliche Rechte des Anrainers bei Bauvorhaben, die außer der baubehördlichen auch einer gewerbebehördlichen Bewilligung bedürfen, nur durch die Bestimmung gemäß Z4 (Bebauungsweise, Bebauungshöhe und Abstände der Fluchtlinien zur Erzielung einer ausreichenden Belichtung) begründet werden. Das eingeschränkte Mitspracherecht bewirke, daß Anrainer allfällige Verfahrensmängel nur insoweit mit Erfolg geltend machen könnten, als sie dadurch in der Verfolgung ihrer subjektiv-öffentlichen Anrainerrechte beeinträchtigt würden. Somit gehe die Rüge mangelhafter Sachverständigengutachten mangels Bezug zu einem von der NÖ BauO 1976 zuerkannten Nachbarrecht ins Leere.

2. Aus Anlaß dieser Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof am 16. Juni 1998 gemäß Art140 Abs1 B-VG beschlossen, die Verfassungsmäßigkeit des §118 Abs9 letzter Satz der Niederösterreichischen Bauordnung 1976, LGBl. 8200-14, von Amts wegen zu prüfen.

2.1. Diese Bestimmung steht in folgendem rechtlichen Zusammenhang:

§118 Abs9 Niederösterreichische Bauordnung 1976 lautete in der Stammfassung, LGBl. 8200-0:

"Subjektiv-öffentliche Rechte der Anrainer werden durch jene Vorschriften begründet, welche nicht nur den öffentlichen Interessen dienen, sondern im Hinblick auf die räumliche Nähe auch dem Anrainer. Hiezu gehören insbesondere die Bestimmungen über

1. den Brandschutz;

2. den Schutz vor anderen Gefahren, die sich auf die Anrainergrundstücke ausdehnen können;

3. die sanitären Rücksichten wegen ihres Einflusses auf die Umgebung;

4. die Bebauungsweise, die Bebauungshöhe und die Abstände der Fluchtlinien zur Erzielung einer ausreichenden Beleuchtung."

Durch Z7 der Novelle zur Niederösterreichischen Bauordnung 1976, LGBl. 8200-12, die am 22. September 1994 in Kraft getreten ist, wurde dem §118 Abs9 folgender Satz angefügt (der bis zum Inkrafttreten der Niederösterreichischen Bauordnung 1996, LGBl. 8200-0, unverändert in Geltung stand):

"Wenn ein Bauvorhaben außer der baubehördlichen auch einer gewerbebehördlichen Bewilligung bedarf, werden subjektive öffentliche Rechte nur durch die Bestimmung gemäß Ziffer 4 begründet."

Diese Änderung basiert auf einem Initiativantrag der Abgeordneten Böhm u.a. vom 9. Juni 1994, der neben der genannten Änderung des §118 Abs9 auch einen (ebenfalls Gesetz gewordenen) Vorschlag auf Einfügung eines Abs4 in den §99 leg. cit. mit der Verpflichtung enthielt, auf Antrag des Bewilligungswerbers die Bauverhandlung gleichzeitig mit der Verhandlung nach der Gewerbeordnung durchzuführen.

Dieser Antrag ist wie folgt begründet:

"Die Vollziehung der NÖ Bauordnung fällt in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden. Der Bürgermeister ist Baubehörde erster Instanz. Diesem obliegt die Durchführung eines Bauverfahrens. Im Rahmen des Bauverfahrens ist zwingend die Durchführung eines Lokalaugenscheines (einer Bauverhandlung) vorgesehen. Im Rahmen der Bauverhandlung ist das Bauprojekt zu prüfen und dem Antragsteller sowie den übrigen Parteien des Verfahrens Gelegenheit zur Erhebung ihrer Einwendungen zu geben.

Für die Errichtung einer gewerb(ebehördlichen) Betriebsanlage ist die Bewilligung der Gewerbebehörde erforderlich. Die Gewerbeordnung wird in mittelbarer Bundesverwaltung vollzogen. Die Gewerbebehörde erster Instanz ist die Bezirksverwaltungsbehörde. Von dieser ist im Rahmen des Bewilligungsverfahrens ebenfalls ein Lokalaugenschein abzuhalten. Im Zuge der Verhandlung ist dem Antragsteller und den anderen Parteien des Verfahrens Gelegenheit zu geben, ihre Einwendungen vorzubringen.

Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, daß für gewerb (ebehördliche) Betriebsanlagen sowohl eine baubehördliche Bewilligung, als auch eine gewerbebehördliche Bewilligung erforderlich ist. Von beiden Behörden sind Verfahren unter Abhaltung eines Lokalaugenscheines durchzuführen. Dies führt häufig dazu, daß der idente Personenkreis für ein Vorhaben zu zwei verschiedenen Verhandlungen erscheinen muß, um seine Interessen zu wahren. Dies erfordert oftmals einen beträchtlichen Mehraufwand an Zeit. §99 Abs3 sieht die Möglichkeit vor, daß nach Möglichkeit die Bauverhandlung gleichzeitig mit anderen Verhandlungen nach anderen Rechtsvorschriften durchzuführen ist. Diese Bestimmung hat sich jedoch als zu schwach erwiesen, um eine echte Verhandlungskonzentration zu erreichen. Es erscheint daher zweckmäßig, die gemeinsame Verhandlungsführung in jenen Fällen zwingend anzuordnen, in denen eine Bauverhandlung und eine Verhandlung nach den gewerberechtlichen Vorschriften über Betriebsanlagen erforderlich ist. Die gemeinsame Verhandlung soll dann abgehalten werden, wenn dies der Bewilligungswerber beantragt. Dies deswegen, da Fälle denkbar sind, daß ein Bewilligungswerber um die gewerberechtliche Bewilligung erst zu einem späteren Zeitpunkt ansucht.

Durch die gleichzeitige Abhaltung der Verhandlung wird es den Parteien des Verfahrens ermöglicht, ihre Einwendungen vorzubringen. Die Einwendungen sollen in erster Linie im gewerbebehördlichen Verfahren vorgebracht werden. Nur jener Bereich, der im gewerbebehördlichen Verfahren nicht zu behandeln ist, da es sich um spezielle subjektive Rechte aus der Bauordnung handelt, soll im Bauverfahren behandelt werden. Insofern führt eine Einschränkung der Parteistellung im Bauverfahren auf jene subjektiven öffentlichen Interessen, die nicht auch im gewerbebehördlichen Verfahren geltend gemacht werden können, zu keiner Beeinträchtigung von Parteiinteressen.

Mit der gleichzeitigen Abhaltung der Bauverhandlung und der gewerberechtlichen Verhandlung werden sowohl die Interessen der Antragsteller als auch der übrigen Parteien gewahrt, wobei eine wesentliche Beschleunigung des Verfahrens zu erwarten ist."

Am 1. Jänner 1997 trat die NÖ BauO 1996, LGBl. 8200-0, in Kraft. Gemäß §78 Abs3 leg. cit. trat die NÖ BauO 1976 mit dem Inkrafttreten der NÖ BauO 1996 außer Kraft.

2.2. In seinem Einleitungsbeschluß ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, daß die Beschwerde zulässig ist und er bei seiner Entscheidung darüber §118 Abs9 letzter Satz der NÖ BauO 1976, LGBl. 8200-14, anzuwenden hätte.

Seine Bedenken legte er wie folgt dar:

"Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, daß - abgesehen von Einzelfällen wie Art119a Abs9 B-VG - keine Verfassungsnorm besteht, die Parteirechte in einem Verfahren überhaupt oder in einem bestimmten Umfang garantiert. Den Umfang der Parteirechte in einem Verwaltungsverfahren bestimmt der einfache Gesetzgeber. Das die Parteirechte bestimmende Gesetz könnte allerdings aus einem anderen Grund, etwa wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot, verfassungswidrig sein (VfSlg. 6664/1972, 6808/1972, 8279/1978). Im Erkenntnis VfSlg. 10844/1986 hat der Verfassungsgerichtshof zu §7 Abs1 Z1 lita des Salzburger Baupolizeigesetzes überdies ausgeführt, er vermöge keine Verfassungsbestimmung zu finden, nach der es dem Gesetzgeber verwehrt wäre, die Parteistellung für Nachbarn im Baubewilligungsverfahren, in dem es (bloß) auf die Wahrung baurechtlicher Interessen - nicht aber sonstigen, in anderen, insbesondere im gewerberechtlichen Verfahren zu wahrenden Belange - ankommt, auf Personen zu beschränken, bei denen nach einer Durchschnittsbetrachtung der typischerweise vom Bauwerk selbst ausgehenden Gefahren durch eine Bauführung Nachbarinteressen betroffen werden.

Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Vorjudikatur stets im Einzelfall geprüft, ob die Differenzierung der Parteirechte einerseits in bezug auf die Regelung wesentlich und andererseits im Hinblick auf die im jeweiligen Verwaltungsverfahren zu berücksichtigenden Interessen durch Unterschiede im Tatsächlichen begründet ist.

Der Verfassungsgerichtshof geht zunächst davon aus, daß es sachlich gerechtfertigt ist, dem Nachbarn im Bauverfahren ein durchsetzbares Mitspracherecht nur dort einzuräumen, wo seine durch die raumordnungsrechtlichen und baurechtlichen Bestimmungen geschützte Rechtssphäre bei Verwirklichung des Bauvorhabens beeinträchtigt werden könnte, d.h. dem Nachbarn ein Mitspracherecht nur hinsichtlich der Einhaltung jener raumordnungsrechtlichen und baurechtlichen Bestimmungen einzuräumen, die nicht nur dem öffentlichen, sondern auch dem besonderen Interesse der Nachbarschaft dienen.

Die Begründung des Initiativantrages geht einerseits davon aus, daß bei der Bewilligung einer gewerblichen Betriebsanlage eine konzentrierte Verhandlung stattfindet, bei der die Nachbarn ihre Einwendungen vorbringen könnten. Andererseits solle über Einwendungen (gemeint waren wohl in erster Linie Einwendungen betreffend die Gefährdung und Belästigung der Nachbarn gemäß §74 Abs2 Z1 und 2 der Gewerbeordnung) im gewerbebehördlichen Verfahren abgesprochen werden. Nur jener Bereich, der im gewerbebehördlichen Verfahren nicht zu behandeln sei (spezielle subjektive Rechte aus der Bauordnung), solle im Bauverfahren entschieden werden.

An sich bestehen gegen eine Regelung, die mehrfache Entscheidungen von Behörden über weitgehend identische Einwendungen vermeidet und die Parteistellung im Bauverfahren auf jene subjektiven öffentlichen Interessen einschränkt, die nicht auch im gewerbebehördlichen Verfahren geltend gemacht werden können, keine Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz.

Die Regelung des §118 Abs9 letzter Satz NÖ BauO 1976 scheint jedoch diesem Grundsatz nicht gerecht zu werden.

Gemäß §118 Abs9 leg. cit. werden subjektiv-öffentliche Anrainerrechte durch jene Vorschriften begründet, welche nicht nur dem öffentlichen Interesse dienen, sondern im Hinblick auf die räumliche Nähe auch dem Anrainer. Hiezu gehören gemäß §118 Abs9 Z2 und 3 ua. leg. cit. insbesondere die Bestimmungen über den 'Schutz vor anderen Gefahren, die sich auf die Anrainergrundstücke ausdehnen können' und 'die sanitären Rücksichten wegen ihres Einflusses auf die Umgebung'.

Aus der Zusammenschau dieser Bestimmungen hat die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes geschlossen, daß der Nachbar zwar nicht schlechthin ein subjektiv-öffentliches Recht auf Einhaltung der in den Flächenwidmungsplänen festgelegten einzelnen Widmungs- und Nutzungsarten besitze, ihm aber wohl dann, wenn diese einen Immissionsschutz gewährleisteten, ein solches Recht zukomme (VwSlg. 11.418 A/1984).

Die Beschränkung des Mitspracherechtes des Nachbarn auf die Geltendmachung der im §118 Abs9 Z4 leg. cit. angeführten Bestimmungen scheint dem Nachbarn einerseits die Möglichkeit zu nehmen, im Bauverfahren über eine gewerbliche Betriebsanlage, also in einem Bereich, in dem der nachbarrechtliche Schutz eine besondere Bedeutung hat, einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan, beispielsweise hinsichtlich der Immissionslage, geltend zu machen.

Andererseits scheint die Geltendmachung eines derartigen Widerspruches zum Flächenwidmungsplan im gewerbebehördlichen Verfahren nicht zum Erfolg führen zu können, weil ein solcher Widerspruch mangels Anwendbarkeit der raumordnungsrechtlichen Vorschriften im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren (gemäß §§74 ff Gewerbeordnung) nicht zur Versagung der Bewilligung führt.

