VfGH B355/09 ua

VfGHB355/09 ua10.12.2009

Keine verfassungswidrige Anwendung einer unter Fristsetzung aufgehobenen Bestimmung des Verwaltungsstrafgesetzes auf vor Inkrafttreten der Aufhebung verwirklichte Tatbestände; Beschwerdefälle keine - dem Anlassfall im engeren Sinn gleichzuhaltende - (Quasi-)Anlassfälle infolge Einlangens nach Beginn der Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren; keine Notwendigkeit für eine Erweiterung der Judikatur zur Anlassfallwirkung auf Grund der EMRK

Normen

B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
B-VG Art140 Abs7 letzter Satz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
EMRK Art6 Abs1 / Allg
EMRK Art7
VStG §51 Abs7
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
B-VG Art140 Abs7 letzter Satz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
EMRK Art6 Abs1 / Allg
EMRK Art7
VStG §51 Abs7

 

Spruch:

Die beschwerdeführenden Parteien sind durch die angefochtenen Bescheide weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerden werden abgewiesen und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung darüber abgetreten, ob die beschwerdeführenden Parteien durch die angefochtenen Bescheide in einem sonstigen Recht verletzt worden sind.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Das beim Verfassungsgerichtshof zu B355/09 protokollierte

Beschwerdeverfahren richtet sich gegen einen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt (im Folgenden: UVS Niederösterreich), mit dem der Beschwerdeführer als handelsrechtlicher Geschäftsführer einer HandelsgesmbH wegen Beschäftigung eines polnischen Staatsbürgers einer Übertretung gemäß den §§28 Abs1 Z1 lita iVm §3 Abs1 AuslBG für schuldig erkannt und über ihn eine Geldstrafe in Höhe von € 8.000,-- (8 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt wurde.

Das beim Verfassungsgerichtshof zu B356/09 protokollierte Beschwerdeverfahren richtet sich gegen einen Bescheid des UVS Niederösterreich betreffend den zweiten handelsrechtlichen Geschäftsführer derselben HandelsgesmbH, mit dem auch dieser wegen Beschäftigung eines polnischen Staatsbürgers einer Übertretung gemäß den §§28 Abs1 Z1 lita iVm §3 Abs1 AuslBG für schuldig erkannt und über ihn eine Geldstrafe in Höhe von € 8.000,-- (8 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt wurde.

2. Gegen diese beiden Bescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten (weitgehend gleichlautenden) Beschwerden, in denen Verstöße gegen die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf eine effektive Beschwerde und auf ein faires Verfahren sowie auf keine Strafe ohne Gesetz gerügt werden.

Die Beschwerdeführer behaupten im Wesentlichen, durch die Anwendung der Wortfolge "in dem nur dem Beschuldigten das Recht der Berufung zusteht" in §51 Abs7 VStG, die vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben worden ist (VfGH 6.11.2008, G86,87/08), in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf eine effektive Beschwerde und auf Entscheidung in angemessener Frist verletzt worden zu sein, da die 15-monatige Frist des §51 Abs7 VStG in den vorliegenden Fällen verstrichen sei. Die Bestimmung sei zwar nach dem Wortlaut von Art140 Abs7 B-VG bis zum Ablauf der vom Verfassungsgerichtshof gesetzten Frist weiterhin anzuwenden und damit unangreifbar. Art140 Abs7 B-VG habe allerdings im Hinblick auf Art7 EMRK keine Gültigkeit für Strafbestimmungen (s. das Erkenntnis des Unabhängigen Verwaltungssenates Oberösterreich vom 1.10.1996, VwSen-390027/2/Gf/Km). Die bloß innerstaatliche Bestimmung des Art140 Abs7 B-VG sei auf Grund der widersprechenden völkerrechtlichen Bestimmung des Art7 Abs1 EMRK "teleologisch zu reduzieren". Bei §51 Abs7 VStG handle es sich zwar um keine materielle Strafbestimmung, jedoch hätten diese Überlegungen genauso für die Anwendbarkeit einer prozessualen Strafbestimmung zu gelten.

