VfGH B991/09

VfGHB991/092.3.2010

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch ein Straferkenntnis wegen illegaler Beschäftigung von Ausländern; keine Berücksichtigung der unangemessen langen Verfahrensdauer bei der Strafbemessung

Normen

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
AuslBG §28 Abs1 Z1
StGB §34 Abs2
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
AuslBG §28 Abs1 Z1
StGB §34 Abs2

 

Spruch:

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird im Strafausspruch und im Kostenausspruch aufgehoben.

II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt. Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III. Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.380,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Krems an

der Donau vom 19. Februar 2007 wurden über den Beschwerdeführer Geldstrafen im Ausmaß von je € 2.500,-- (je sieben Tage Ersatzfreiheitsstrafe) gemäß §3 Abs1 iVm §28 Abs1 Z1 lita und Abs7 AuslBG wegen Beschäftigung von zwei slowakischen Staatsbürgern als Weingartenarbeiter ohne Vorliegen entsprechender arbeitsmarktrechtlicher Bewilligungen verhängt.

2. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 2. Juli 2009 insofern Folge gegeben, als die verhängten Geldstrafen auf je € 1.500,-- bzw. die Ersatzfreiheitsstrafen auf je vier Tage herabgesetzt wurden. Die Reduktion des Strafausmaßes wurde damit begründet, dass auf Grund der zwischenzeitigen Tilgung einer - von der erstinstanzlichen Behörde ursprünglich zu Recht als Vortat gewerteten - Vormerkung nunmehr der erste Strafsatz des §28 Abs1 Z1 AuslBG (€ 1.000,-- bis € 10.000,--) sowie der Strafmilderungsgrund der verwaltungsstrafrechtlichen Unbescholtenheit heranzuziehen war. Im Übrigen wurde der Spruch des Straferkenntnisses der erstinstanzlichen Behörde bestätigt.

3. In der dagegen erhobenen, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf ein faires Verfahren nach Art6 Abs1 EMRK und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nach Art83 Abs2 B-VG behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie den Beschwerdebehauptungen entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige -

Beschwerde erwogen:

1. Die Beschwerde ist insofern begründet, als sie die Nichtberücksichtigung der überlangen Dauer des Verwaltungsstrafverfahrens durch die belangte Behörde im Rahmen der Strafbemessung rügt:

1.1. Art6 Abs1 EMRK bestimmt u.a., dass jedermann "Anspruch

darauf [hat], daß seine Sache ... innerhalb einer angemessenen Frist

gehört wird, und zwar von einem ... Gericht, das über zivilrechtliche

Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. VfSlg. 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005; VfGH 12.3.2009, B561/07). Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des EGMR ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg. 16.385/2001 mH auf die Rechtsprechung des EGMR; 17.821/2006, 18.066/2007; VfGH 26.6.2008, B304/07; vgl. auch Frowein/Peukert, EMRK3, 2009, Art6 Rz 251, sowie Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4, 2009, §24 Rz 69).

1.2. In der Rechtsprechung des EGMR zu Strafverfahren wird für den Beginn der Frist jener Zeitpunkt angenommen, "in which a person is charged", dh. sobald ein Beschuldigter durch offizielle Mitteilung oder auch in sonstiger Weise darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass gegen ihn wegen des Verdachts, eine strafbare Handlung begangen zu haben, Ermittlungen mit dem Ziel strafrechtlicher Verfolgung durchgeführt werden und seine Lage dadurch in erheblicher Weise beeinträchtigt wird (Frowein/Peukert, aaO, Art6 Rz 240; EGMR 15.7.1982, Fall Eckle, Appl. 8130/78; VfSlg. 16.385/2001, 17.339/2004, 17.854/2006).

Im vorliegenden Fall erlangte der Beschwerdeführer mit Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung durch die Bezirkshauptmannschaft Krems am 30. August 2006 erstmals offiziell Kenntnis von dem gegen ihn erhobenen Tatvorwurf. Als Anfangszeitpunkt des Verwaltungsstrafverfahrens ist daher dieser Tag anzunehmen.