Es scheint also eine sachliche Rechtfertigung dafür zu fehlen, daß der Nachbar einer gewerblichen Betriebsanlage - im Gegensatz zum Anrainer einer Anlage, die keiner gewerbebehördlichen Bewilligung bedarf - den durch den Flächenwidmungsplan gewährleisteten Immissionsschutz nicht geltend machen kann."

3. Die Niederösterreichische Landesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie den vorläufigen Annahmen des Verfassungsgerichtshofes nicht entgegentritt. Den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes hält die Niederösterreichische Landesregierung folgende Argumente entgegen:

"Die NÖ Landesregierung räumt ein, daß durch die genannte Bestimmung eine derartige Differenzierung vorgenommen wird. Diese Differenzierung ist aber nach Ansicht der NÖ Landesregierung aus folgenden Gründen sachlich gerechtfertigt:

... Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg. 13743 ausgeführt, daß der Gleichheitsgrundsatz dem Gesetzgeber insofern verfassungsrechtliche Schranken setzt, als er ihm verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (s. zB. VfSlg. 11369/1987 mwH). Dem einfachen Gesetzgeber ist es jedoch durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen im Rahmen vertretbarer Zielsetzungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verwirklichen (s. z.B. VfSlg. 7973/1976 mbH).

Durch Ziffer 7 der Novelle zur Niederösterreichischen Bauordnung 1976, LGBl. 8200-12, die am 22. September 1994 in Kraft getreten ist, wurde dem §118 Abs9 der NÖ Bauordnung 1976 die nunmehr in Prüfung stehende Regelung angefügt. Diese Änderung basierte auf einem Initiativantrag einzelner Abgeordneter des NÖ Landtages. In dieser Antragsbegründung wurde unter anderem nachfolgendes ausgeführt:

'Mit der gleichzeitigen Abhaltung der Bauverhandlung und der gewerberechtlichen Verhandlung werden sowohl die Interessen der Antragsteller als auch der übrigen Parteien gewahrt, wobei eine wesentliche Beschleunigung des Verfahrens zu erwarten ist.'

Daraus kann nach Ansicht der NÖ Landesregierung abgeleitet werden, daß wirtschaftspolitische Gesichtspunkte eine wesentliche Überlegung bei der Schaffung der verfahrensgegenständlichen Regelung gebildet haben.

Nach Ansicht der NÖ Landesregierung ist es zulässig, in einem gewissen Rahmen die gewerbliche Wirtschaft und Industrie gegenüber nichtgewerblichen Anlagenbetreibern zu privilegieren. Diese Privilegierung ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt, daß auf Personen, die eine gewerbliche Betriebsanlage errichten wollen, oft ein besonderer wirtschaftlicher Druck lastet, der eine rasche Abwicklung der notwendigen Bewilligungsverfahren erfordert, sachlich gerechtfertigt.

... Der Verfassungsgerichtshof führt in seinem Beschluß vom 20. August 1998 aus, daß an sich gegen eine Regelung, die mehrfache Entscheidungen von Behörden über weitgehend identische Einwendungen vermeidet und die Parteistellung im Bauverfahren auf jene subjektiven öffentlichen Interessen einschränkt, die nicht auch in gewerbebehördlichen Verfahren geltend gemacht werden können, keine Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz bestehen.

...

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg. 11469 folgendes ausgeführt:

'Der Gleichheitsgrundsatz verbietet es - wie der VfGH wiederholt festgestellt hat (vgl. VfSlg. 4289/1962, 8457/1978, 8871/1980) - dem Gesetzgeber nicht, bei der Normsetzung zu generalisieren, von einer auf dem Modellfall (Regelfall) abstellenden Durchschnittsbetrachtung auszugehen und bei seinen Regelungen zu typisieren. Dabei können im besonderen auch Erfordernisse der Verwaltungsökonomie motivierend zum Tragen kommen (vgl. z.B. VfSlg. 8204/1977, 8875/1980).'

§14 Abs2 des NÖ Raumordnungsgesetzes 1976, LGBl. 8000-12, macht dem Gemeinderat als Verordnungsgeber bei der Erlassung des Flächenwidmungsplanes u.a. folgende Vorgaben:

Flächen mit einer besonderen Eignung als Standorte für industrielle oder gewerbliche Betriebsstätten sind, soweit nicht andere Ziele Vorrang haben, für diese Nutzung sicherzustellen (Z. 3).

Wohnbauland und Sondergebiete mit besonderem Schutzbedürfnis dürfen nur außerhalb von Störungseinflüssen angeordnet werden (Z. 9).

