VfGH B253/87

VfGHB253/877.12.1987

Freiwillige Folgeleistung einer Aufforderung zum Gendarmeriepostenkommando mitzukommen - keine Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt; Zurückweisung in diesem Umfang

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Art8 StGG;

unvertretbare Annahme der Fluchtgefahr iSd §35 litb VStG;

Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch (als Festnahme zu qualifizierende) zwangsweise Vorführung vom Gendarmeriepostenkmmando zur Bezirkshauptmannschaft; die Kosten waren gegeneinander aufzuheben

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung
StGG Art8
PersFrSchG
VStG 1950 §35 litb
ZPO §43 Abs1
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung
StGG Art8
PersFrSchG
VStG 1950 §35 litb
ZPO §43 Abs1

 

Spruch:

1. Der Bf. ist durch die am 5. Feber 1987 um etwa 13,45 Uhr stattgefundene Vorführung vom Gendarmerieposten Gisingen zur Bezirkshauptmannschaft Feldkirch und durch die Anhaltung bei dieser Behörde bis zur Ausfolgung des Schubhaftbescheides um 15,00 Uhr im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

2. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

3. Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der unter Berufung auf Art144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG erhobenen Beschwerde wird vorgebracht:

Der Bf. (ein türkischer Staatsangehöriger) sei am 5. Feber 1987 um 11,00 Uhr von Gendarmeriebeamten in seiner Wohnung festgenommen und zwangsweise zum Gendarmerieposten (GP) Gisingen gebracht worden. Nach seiner niederschriftlichen Einvernahme sei er der Bezirkshauptmannschaft (BH) Feldkirch vorgeführt worden. Dort seien über ihn ein Aufenthaltsverbot und die Schubhaft verhängt worden. Der Schubhaftbescheid sei ihm um etwa 15,00 Uhr ausgefolgt worden.

Der Bf. beantragt, kostenpflichtig festzustellen, daß er durch die Festnahme (11,00 Uhr) und die folgende Anhaltung bis zur Übernahme des Schubhaftbescheides (15,00 Uhr) im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

2. Die BH Feldkirch erstattete unter Vorlage der Verwaltungsakten eine Gegenschrift, in der sie begehrt, die Beschwerde als unbegründet kostenpflichtig abzuweisen. Sie behauptet, der Bf. sei den Beamten freiwillig zum GP Gisingen gefolgt, um dort wegen des Verdachtes einer gerichtlich strafbaren Handlung einvernommen zu werden. Im Zuge der Amtshandlung habe sich herausgestellt, daß der Bf.

Übertretungen nach dem Meldegesetz und dem Paßgesetz begangen habe. Wegen Fluchtgefahr sei er nach §35 (litb) VStG der BH Feldkirch vorgeführt worden. Dort sei ein Verwaltungsstrafverfahren durchgeführt und schließlich über den Bf. bescheidmäßig die Schubhaft verhängt worden.

II. 1. Der VfGH hat Beweis erhoben durch die im Rechtshilfeweg erfolgten Einvernahmen der einschreitenden Gendarmeriebeamten Bez.Insp. L H und Bez.Insp. G S, der die Amtshandlung der BH Feldkirch führenden Landesangestellten A B und D E und der Gattin des Bf. M Ö als Zeugen, sowie durch Einsichtnahme in den Akt der BH Feldkirch, Zl. III 1-5/10/87, und der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg, Zl. FrB-4250/87.

Aufgrund dieser Beweise steht unter Bedachtnahme auf das Parteienvorbringen folgender Sachverhalt fest:

a) Die Gendarmeriebeamten H und S erschienen am 5. Feber 1987 gegen 10,30 Uhr in der Wohnung des Bf., den sie verdächtigten, eine Scheinehe eingegangen zu sein. Die Beamten wollten den Bf. darüber befragen und ersuchten ihn, deshalb mit ihnen zum GP Gisingen zu fahren. Er kam diesem Ersuchen nach. Die Beamten sprachen weder formell eine Festnahme aus, noch wendeten sie Gewalt an, noch drohten sie direkt oder indirekt Gewaltanwendung oder sonstige Nachteile für den Fall an, daß sich der Bf. geweigert hätte, den Beamten zum GP Gisingen zu folgen.