Das Gesetzmäßigkeitsprinzip habe auch Bestimmungen zu erfassen, die das Verfahren betreffen, sofern ihre Änderung, erweiternde Auslegung oder - wie im vorliegenden Fall - verfassungswidrige Anwendung geeignet wäre, sich zum Nachteil der Betroffenen auszuwirken. Nur so könne eine objektive Begrenzung der Staatsgewalt erreicht werden, die das Vertrauen des Einzelnen schütze und die Berechenbarkeit staatlichen Handelns garantiere. Die früher häufig geäußerte Meinung, dass Art7 EMRK Verfahrensbestimmungen nicht betrifft, sei inzwischen überholt. In diesem Zusammenhang sei auch auf die vom EGMR mittlerweile im Rahmen des Art6 EMRK entwickelten Rechtssätze zum Grundsatz "nullum judicium sine lege" zu verweisen. Verfahrensvorschriften im Bereich der Strafverfolgung müssten für den Einzelnen vorhersehbar, rechtmäßig und damit verfassungsmäßig sein (vgl. etwa auch EGMR 22.6.2000, Fall Co?me ua., Appl. 32.492/96 ua., Rz 102).

Der Verfassungsgerichtshof habe im Erkenntnis G86,87/08 eine Regelung für verfassungswidrig erklärt, um den Beschuldigten vor verzögerten Entscheidungen und einer unzumutbaren Dauer des Strafverfahrens zu schützen und ihm effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Viel mehr als vor anderen Behörden müsse sich der Beschuldigte vor einer Strafbehörde darauf verlassen können, dass das hoheitliche Handeln sowohl in materiellrechtlicher als auch in prozessrechtlicher Hinsicht den Gesetzen entspricht. Werde nun ein vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehobenes Gesetz angewendet, sei diesem Grundsatz und damit Art7 EMRK nicht Genüge getan.

3. Die belangte Behörde hat in beiden Beschwerdeverfahren fristgerecht die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch (jeweils) Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. Mit Erkenntnis vom 6. November 2008, G86,87/08, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass die Wortfolge ", in dem nur dem Beschuldigten das Recht der Berufung zusteht," in §51 Abs7 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991, BGBl. 52/1991 in der Fassung BGBl. I 158/1998, mit Ablauf des 31. Oktober 2009 als verfassungswidrig aufgehoben wird und ausgesprochen, dass die Wortfolge auf die am 9. Oktober 2008 - dem Tag des Beginns der nichtöffentlichen Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren - beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist. Bis zum heutigen Tag wurde keine Ersatzregelung vom Gesetzgeber erlassen.

2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (sog. "Quasi-Anlassfall"; vgl. VfSlg. 10.616/1985, 11.711/1988). Im - hier allerdings nicht gegebenen - Fall einer Beschwerde gegen einen Bescheid, dem ein auf Antrag eingeleitetes Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, muss dieser verfahrenseinleitende Antrag überdies vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. II.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg. 17.687/2005).

3.1. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 9. Oktober 2008. Die vorliegenden Beschwerden sind beim Verfassungsgerichtshof am 23. März 2009 eingelangt, waren also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung nicht anhängig.

Für eine Behandlung als einem Anlassfall gleichzuhaltende Fälle sind die Beschwerden zu spät eingelangt. Im Hinblick sowohl auf den Gedanken, der der Ausweitung des Art140 Abs7 B-VG auf solche Fälle zugrunde liegt (s. zB VfSlg. 10.067/1984), als auch auf den Zweck der Setzung einer Frist für das Außer-Kraft-Treten einer Regelung ist kein Grund ersichtlich, der dafür sprechen würde, in diesen Fällen von der Regel des Art140 Abs7 B-VG in dem von der Judikatur präzisierten Sinn abzugehen, die im Wesentlichen auf das Einlangen der Beschwerde vor Beratungsbeginn abstellt. Die Setzung einer Frist gemäß Art140 Abs5 B-VG erfolgt regelmäßig in Fällen, in denen das sofortige Außer-Kraft-Treten einer Regelung wegen der dadurch bewirkten Rechtslücke größere Nachteile mit sich brächte, als die übergangsweise Beibehaltung (und Anwendung) einer als verfassungswidrig erkannten Regelung (Rohregger, in: Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 2003, 6. Lfg., Art140 B-VG, Rz 294 mwN).

