VfGH B319/93 ua

VfGHB319/93 ua30.6.1993

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks wegen denkunmöglicher Anwendung einer Bestimmung des FremdenG; sachliche Rechtfertigung des

Ausschlusses der Berufung gegen die Versagung oder Ungültigerklärung eines Sichtvermerks

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
EMRK Art8 Abs2
FremdenG §10 Abs1 Z4
FremdenG §28 Abs2
FremdenG §70
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
EMRK Art8 Abs2
FremdenG §10 Abs1 Z4
FremdenG §28 Abs2
FremdenG §70

 

Spruch:

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern, zu Handen ihrer Rechtsvertreter, die mit je S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) Die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch versagte mit Bescheid vom 28. Jänner 1993 gemäß §10 Abs1 Z4 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, der zu B319/93 beschwerdeführenden Partei - einem minderjährigen türkischen Staatsangehörigen - die beantragte Erteilung eines Sichtvermerkes.

b) Die Bundespolizeidirektion Wien gab mit Bescheiden vom 9. Februar 1993, 9. März 1993 und 17. März 1993 gleichfalls gemäß §10 Abs1 Z4 FrG den Anträgen der zu B504/93, B669/93 und B844/93 beschwerdeführenden Parteien - eines Fremden ungeklärter Staatsangehörigkeit sowie zweier türkischer Staatsangehöriger - auf Erteilung von Sichtvermerken keine Folge.

2. Gegen diese vier Bescheide wenden sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie zu B319/93 und B504/93 darüber hinaus die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (des FrG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide, zu B319/93, B669/93 und B844/93 in eventu die Abtretung der Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Beschwerden sind zulässig:

Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs2 FrG).

In allen Fällen liegt jeweils ein tauglicher Anfechtungsgegenstand vor, nämlich ein Bescheid iS des Art144 Abs1

B-VG.

Dies gilt auch für die zu B669/93 bekämpfte Erledigung. Zwar ist kein Teil dieser Erledigung ausdrücklich als Spruch bezeichnet; dennoch weist sie alle Merkmale eines Bescheides auf; aus der Begründung geht immerhin noch deutlich genug hervor, welcher Norminhalt Rechtsgeltung erlangt, daß nämlich mit dieser Erledigung dem Einschreiter die beantragte Erteilung eines Sichtvermerkes gemäß §10 Abs1 Z4 FrG versagt wird.

Auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.

2. Gemäß §10 Abs1 Z4 FrG ist die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen, wenn der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom heutigen Tag, B302/93, dargetan, daß er gegen §10 Abs1 Z4 FrG keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt.

Auch gegen die sonstigen präjudiziellen Gesetzesbestimmungen sind keine solchen Bedenken entstanden. Die Beschwerdeführer wurden sohin durch die bekämpften Bescheide nicht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.

3. Hingegen verletzen die angefochtenen Bescheide die Beschwerdeführer in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:

a) Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 13. März 1993, G212-215/92 u.a. Zlen., Pkt. IV.3.a, mit näherer Begründung ausgeführt:

"Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des §25 Abs3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen."

Gleiches gilt infolge seiner inhaltlichen Identität mit §25 Abs3 litd PaßG 1969 (siehe das oben zitierte Erkenntnis vom heutigen Tag, B302/93) auch für §10 Abs1 Z4 FrG.

b) Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11.638/1988).

c) Ein derartiger Fehler ist den belangten Behörden in den gegenständlichen Fällen anzulasten:

Die Beschwerdeführer hatten - was den Behörden auch bekannt war - enge familiäre Bindungen in Österreich:

So wohnt der Vater des minderjährigen Beschwerdeführers zu B319/93 in Österreich. Die zu B504/93, B669/93 und B844/93 beschwerdeführenden Parteien sind jeweils mit einem in Österreich lebenden Partner verheiratet.

Die Behörden setzten sich dennoch nicht (ausreichend) mit der Frage auseinander, ob durch die Abweisung der Anträge auf Erteilung von Sichtvermerken das Privat- und Familienleben (Art8 EMRK) der Beschwerdeführer tangiert wird. In dem zu B319/93 angefochtenen Bescheid wird eine Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse ausdrücklich abgelehnt. Zu B669/93 wird in der Bescheidbegründung zwar behauptet, die Ehe sei lediglich zum Zweck der Erlangung eines Befreiungsscheines und der Aufenthaltsberechtigung geschlossen worden; für die Behauptung fehlt aber jede Begründung.

Die belangten Behörden haben damit dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt (vgl. hiezu VfGH 13.3.1993, G212-215/92 u.a. Zlen.).

Die angefochtenen Bescheide waren sohin wegen Widerspruchs zu Art8 EMRK aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von je S 2.500,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

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