Am Gendarmerieposten wurden der Bf. und später auch seine Gattin einvernommen.

Die Staatsanwaltschaft Feldkirch hat in der Folge die gegen den Bf. wegen Verdachtes der Täuschung nach §108 Abs1 StGB erstattete Strafanzeige zurückgelegt.

b) Im Zuge der vorhin geschilderten Amtshandlung stellten die Gendarmeriebeamten fest, daß der Sichtvermerk des Bf. abgelaufen sei. Sie traten deshalb mit dem fremdenpolizeilichen Referenten der BH Feldkirch, dem Zeugen E, telefonisch in Verbindung, der sich dahin äußerte, es liege ein Festnahmegrund vor, der Bf. möge vorgeführt werden.

Diesem Auftrag kamen die Gendarmeriebeamten nach. Sie überstellten den Bf. um etwa 13,45 Uhr zur BH Feldkirch. Dort wurden gegen ihn Verwaltungsstrafverfahren wegen Übertretung des Meldegesetzes und des Paßgesetzes durchgeführt und Bescheide erlassen, mit denen über ihn ein Aufenthaltsverbot und die Schubhaft verhängt wurden. Beide Bescheide wurden ihm gegen 15,00 Uhr ausgefolgt. In der Folge wurde er im Landesarrest in Bludenz angehalten und am 6. Feber 1987 außer Landes geschafft.

2. Die Beschwerdebehauptung, der Bf. sei am 5. Feber 1987 um 11,00 Uhr in seiner Wohnung festgenommen worden, ist nicht bloß durch die schlüssigen Zeugenaussagen der einschreitenden Gendarmeriebeamten H und S, sondern auch durch jene der Gattin des Bf. widerlegt, die angab: "Von einer Festnahme war überhaupt nicht die Rede, sondern nur von einem Protokoll", und die auf die Frage, ob Gewalt angewendet wurde, antwortete: "In keiner Weise. Mein Ehegatte ging freiwillig mit."

Die Aussagen der beiden Gendarmeriebeamten, ob ihnen der Bf. - nachdem die Amtshandlung wegen des Verdachtes der Scheinehe abgeschlossen war - freiwillig zur BH Feldkirch gefolgt oder dorthin (zwangsweise) vorgeführt wurde, sind undeutlich. Der Bf. selbst konnte nicht vernommen werden, da er sich (angeblich) in der Türkei aufhält.

Dennoch folgt der VfGH hier den Beschwerdebehauptungen. Die Gendarmeriebeamten und die Beamten der BH Feldkirch sagten glaubwürdig aus, daß der fremdenpolizeiliche Sachbearbeiter, der Zeuge E, den Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen und die Vorführung angeordnet habe. Unter diesen Umständen ist es völlig unwahrscheinlich, daß die Gendarmeriebeamten den Bf. auch diesmal zum freiwilligen Mitkommen einluden; vielmehr wurde er - ohne lange gefragt zu werden - gegen seinen Willen der BH Feldkirch vorgeführt; im Falle der Weigerung mußte er mit der Anwendung von Gewalt rechnen.

III. Der VfGH beurteilt diesen Sachverhalt rechtlich wie folgt:

1. Der Bf. behauptet, am 5. Feber 1987 um etwa 11,00 Uhr in seiner Wohnung festgenommen und dadurch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden zu sein.

Der Begriff der Verhaftung iS des - auf Verfassungsstufe stehenden (Art149 Abs1 B-VG) - Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit, erfaßt zwar alle unmittelbaren Freiheitsbeschränkungen, auch wenn diese nicht formell als Verhaftung verfügt worden sind (vgl. zB VfSlg. 9494/1982, 10526/1985).

Dennoch ist das in Beschwerde gezogene Verhalten der Gendarmeriebeamten nicht als Verhaftung iS des zitierten Gesetzes zu werten.

Der Bf. wurde weder formell festgenommen noch war der Wille der einschreitenden Beamten - objektiv - darauf gerichtet, seine Freiheit zu beschränken. Der von den Beamten geäußerte Wunsch, der Bf. möge mit ihnen zum Gendarmerieposten kommen, stellte keinen - sofortige Befolgung heischenden - Befehl dar, bei dessen Nichtbefolgung er mit der Ausübung von körperlichem Zwang zu rechnen gehabt hätte.