Das Verfahren endete in erster Instanz mit dem Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Krems vom 19. Februar 2007, zugestellt am 27. Februar 2007. Die am 13. März 2007 durch den Beschwerdeführer gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung langte am 14. März 2007 bei der Bezirkshauptmannschaft ein und wurde der belangten Behörde am 23. März 2007 zur Entscheidung übermittelt.

Als vorläufiger Endzeitpunkt des der Beurteilung durch den Verfassungsgerichtshof unterliegenden Verfahrens ist der Tag der Zustellung des auf den 2. Juli 2009 datierten Bescheides des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich maßgeblich. Die Zustellung ist spätestens am 13. Juli 2009 auf nichtelektronischem Wege erfolgt.

1.3. Im vorliegenden Fall fällt ins Gewicht, dass zwischen dem Schreiben des Unabhängigen Verwaltungssenats im Land Niederösterreich an das Finanzamt Waldviertel vom 27. März 2007 und der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung am 3. Dezember 2008 mehr als ein Jahr und acht Monate vergangen sind. In diesem Zeitraum hat die belangte Behörde dem Inhalt der Verwaltungsakten nach keine Verfahrensschritte gesetzt.

Eine solche Zeitspanne zieht der EGMR häufig als Zeitraum der Untätigkeit ("period of inactivity") heran, um eine Verletzung von Art6 Abs1 EMRK zu begründen (EGMR 2.10.2003, Fall Hennig, Appl. 41.444/98, Z35 f.; EGMR 27.5.2004, Fall Yavuz, Appl. 46.549/99, ÖJZ 2005/5, Z38). Im Fall Calvelli & Ciglio (EGMR 17.1.2002 [GK], Appl. 32.967/96, Z65) sah der EGMR eine Zeitspanne der Untätigkeit von einem Jahr - insbesondere angesichts der Komplexität des Verfahrens - noch nicht als unangemessen an. Eine drei Jahre andauernde Untätigkeit des Verwaltungsgerichtshofes bei einer Gesamtdauer des - nicht komplexen - Verfahrens von vier Jahren und drei Monaten hingegen wurde als unangemessen beurteilt (EGMR 26.7.2007, Fall Vitzthum, Appl. 8140/04, Z21). Ebenso stellte der EGMR in einem - nicht als komplex beurteilten - Fall betreffend Verwaltungsübertretungen nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz eine Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer bei einer Untätigkeit von einem Jahr vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat sowie einem Jahr und sechs Monaten vor dem Verwaltungsgerichtshof fest (EGMR, Fall Yavuz, Z38).

Schließlich ist auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6. November 2008, G86/08 ua., zu verweisen, in dem festgestellt wird, dass auch die durch die gesetzliche Verjährungsfrist bewirkte Beschränkung der Gesamtverfahrensdauer auf drei Jahre einer Verletzung des Art6 Abs1 EMRK nicht entgegensteht, wenn das Verfahren eine längere Phase der Untätigkeit aufweist:

"Dem ist entgegenzuhalten, dass die Verjährungsfrist des §31 Abs3 VStG nicht zu verhindern vermag, dass das Verwaltungsstrafverfahren in der Berufungsinstanz - wie die Anlassfälle zeigen - insbesondere durch eine längere Phase der Untätigkeit eine Dauer erreicht, die mit Art6 EMRK nicht im Einklang steht (vgl. zB EGMR 27.5.2004, Fall Yavuz, Appl. 46.549/99, ÖJZ 2005, 156 [Z38]), ohne dass der Beschuldigte über ein effektives Rechtsmittel zur Beschleunigung des Verfahrens im Sinne des Art13 EMRK verfügt."

