VfGH B623/2013 ua

VfGHB623/2013 ua11.6.2014

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ infolge verfassungswidriger Interessenabwägung

Normen

EMRK Art8
Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG) §41a Abs9
EMRK Art8
Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG) §41a Abs9

 

Spruch:

I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, den Beschwerde­führern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.357,60 bestimmten Prozess­kosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die beschwerdeführenden Eheleute, beide kosovarische Staatsangehörige, sind am 7. Dezember 2006 illegal in das Bundesgebiet eingereist und haben am gleichen Tag und – ein zweites Mal – am 8. Oktober 2010 letztlich erfolglose Asylanträge gestellt. Mit den Entscheidungen des Asylgerichtshofes vom 28. Dezember 2009 und – in den Folgeverfahren – mit Bescheiden des Bundes­asylamts vom 14. Jänner 2011 wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils die Ausweisung verfügt.

2. Am 14. Februar 2011 brachten die Beschwerdeführer bei der Bezirkshauptmannschaft Baden Anträge auf Erteilung von Niederlassungsbewilligungen ein, welche nach der Fremdenrechtsnovelle 2011 als Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot – Karte plus" gemäß §41a Abs9 NAG weitergeführt wurden. Die Behörde erster Instanz wies mit Bescheiden vom 30. Oktober 2012 die Anträge mit der Begründung ab, dass gegen die Beschwerdeführer eine rechtskräftige asylrechtliche Ausweisung bestehe und eine maßgebliche Änderung des Sachverhalts nicht hervorgekommen sei. Die dagegen erhobenen Berufungen wies die Bundesministerin für Inneres mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 10. April 2013 ebenfalls ab. Begründend führt die belangte Behörde aus, dass auch der Berufungsbehörde in dem von den Beschwerdeführern vorgebrachten Sachverhalt keine berücksichtigungswürdigen Aspekte im Hinblick auf Art8 EMRK erkennbar seien.

3. Gegen diese Bescheide der Bundesministerin für Inneres richten sich die auf Art144 B‑VG gestützten – im Wesentlichen gleichlautenden – Beschwerden, in denen die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet wird. Begründend bringen die Beschwerdeführer vor:

3.1. Die involvierten behördlichen Instanzen hätten es in keinem Stadium der Verfahren als notwendig erachtet, die Schutzwürdigkeit des Familien- und Privatlebens der Beschwerdeführer unter Einbeziehung aller sachrelevanten Aspekte erneut zu prüfen und einer vollständigen und aktuell gültigen Interessenabwägung zu unterziehen. Die angefochtenen Berufungsentscheidungen vom 10. April 2013 würden auf dem Erhebungsstand vom Jänner 2011 basieren.

3.2. Schon das Bundesasylamt habe festgestellt, dass die Beschwerdeführer in finanzieller Abhängigkeit zu ihrem gemeinsamen, in Österreich lebenden Sohn stünden, da dieser die monatliche Miete und die medizinischen Behandlungskosten seiner Eltern, insbesondere die seiner Mutter, die psychisch schwer krank sei, bezahle. Es sei daher nicht nachvollziehbar, wenn die Niederlassungsbehörde nun meine, dem Vorbringen der Beschwerdeführer sei nicht zu entnehmen, dass die Beschwerdeführer von ihren Kindern derzeit finanziell unterstützt würden.

3.3. Die Niederlassungsbehörde habe zwar zur Kenntnis genommen, dass der Sohn und die Tochter der Beschwerdeführer in Österreich aufenthaltsberechtigt leben würden, sie relativiere diese Aussage aber durch die Feststellung, dass deren Aufenthaltsberechtigungen befristet seien. Sie berücksichtige dabei nicht, dass beide Kinder bereits Familien gegründet hätten und daher von einer stabilen aufenthaltsrechtlichen Situation auszugehen sei.

3.4. Die Beschwerdeführerin leide schon seit vielen Jahren an schweren psychischen Störungen. Eine psychosoziale Stütze sei in diesem Fall vorrangig. Daher seien die bloßen Geldleistungen der Kinder oder die bloße wirtschaftliche Existenzfähigkeit der Beschwerdeführer im Kosovo für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Familien- und Privatlebens für sich alleine keineswegs ausschlaggebend. Niemand könne der Beschwerdeführerin näher stehen als ihre leiblichen Kinder, die in Österreich aufenthaltsberechtigt seien. Der persönliche Kontakt mit ihnen sei für die Beschwerdeführerin besonders wichtig. Dieser psychosoziale Aspekt sei aber nicht einmal ansatzweise erwogen worden. In diesem wesentlichen Punkt sei die Ermittlungstätigkeit unterlassen worden.

3.5. Von beiden Beschwerdeführern seien Patenschaftserklärungen vorgelegt worden. Mit solchen Erklärungen sei ein unkalkulierbares und hohes finanzielles Risiko für die Paten verbunden. Schon allein aus diesem Grund sei es unlogisch, wenn die Niederlassungsbehörde feststelle, dass keine über die üblichen Bindungen hinausgehende Abhängigkeit der Beschwerdeführer zu ihren Paten erkennbar sei.

3.6. Letztlich seien beide Beschwerdeführer auch gut ausgebildet, hätten das A2-Sprachzertifikat, seien im Besitz von rechtlich verbindlichen Arbeitsvorverträgen und hätten eine alle Risken abdeckende Krankenversicherung abgeschlossen. Die Niederlassungsbehörde hätte daher nicht davon ausgehen dürfen, dass die Beschwerdeführer einer öffentlichen Gebietskörperschaft zur Last fallen würden. Es sei auch weder schlüssig noch nachvollziehbar, dass die Interessen der Beschwerdeführer den öffentlichen Interessen "gegenläufig" entgegenstünden.