Das damit in Beschwerde gezogene Geschehen bildet auch sonst keinen tauglichen Gegenstand für eine Anfechtung iS des Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG. Die Beschwerde war demnach in diesem Umfang gemäß §19 Abs3 Z2 lita VerfGG wegen offenbarer Nichtzuständigkeit des VfGH zurückzuweisen (vgl. zB VfSlg. 8879/1980, 9494/1982, 10526/1985).

2. Hingegen ist die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Vorführung vom GP Gisingen zur BH Feldkirch wendet, zulässig und berechtigt:

a) Es stand, wie sich aus der Sachverhaltsschilderung (s.o.II.) ergibt, dem Bf. nicht frei, das Erscheinen bei der BH Feldkirch abzulehnen. Er mußte vielmehr damit rechnen, daß er im Falle der Weigerung unter Anwendung von körperlicher Gewalt zur BH Feldkirch vorgeführt werden würde.

Die über Auftrag der BH Feldkirch erfolgte Vorführung des Bf. ist sohin als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu werten, die nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim VfGH bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 10020/1984).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde in diesem Umfang zulässig.

b) Durch die Vorführung und die Anhaltung bei der BH Feldkirch wurde der Bf. in seiner persönlichen Freiheit beschränkt (vgl. zB VfSlg. 10020/1984).

Diese - ohne richterlichen Haftbefehl erfolgte Freiheitsbeschränkung wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn es sich dabei um einen vom Gesetz bestimmten Fall handelte, in dem die zur Anhaltung berechtigten Personen der öffentlichen Gewalt gemäß §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, eine Person in Verwahrung nehmen dürfen (vgl. zB VfSlg. 8180/1977, 10020/1984).

Hiezu zählt auch die Bestimmung des §35 VStG 1950, auf dessen litb sich die bel. Beh. erkennbar beruft. Die Fluchtgefahr sei begründet gewesen, "da der Fremde" (der Bf.) "sich schon ca. 1/2 Jahr ohne polizeilich erfaßt werden zu können, im Bundesgebiet aufhielt".

Der VfGH hat bereits wiederholt dargetan (zB VfSlg. 3154/1957, 7060/1973, 8961/1980), daß für die begründete Annahme von Fluchtgefahr konkrete Umstände vorliegen müssen. Solche Umstände waren hier nicht gegeben: Die Ehefrau des Bf. ist österreichische Staatsbürgerin; sie hat ihren ständigen Wohnsitz in Österreich. Den einschreitenden Beamten war bekannt, daß sich der Bf. in seiner ehelichen Wohnung aufhielt. Er war - wie dargetan - den Gendarmeriebeamten freiwillig von dort zum GP Gisingen gefolgt. Unter diesen Umständen war es höchst unwahrscheinlich, daß er sich der Strafverfolgung zu entziehen suchen werde, zumal er bloß verdächtig war, Verwaltungsübertretungen begangen zu haben, die nicht mit besonderer Strenge sanktioniert sind. Die Beamten konnten weder annehmen, daß der Bf. im Inland "untertauchen" (bestand doch damals gegen ihn kein Aufenthaltsverbot), noch daß er ins Ausland flüchten werde (war es doch gerade seine erkennbare Absicht, nicht in seinem Heimatland, sondern in Österreich zu wohnen).

Die als Festnahme zu qualifizierende zwangsweise Vorführung des Bf. zur BH Feldkirch findet also im §35 litb VStG schon mangels der gerechtfertigten Annahme von Fluchtgefahr keine Deckung. Der Bf. ist mithin durch diese Maßnahme im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Die nach der um 15,00 Uhr erfolgten Zustellung des Schubhaftbescheides stattgefundene Anhaltung des Bf. ist nicht angefochten; mit ihr hat sich der VfGH daher nicht auseinanderzusetzen.

3. Da beide Parteien teils obsiegt haben und teils unterlegen sind, waren die Kosten gemäß §43 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VerfGG gegeneinander aufzuheben (vgl. zB VfSlg. 10363/1985).

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