1.4. Nach der Aktenlage lassen weder Art und Umfang des Sachverhalts noch die zu beurteilenden Rechtsfragen die Behandlung dieser Rechtssache ungewöhnlich komplex oder schwierig erscheinen:

Weder gab es mehrere Beschuldigte, noch bestand das Erfordernis zeitaufwändiger Ermittlungstätigkeit im In- oder Ausland, etwa die Notwendigkeit der Befragung vieler Zeugen. Der Sachverhalt konnte bereits durch die Ausführungen in der Berufung sowie durch die Verlesung von Urkunden und die Befragung der Beschuldigtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung erhoben werden.

Da dem Beschwerdeführer nicht angelastet werden kann, dass er zur Durchsetzung seiner Rechte Rechtsmittel ergreift (EGMR 11.12.2003, Fall Girardi, Appl. 50.064/99, Z56), und ihm auch sonst nicht vorzuwerfen ist, das Verfahren unnötig verzögert zu haben, kann die Verfahrensverzögerung nicht der Sphäre des Beschwerdeführers zugerechnet werden. Die lange Dauer des Verwaltungsstrafverfahrens, insbesondere des Berufungsverfahrens, ist ausschließlich dem Verhalten staatlicher Organe zuzuschreiben. Für den Beschwerdeführer bestanden keine rechtlichen Möglichkeiten, auf die Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken (vgl. VfSlg. 17.821/2006).

Da sich im vorliegenden Verfahren auch sonst keine besonderen Umstände ergeben haben, welche die Dauer des Verfahrens rechtfertigen könnten, ist die Dauer des Verwaltungsstrafverfahrens von mehr als zwei Jahren und zehn Monaten (angesichts der länger als ein Jahr und acht Monate anhaltenden Untätigkeit der belangten Behörde) nicht mehr als angemessen im Sinne des Art6 Abs1 EMRK zu qualifizieren.

1.5. Dadurch, dass die belangte Behörde die Verfahrensdauer nicht als unangemessen angesehen, daher keine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK festgestellt und diesen Umstand bei der Strafbemessung unberücksichtigt gelassen hat, ist ihr ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen (vgl. VfSlg. 16.385/2001).

Gemäß §19 Abs2, 3. Satz VStG sind unter Berücksichtigung der Eigenart des Verwaltungsstrafrechts die §§32 bis 35 StGB sinngemäß anzuwenden. Nach §34 Abs2 StGB ist es auch ein Milderungsgrund, "wenn das gegen den Täter geführte Verfahren aus einem nicht von ihm oder seinem Verteidiger zu vertretenden Grund unverhältnismäßig lange gedauert hat".

Die belangte Behörde hat dadurch, dass sie die überlange Verfahrensdauer nicht festgestellt und strafmildernd bewertet hat, das Gesetz bei der Strafbemessung in einer dem Art6 Abs1 EMRK widersprechenden Weise angewendet (VfSlg. 16.385/2001 mwN, VfSlg. 17.821/2006).

Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

1.6. Der angefochtene Bescheid ist - abgesehen vom Kostenausspruch - lediglich im Umfang des Strafausspruchs aufzuheben, weil die festgestellte Rechtsverletzung den Ausspruch über die Schuld unberührt lässt und eine Änderung nur im Rahmen der Strafbemessung gemäß §19 VStG in Betracht kommt, insbesondere durch die verfassungskonforme Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund iSd §19 Abs2 VStG unter sinngemäßer Anwendung des §34 Abs2 StGB.

Der Bescheid ist auch im Umfang des Kostenausspruchs aufzuheben, da der Beitrag zu den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens sich nach der Höhe der verhängten Geldstrafe richtet (§64 Abs2 VStG) und daher mit dem Strafausspruch in Zusammenhang steht.

2. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde in einer nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossenen Angelegenheit ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Dies ist hier - abgesehen von der Verletzung des Art6 Abs1 EMRK - der Fall: Nach den Beschwerdebehauptungen wären die anderen behaupteten Verletzungen verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen sowie insbesondere der Frage, ob von der belangten Behörde innerstaatliche einfachgesetzliche Normen oder gemeinschaftsrechtliche Normen anzuwenden waren, sind spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht anzustellen (vgl. VfSlg. 14.886/1997).

Da die Angelegenheit auch nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen ist, wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 360,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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