Normen
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
FremdenpolizeiG 2005 §76 Abs4, §117
Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG) §30 Abs1
VfGG §62 Abs1
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
FremdenpolizeiG 2005 §76 Abs4, §117
Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG) §30 Abs1
VfGG §62 Abs1
Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
Begründung
I.
1. Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS) stellt aus Anlass eines bei ihm anhängigen Beschwerdeverfahrens gemäß Art140 Abs1 iVm Art129a Abs3 und Art89 Abs2 B-VG den Antrag, die Bestimmungen des §76 Abs4 FPG, BGBl. I 100/2005, des §117 Abs1 bis 4 FPG, BGBl. I 100/2005, sowie des §30 Abs1 NAG, BGBl. I 100/2005, als verfassungswidrig aufzuheben.
2. Dem Antrag liegt folgendes Verfahren zugrunde:
2.1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 20. August 2009 erließ die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien gegen den hier beteiligten tunesischen Staatsangehörigen gemäß §87 iVm §86 Abs1 FPG ein auf acht Jahre befristetes Aufenthaltsverbot. Am 22. Jänner 2010 wurde dieser in - mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien (im Folgenden: BPD) vom selben Tag angeordnete - Schubhaft genommen und bis 4. Februar 2010 angehalten. Auf Grund der dagegen erhobenen Beschwerde führte der UVS am 4. Februar 2010 eine mündliche Verhandlung durch und hob mit mündlich verkündetem Bescheid die Schubhaft mit der Begründung auf, dass die BPD sich - mangels gerichtlicher Nichtigerklärung - unzulässigerweise auf das Vorliegen einer Scheinehe berufen habe sowie dass der Bescheid der Sicherheitsdirektion vom 20. August 2009 mangels Zustellung an den Rechtsvertreter nicht wirksam erlassen worden sei. Der Schubhaftbescheid sei dem Schubhäftling gegenüber außerdem ohne Dolmetscher erlassen und dem Rechtsvertreter nicht zur Kenntnis gebracht worden.
2.2. Auf Grund der von der BPD im Wege der Sicherheitsdirektion Wien dagegen erhobenen Amtsbeschwerde hob der Verwaltungsgerichtshof den Bescheid des UVS mit Erkenntnis vom 19. Mai 2011, 2010/21/0106, gemäß §42 Abs2 Z1 VwGG auf:
Zunächst sei eine wirksame Erlassung des Aufenthaltsverbotes vom 20. August 2009 erfolgt; die belangte Behörde sei daher an das Aufenthaltsverbot gebunden und könne dieses nicht inhaltlich überprüfen. Anzumerken sei in diesem Zusammenhang, dass die Prüfung des Vorliegens einer Scheinehe nicht voraussetze, dass die Ehe gemäß §23 EheG für nichtig erklärt worden sei. Hinsichtlich der Zustellung des Schubhaftbescheides führe nach §76 Abs4 FPG bereits die Zustellung an den Schubhäftling zu einer rechtswirksamen Bescheiderlassung; die Zustellung einer Ausfertigung an den Zustellbevollmächtigten sei lediglich eine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung nicht die Rechtswidrigkeit der Schubhaft nach sich ziehe.
3. Der UVS bringt zur Antragslegitimation vor, dass die angefochtenen Bestimmungen im anhängigen Beschwerdeverfahren anzuwenden seien und dass auf Grund der Bindung an die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofes
"verpflichtend dessen Auslegung ... zu übernehmen" sei.
4. Inhaltlich hegt der UVS das Bedenken, dass die angefochtenen Bestimmungen gegen Art6, Art8 und Art13 EMRK verstoßen, und führt insbesondere Folgendes aus:
"Die Bestimmung des §76 Abs4 FPG bringt eindeutig zum Ausdruck, dass ein vorliegendes Vertretungsverhältnis für den Fall der Zustellung nicht zu berücksichtigen ist, eine gesetzliche Anordnung die eindeutig dem aus Art6 EMRK erfließenden Verteidigungsrecht widerspricht. Auch die Gesetzesmaterialien der RV 952, AB 155, zur Gesetzgebungsperiode XXII lassen keinen anderen Inhalt als der in der angefochtenen Normierung enthaltenen, erkennen. Die faktische Zustellung an einen (noch dazu sprachunkundigen) Schubhäftling unter bewusster Umgehung der im Akt ausgewiesenen anwaltlichen Vertretung ist jedoch mit dem verfassungsmäßigen Gebot der aus der EMRK erfließenden Verpflichtung der Wahrung der Verteidigungsrechte vor dem Hintergrund des Erfordernis eines effizienten Rechtschutzes, respektive eines Häftlings (sic!) unvereinbar.
Das aus der EMRK erfließende Grundrecht auf wirksame Beschwerde gemäß Art13 EMRK ist fundamental in der Rechtsprechung des EGMR - Teil 1 (Dr. Daniela Demko; HRRS 8/2005, S. 283 ff, ebenso EGMR 26.10.2000 - 30210/96) verankert u würde bei Beibehaltung und respektive der Umsetzung der angefochtenen Bestimmungen im Geiste der hiezu verfestigten Rechtsprechung des VwGH ausgehöhlt. [...]"
5. Die Bundesregierung hat zum Antrag des UVS eine Äußerung erstattet, in der sie dessen Zurückweisung bzw. Abweisung beantragt.
II.
1. Die Bestimmungen der §§76, 117 Fremdenpolizeigesetz lauteten in der Stammfassung, BGBl. I 100/2005, wie folgt (die angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):
"Schubhaft
§76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern. Über Fremde, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, darf Schubhaft verhängt werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie würden sich dem Verfahren entziehen.