Bei der Festlegung von Widmungs- und Nutzungsart ist auf strukturelle und kulturelle Gegebenheiten sowie das Orts- und Landschaftsbild, insbesondere in historisch oder künstlerisch wertvollen Bereichen Bedacht zu nehmen (Z. 14).

Werden diese Bestimmungen bei der Erlassung der Flächenwidmungspläne beachtet, so kann es kaum dazu kommen, daß für ein Gebiet, in dem bereits immissionsträchtige Betriebe bestehen, eine Widmung festgelegt wird, welche vorrangig Wohnnutzungen erlaubt.

Aus den dargelegten Grundsätzen ergibt sich, daß durch die Schaffung der verfahrensgegenständlichen Bestimmung des §118 Abs9 letzter Satz der NÖ Bauordnung 1976 ein Abbau von Doppelgleisigkeiten beabsichtigt war. Dieser Zweck wurde, insbesondere auch aufgrund der zitierten raumordnungsrechtlichen Situation in der Praxis, abgesehen von Einzelfällen, im wesentlichen erreicht.

Die Tatsache, daß der Nachbar einer gewerblichen Betriebsanlage - im Gegensatz zum Anrainer einer Anlage, die keiner gewerbebehördlichen Bewilligung bedarf - den ihm durch de(n) Flächenwidmungsplan gewährleisteten Immissionsschutz in Einzelfällen nicht geltend machen kann ist nach Ansicht der NÖ Landesregierung, im Hinblick auf die zitierte Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, nicht geeignet eine Verfassungswidrigkeit des §118 Abs9 letzter Satz der NÖ Bauordnung 1976, LGBl. 8200-14 zu begründen."

4. Mit einem beim Verfassungsgerichtshof am 26. November 1998 eingelangten und zu G237/98 protokollierten Antrag begehrt der Verwaltungsgerichtshof aus Anlaß des bei ihm zu Z96/05/0020 anhängigen Verfahrens festzustellen, daß §118 Abs9 letzter Satz NÖ BauO 1976, LGBl. 8200-12, verfassungswidrig war. Dieser Antrag ist auf den das Verfahren G134/98 einleitenden Prüfungsbeschluß des Verfassungsgerichtshofes gestützt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat in den - in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 VerfGG 1953 zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Gesetzesprüfungsverfahren erwogen:

1. Die vorläufigen Annahmen des Verfassungsgerichtshofes, daß das Beschwerdeverfahren, das Anlaß zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens gegeben hat, zulässig ist und daß er bei seiner Entscheidung über die Beschwerde §118 Abs9 letzter Satz der NÖ BauO 1976, LGBl. 8200-14, anzuwenden hätte, haben sich als zutreffend erwiesen.

2. Auch die im Prüfungsbeschluß formulierten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung stehenden Bestimmung treffen zu:

2.1. Die Niederösterreichische Landesregierung räumt ein, daß §118 Abs9 letzter Satz der NÖ BauO 1976 zwischen dem Nachbarn einer gewerblichen Betriebsanlage und dem Nachbarn einer Anlage, die keiner gewerbebehördlichen Bewilligung bedarf, insofern differenziert, daß nur der letztere den ihm durch den Flächenwidmungsplan gewährleisteten Immissionsschutz geltend machen kann. Die Niederösterreichische Landesregierung ist jedoch der Meinung, daß diese Differenzierung sachlich gerechtfertigt sei.

Es sei im Hinblick auf den wirtschaftlichen Druck, dem ein Unternehmer ausgesetzt sei und der eine rasche Abwicklung der Bewilligungsverfahren erfordere, zulässig, in einem gewissen Rahmen die gewerbliche Wirtschaft und Industrie gegenüber nichtgewerblichen Anlagenbetreibern zu privilegieren.

Der Verfassungsgerichtshof ist jedoch in seinem Prüfungsbeschluß davon ausgegangen, daß die Beschränkung des Mitspracherechts des Nachbarn im Bauverfahren über eine gewerbliche Betriebsanlage zur Folge habe, daß der Nachbar einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan, beispielsweise hinsichtlich der Immissionslage, nicht geltend machen kann und hat darauf verwiesen, daß gerade im Verfahren zur Bewilligung einer gewerblichen Betriebsanlage dem nachbarrechtlichen Schutz eine besondere Bedeutung zukommt.