4. Das gemäß Art151 Abs51 Z9 B-VG iVm §81 Abs27 NAG an die Stelle der bescheiderlassenden Behörde getretene Landesverwaltungsgericht Niederösterreich legte die Verwaltungsakten vor, nahm von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand und verwies auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide.

II. Rechtslage

§41a Abs9 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl I 100/2005, in der Fassung BGBl 50/2012, lautet:

"(9) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§44a) oder auf begründeten Antrag (§44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot – Karte plus' zu erteilen, wenn

1. kein Erteilungshindernis gemäß §11 Abs1 Z1, 2 oder 4 vorliegt,

2. dies gemäß §11 Abs3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist und

3. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§14a) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist der Bundesministerin für Inneres bei der Beurteilung des Familienlebens der Beschwerdeführer unterlaufen:

3.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR, 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl. 10.730/84, Z21; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl. 16.969/90, Z44). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR, 19.2.1996, Fall Gül, Appl. 23.218/94, Z32). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und volljährigen Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinne von Art8 Abs1 EMRK, solange nicht jede Bindung gelöst ist (EGMR, 24.4.1996, Fall Boughanemi, Appl 22.070/93, Z33 und 35; siehe dazu VfGH 12.3.2014, U1904/2013).

3.2.1. Unter Verweis auf die asylrechtlichen Entscheidungen (s. Pkt. I.1.) wird in den angefochtenen Bescheiden zunächst festgestellt, dass die beiden in Österreich lebenden Kinder volljährig seien und keine derart stark ausgeprägte Nahebeziehung vorgebracht worden sei, "dass die von der Judikatur des EGMR im Bereich des erweiterten Familienlebens [...] geforderten Voraussetzungen erfüllt wären". Die belangte Behörde geht weiters davon aus, dass die psychische Erkrankung der Beschwerdeführerin, die bereits im Heimatland bestanden habe und auch derzeit bestehe, für sich genommen noch keine derart außergewöhnlichen Umstände darstellten, dass der Beschwerdeführerin direkt ein aus Art8 EMRK ableitbares Aufenthaltsrecht zugestanden werden müsste. Die belangte Behörde stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die medizinische Grundversorgung im Kosovo gewährleistet sei und im Falle einer Problemabschiebung auch die Möglichkeit der ärztlichen Versorgung von Beginn der Amtshandlung bis zur Übergabe an die Behörden des Heimatlandes bestünde.

3.2.2. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, das im verfassungsgerichtlichen Verfahren an die Stelle der bescheiderlassenden Behörde getreten ist, widerspricht nicht den Beschwerdeausführungen, dass beide großjährigen Kinder – anders als zum Zeitpunkt der asylrechtlichen Entscheidungen – in Österreich aufenthaltsberechtigt seien, bereits Familien gegründet hätten und mit ihren eigenen Familien in Österreich leben würden, sodass von einer stabilen aufenthaltsrechtlichen Situation der Kinder auszugehen sei.

3.2.3. Die belangte Behörde lässt in den angefochtenen Bescheiden außer Betracht, dass in einem amtsärztlichen Gutachten der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 30. Mai 2012 der familiären Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihren Kindern besondere Bedeutung beigemessen wurde. Dieses Gutachten stellt fest, dass die Trennung der Beschwerdeführerin von ihrer in Österreich lebenden Familie sich auf ihre Gesundheit "verheerend" auswirken würde und dass "aus amtsärztlicher Sicht eine Abschiebung in den Kosovo für den Gesundheitszustand [der Beschwerdeführerin] als äußerst bedenklich angesehen werden" müsse. Die Beibehaltung einer stabilen familiären Umgebung sei medizinisch indiziert. Dieser Befund wird durch einen – der belangten Behörde zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung ebenfalls vorliegenden – Arztbrief vom 21. März 2013 bestätigt.

4. Die belangte Behörde hat in beiden angefochtenen Bescheiden zwar eine Interessenabwägung iSd des Art8 EMRK vorgenommen und dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführer an der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels gegenübergestellt, sie hat sich aber dabei nicht mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit die psychischen Beeinträchtigungen der Beschwerdeführerin zu einer höheren Schutzwürdigkeit ihres im Bundesgebiet entfalteten Familienlebens führen.

Da die belangte Behörde bei der Interessenabwägung iSd des Art8 EMRK einen ganz wesentlichen Punkt nicht berücksichtigt hat, hat sie einen Fehler begangen, der mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist. Sie hat dadurch die Beschwerdeführer – der nahezu wortgleiche, den Ehegatten betreffende Bescheid ist ebenso mangelhaft – in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden. Die angefochtenen Bescheide werden daher aufgehoben.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Den beiden Beschwerdeführern war der insgesamt einfache Pauschalsatz – erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag – zuzusprechen, weil sie durch ein und denselben Rechtsanwalt vertreten waren und es ihnen sowohl in zeitlicher als auch in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, gegen die – vom Sachverhalt und der rechtlichen Beurteilung her – gleichgelagerten Bescheide eine gemeinsame Beschwerde einzubringen (vgl. VfSlg 17.317/2004). In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 218,–, entrichtete Eingabegebühren in der Höhe von € 480,– sowie Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffent­licher Sitzung getroffen werden.

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