(2) Die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde kann über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn [...]
(3) [...]
(4) Hat der Fremde einen Zustellungsbevollmächtigten, so gilt die Zustellung des Schubhaftbescheides auch in dem Zeitpunkt als vollzogen, in dem eine Ausfertigung dem Fremden tatsächlich zugekommen ist. Die Zustellung einer weiteren Ausfertigung an den Zustellungsbevollmächtigten ist in diesen Fällen unverzüglich zu veranlassen.
(5) - (6) [...]
(7) Die Anordnung der Schubhaft kann mit Beschwerde gemäß §82 angefochten werden.
[...]
Eingehen und Vermittlung von Aufenthaltsehen
§117. (1) Ein Österreicher oder ein zur Niederlassung im Bundesgebiet berechtigter Fremder, der eine Ehe mit einem Fremden eingeht, ohne ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art8 EMRK führen zu wollen und weiß oder wissen musste, dass sich der Fremde für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe berufen will, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, vom Gericht mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Ein Österreicher oder ein zur Niederlassung im Bundesgebiet berechtigter Fremder, der mit dem Vorsatz, sich oder einen Dritten durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, eine Ehe mit einem Fremden eingeht, ohne ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art8 EMRK führen zu wollen und weiß oder wissen musste, dass sich der Fremde für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe berufen will, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, vom Gericht mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(3) Wer gewerbsmäßig Ehen vermittelt oder anbahnt, obwohl er weiß oder wissen musste, dass sich die Betroffenen für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe berufen, aber kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art8 EMRK führen wollen, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, vom Gericht mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.
(4) Der Fremde, der sich im Sinne des Abs1 auf die Ehe berufen will, ist als Beteiligter nicht zu bestrafen.
(5) Nach Abs1 ist nicht zu bestrafen, wer freiwillig, bevor eine zur Strafverfolgung berufene Behörde von seinem Verschulden erfahren hat, an der Feststellung des Sachverhaltes mitwirkt."
2. Die Bestimmung des §30 Abs1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz lautete in der Stammfassung, BGBl. I 100/2005, wie folgt (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):
"Aufenthaltsehe und Aufenthaltsadoption
§30. (1) Ehegatten, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art8 EMRK nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe berufen.
(2) [...]"
III.
Der Antrag ist nicht zulässig.
1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch die Präjudizialitätsentscheidung den antragstellenden UVS an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieser Behörde in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art140 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden unabhängigen Verwaltungssenates im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg. 14.464/1996, 15.293/1998, 16.632/2002, 16.925/2003).
2. Mit dem Antrag des UVS werden u.a. die Bestimmungen des §117 Abs1 bis 4 FPG und des §30 Abs1 NAG, jeweils in der Stammfassung BGBl. I 100/2005, angefochten.
Es ist jedoch offenkundig ausgeschlossen, dass der UVS diese Bestimmungen bei der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Anordnung der Schubhaft anzuwenden hat. Die Beurteilung des Vorliegens einer Aufenthaltsehe iSd §30 Abs1 NAG iVm §117 FPG wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion Wien vom 20. August 2009 vorgenommen, mit dem ein rechtskräftiges Aufenthaltsverbot über die beteiligte - im Verfahren vor dem UVS beschwerdeführende - Partei verhängt wurde. Die Anwendung der angefochtenen Bestimmungen des §30 Abs1 NAG und des §117 Abs1 bis 4 FPG im Verfahren über die Schubhaftbeschwerde durch den UVS, der bei der Erlassung seines Bescheides an den Bescheid der Sicherheitsdirektion gebunden ist (VwGH 19.5.2011, 2010/21/0106), kommt jedoch nicht in Betracht.
Soweit die Bestimmungen des §117 Abs1 bis 4 FPG und des §30 Abs1 NAG angefochten wurden, ist der Antrag daher schon aus diesem Grund unzulässig.
3. Soweit die Bestimmung des §76 Abs4 FPG angefochten wird, ist der Antrag ebenfalls nicht zulässig:
Gemäß §62 Abs1 zweiter Satz VfGG hat der Antrag gemäß Art140 B-VG die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im Einzelnen darzulegen. Die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit sind präzise zu umschreiben, die Bedenken sind schlüssig und überprüfbar darzulegen (VfSlg. 11.888/1988, 12.223/1989). Das Fehlen solcher Darlegungen führt zur sofortigen Zurückweisung des Antrages
(VfSlg. 11.970/1989, 12.564/1990, 13.571/1993, 15.877/2000).
Dieses Erfordernis erfüllt der Antrag des UVS nicht, da die Gründe der behaupteten Verfassungswidrigkeit nicht in überprüfbarer Weise präzise dargelegt wurden und dem Antrag insbesondere nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, welche Gründe für die Annahme sprechen, dass die angefochtene Gesetzesbestimmung mit Art6 und Art13 EMRK in Widerspruch stehen soll. Der antragstellende UVS unterlässt insbesondere eine konkrete Darlegung, weshalb Art6 EMRK auf Verfahren nach dem Fremdenpolizeigesetz überhaupt heranzuziehen sein sollte.
Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes, gleichsam stellvertretend das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren (idS VfSlg. 13.123/1992, 16.507/2002). Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG vielmehr auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken und ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist.
Soweit mit dem Antrag die Bestimmung des §76 Abs4 FPG angefochten wird, ist er daher auf Grund eines nicht verbesserungsfähigen Mangels als unzulässig zurückzuweisen.
4. Der Antrag ist daher zurückzuweisen, ohne dass
darauf einzugehen ist, ob die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen.
5. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 litc und e VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
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