Der Verfassungsgerichtshof kann nicht erkennen, daß die Schutzbedürftigkeit des Nachbarn vor Immissionen gewerblicher Betriebsanlagen im Baubewilligungsverfahren geringer einzuschätzen ist als jene des Nachbarn einer nichtgewerblichen Betriebsanlage. Dies vor allem deshalb, weil der Nachbar im gewerbebehördlichen Betriebsanlagengenehmigungsverfahren mangels Anwendbarkeit der raumordnungsrechtlichen Vorschriften einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan, beispielsweise hinsichtlich der Immissionslage, nicht geltend machen kann. Es bedürfte daher einer besonderen sachlichen Rechtfertigung, die Rechtsposition des Nachbarn einer gewerblichen Betriebsanlage gegenüber Nachbarn anderer Anlagen einzuschränken.

Im Hinblick auf die Bedeutung, die den raumordnungs- und baurechtlichen Vorschriften über die Vermeidung von Immissionen zukommt, kann das eingeschränkte Mitspracherecht nicht dadurch gerechtfertigt werden, daß der Unternehmer bei der Errichtung einer gewerblichen Betriebsanlage unter wirtschaftlichem Druck steht, der eine rasche Abwicklung der Bewilligungsverfahren notwendig macht. Ebenso können Erfordernisse der Verwaltungsökonomie die dargestellte Einschränkung des Rechtsschutzes des Nachbarn nicht rechtfertigen.

2.2. Auch der - aus den Materialien erhellende - Zweck der Regelung, Doppelgeleisigkeiten abzubauen, vermag die vorliegende Differenzierung nicht zu rechtfertigen. Der Verfassungsgerichtshof hat zwar im Prüfungsbeschluß eingeräumt, daß an sich gegen eine Regelung, die mehrfache Entscheidungen von Behörden über weitgehend identische Einwendungen vermeidet und die Parteistellung im Bauverfahren auf jene subjektiven öffentlichen Interessen einschränkt, die nicht auch im gewerbebehördlichen Verfahren geltend gemacht werden können, keine Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz bestehen. Wie bereits unter 2.1. ausgeführt, kann aber der Nachbar einen Widerspruch zum Flächenwidmungsplan im gewerbebehördlichen Verfahren nicht mit Erfolg geltend machen.

2.3. Schließlich weist die Niederösterreichische Landesregierung darauf hin, daß es bei Einhaltung der Bestimmungen bei der Erlassung der Flächenwidmungspläne kaum dazu kommen könne, daß für ein Gebiet, in dem bereits immissionsträchtige Betriebe bestehen, eine Widmung festgelegt werde, welche vorrangig Wohnnutzungen erlaube.

Diesem Argument ist zu entgegnen, daß das Mitspracherecht hinsichtlich der Frage des Widerspruchs zum Flächenwidmungsplan dem Nachbarn vornehmlich die Rechtsposition verschaffen soll, die Erteilung einer Baubewilligung für einen Betrieb zu verhindern, der nach den raumordnungsrechtlichen Vorschriften auf Grund seiner Emissionen auf einer Grundfläche mit einer bestimmten Widmungs- und Nutzungsart nicht errichtet werden darf.

2.4. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes haben sich daher insgesamt als zutreffend erwiesen. Im Hinblick darauf, daß die NÖ BauO 1976 seit dem Inkrafttreten der NÖ BauO 1996 seit 1. Jänner 1997 nicht mehr dem Rechtsbestand angehört, war gemäß Art140 Abs4 erster Satz B-VG festzustellen, daß §118 Abs9 letzter Satz der Niederösterreichischen Bauordnung 1976, LGBl. 8200-14, verfassungswidrig war (vgl. VfSlg. 14115/1995).

3. Da eine förmliche Einbeziehung des erst am 26. November 1998 zu G237/98 eingelangten Antrages des Verwaltungsgerichtshofes (Zl. A88/98-1) in das vorliegende Gesetzesprüfungsverfahren im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen nicht mehr möglich war, hat der Verfassungsgerichtshof beschlossen, von der ihm gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen und die Anlaßfallwirkung auch auf die beim Verwaltungsgerichtshof zu Zl. 96/05/0020 anhängigen Rechtssache auszudehnen (vgl. VfSlg. 11455/1987, 12948/1991, 14801/1997).

4. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von Niederösterreich zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung ergibt sich aus Art140 Abs5 zweiter Satz B-VG.

5. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 abgesehen werden.

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