3.2. Auch mit Blick auf Art6 und Art7 EMRK kann der Verfassungsgerichtshof keine Notwendigkeit erkennen, von seiner Judikatur zu Art140 Abs7 B-VG abzugehen oder diese Regelung zugunsten der Unanwendbarkeit der mit Erkenntnis vom 6. November 2008, G86,87/08, unter Fristsetzung bis 31. Oktober 2009 aufgehobenen Wortfolge "in dem nur dem Beschuldigten das Recht der Berufung zusteht" in §51 Abs7 VStG - wie die Beschwerdeführer vorbringen - "teleologisch zu reduzieren":

Gemäß Art7 Abs1 Satz 1 EMRK darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem (oder internationalem) Recht nicht strafbar war ("nulla poena sine lege"). Dieses Verbot gesetzloser Bestrafung schließt es aus, auf Grund einer Regelung bestraft zu werden, die im Tatzeitpunkt nicht mehr in Kraft stand (s. EKMR Appl. 1169/61, Yb 1963, 520 [588 ff.]; EKMR Appl. 7721/76, DR 11, 209 [211]). Ob im Tatzeitpunkt ein gültiges Gesetz besteht oder nicht, richtet sich nach dem nationalen Verfassungsrecht (Thienel, in: Korinek/Holoubek [Hrsg.], Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 1999, 1. Lfg., Art7 EMRK, Rz 21 mwN). Maßgeblich ist dabei in erster Linie, ob es für den Normunterworfenen vernünftigerweise voraussehbar war, dass er sich durch sein Verhalten strafbar macht (EKMR Appl. 1169/61, Yb 1963, 520 [588 ff.]; EKMR Appl. 8710/79, DR 28, 77 [82]). Nach dem aus Art6 EMRK abgeleiteten Grundsatz des "nullum judicium sine lege" (nach EGMR 22.6.2000, Fall Coëme ua., Appl. 32.492/96 ua.) müssen auch die Regelungen des Strafverfahrens in diesem Sinne eine Grundlage im Gesetz haben.

Es besteht weder auf Grund von Art6 EMRK noch von Art7 EMRK ein Anlass oder eine Notwendigkeit für eine Erweiterung der bisherigen Judikatur zur Anlassfallwirkung: Wenn der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs5 B-VG eine Frist für das Außer-Kraft-Treten einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung setzt, gehört die betreffende Regelung bis zum Ablauf der Frist der Rechtsordnung an und beansprucht gemäß Art140 Abs7 B-VG für alle bis zum Ablauf der Frist verwirklichten Tatbestände Gültigkeit. Die durch den Spruch des Verfassungsgerichtshofes herbeigeführte Rechtslage hat daher keineswegs dem angefochtenen Bescheid für den Zeitpunkt, zu dem der Bescheid erlassen wurde, die von Art7 EMRK geforderte gesetzliche Grundlage entzogen. Somit ist - abgesehen davon, dass diese Regelungen allesamt in Verfassungsrang stehen - ein Widerspruch zwischen der Regelung des Art140 Abs7 B-VG und dem "nulla poena sine lege"-Grundsatz gemäß Art7 EMRK oder dem "nullum judicium sine lege"-Grundsatz gemäß Art6 EMRK - wonach darauf abzustellen ist, ob ein gültiges und anwendbares Gesetz als Grundlage der Bestrafung oder des Strafverfahrens besteht - nicht erkennbar.

Vor diesem Hintergrund konnte die belangte Behörde ihre Entscheidung - obwohl die 15-monatige Frist ab Einlangen der Berufung bereits abgelaufen war - denkmöglich in Anwendung der Wortfolge "in dem nur dem Beschuldigten das Recht der Berufung zusteht" in §51 Abs7 VStG erlassen. Ob die Entscheidung im Übrigen in jeder Hinsicht rechtmäßig war, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen.

Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.

4. Das Beschwerdeverfahren hat auch nicht ergeben, dass die Beschwerdeführer in einem von ihnen nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden wären; ebenso wenig entstanden - aus der Sicht dieser Beschwerdesachen - verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Bescheiden zugrunde liegenden Rechtsvorschriften. Die Beschwerdeführer wurden mithin auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt.

5. Die Beschwerden sind daher als unbegründet abzuweisen und gemäß Art144 Abs3 B-VG antragsgemäß dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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