OGH 9ObA201/90

OGH9ObA201/9026.9.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith und Dr. Petrag sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Wolfgang Dorner und Gerald Kopecky als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Theresia I***, Reinigungsfrau, Enns, Südtirolerstraße 13, vertreten durch Dr. Franz Gütlbauer, Rechtsanwalt in Wels, wider die beklagte Partei Franz S***, Zugmaschinenfahrer, Bad Zell, Aich 79, vertreten durch Dr. Eduard Saxinger und Dr. Peter Baumann, Rechtsanwälte in Linz, wegen 411.000 S sA und Feststellung (Streitwert 50.000 S), Revisionsstreitwert: 164.400 S sA und Feststellung (Streitwert - richtig - 20.000 S), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. April 1990, GZ 12 Ra 28/90-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 16.Jänner 1990, GZ 15 Cga 76/89-14, teils bestätigt, teils abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei einen Betrag von 308.250 S samt 4 % Zinsen seit 5.Jänner 1989 binnen 14 Tagen bei Exekution zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die beklagte Partei der klagenden Partei für alle zukünftigen Schäden aus dem Unfall, der sich am 1. April 1988 in Linz auf dem Betriebsgelände der V*** A*** AG ereignete, zur Hälfte haftet.

Das auf Zahlung von 102.750 S samt 4 % Zinsen seit 5.Jänner 1989 sowie auf Feststellung der Haftung der beklagten Partei für ein weiteres Sechstel der künftigen Schäden gerichtete Mehrbegehren wird abgewiesen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei an Kosten des Verfahrens erster Instanz 37.430,75 S (darin 368,75 S Barauslagen und 6.177 S Umsatzsteuer), an Kosten des Berufungsverfahrens 1.673,10 S (darin 278,85 S Umsatzsteuer) und an Kosten des Revisionsverfahrens 1.852,65 S (darin 308,78 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen. Die beklagte Partei haftet für den Ersatz der Beträge, von deren Entrichtung die klagende Partei gemäß § 64 Abs 1 Z 1 ZPO einstweilen befreit war, wie folgt: Verfahren erster Instanz zu 75 %, Verfahren zweiter und dritter Instanz zu 62,5 %.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 1.April 1988 ereignete sich auf dem Werksgelände der V*** A*** AG in Linz gegen 19.45 Uhr ein Unfall. Der Beklagte fuhr mit einem Gabelstapler zum Grobblechwalzwerk Z 1 Tor 24 und stieß die aus der Halle entgegenkommende Klägerin nieder. Die Klägerin wurde dabei schwer verletzt.

Die Klägerin begehrte - unter Anrechnung eines Mitverschuldens von einem Drittel - an Schmerzengeld, Kosten der Haushaltsführung, Pflegeaufwand, Fahrtkosten und Trinkgeldern einen Betrag von 411.000 S sA sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten mit einer Quote von zwei Drittel für künftige Schäden. Der Beklagte sei nicht auf Sicht gefahren und habe es an der nötigen Vorsicht und Aufmerksamkeit fehlen lassen; überdies hätte er sich eines Einweisers bedienen müssen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin habe den Unfall allein verschuldet.

Das Erstgericht gab dem Leistungsbegehren mit 369.900 S sA statt und stellte die Haftung des Beklagten für künftige Schäden mit einer Quote von drei Fünftel fest.

Es stellte folgenden im Revisionsverfahren noch wesentlichen Sachverhalt fest:

Das Tor der Halle 24 hat eine lichte Weite von 4,90 m. Wenn man aus der Gehrichtung der Klägerin hallenauswärts durch dieses Tor kommt, sieht man den Bereich vor der Halle über zumindest 15 m ein. Man hat von dort auch Sicht auf die 120 m entfernte gegenüberliegende Halle (Tor 40). Der Bereich rechtsseitig außerhalb des Tores (aus der Gehrichtung der Klägerin gesehen) ist vorerst nicht voll einzusehen. Die Sicht bessert sich bei Annäherung an das Tor. Der Beklagte fuhr mit dem ein Eigengewicht von rund 40 Tonnen aufweisenden und mit einer 17 Tonnen schweren Blechrolle beladenen Stapler im Rückwärtsgang aus dem Tor 40, wendete am Vorplatz und näherte sich in leicht schräger Anfahrtslinie mit einer Geschwidigkeit von rund 10 km/h dem Tor 24. Der Stapler war hörbar, doch bestand kein besonders auffälliger Geräuschunterschied zum normalen Hallenlärm. Im Unfallszeitpunkt war es dunkel; der Beklagte hatte die Beleuchtung sowie die orangefarbenen Drehlichter auf dem Dach des Staplers eingeschaltet. Als die Klägerin erstmals Sicht auf den Stapler hatte, war sie ca. 7 m und der Stapler ca. 14 m von der Kollisionsstelle entfernt. Die Klägerin ging mit einer (normalen) Gehgeschwindigkeit von etwa 1,5 m pro Sekunde über zumindest 5 Sekunden dem Stapler frontal entgegen, ohne ihre Gehlinie auf ihn einzustellen. Über die gesamte Zeitspanne konnte die Klägerin den Stapler hören und sehen, da zumindest eine der beiden Drehleuchten ständig in ihrem Sichtbereich war. Der Beklagte fuhr mit dem Stapler, aus dem eine Sicht nach vorne praktisch nicht möglich war, ohne Zuhilfenahme eines Einweisers auf das Tor 24 zu und bemerkte die Klägerin erst, als sie sich unmittelbar vor dem rechten Zwillingsrad des Staplers befand. Der Beklagte bremste sofort, konnte jedoch nicht verhindern, daß die Klägerin vom Stapler niedergestoßen und überrollt wurde. Der Beklagte hätte den Unfall dadurch verhindern können, daß er such bloß "vorgetastet" hätte. Eine ausreichende Sicherheit wäre im Hinblick auf den großen Bereich, den der Lenker nicht einsehen konnte, nur bei Verwendung eines Einweisers gegeben gewesen. Der Beklagte fuhr ebenso wie seine Arbeitskollegen ohne Einweiser. Unter den Staplerfahrern wurde vor dem Unfall über die große Gefahr zwar diskutiert, ein Einweiser aber nicht gefordert. Erst seit dem gegenständlichen Unfall ist die Beiziehung eines Einweisers vorgeschrieben. Seither fährt der Beklagte nur mehr mit Einweiser.

Die Klägerin erlitt einen oberen und unteren Schambeinastbruch links mit einem Decollement der Haut und einem späteren Serom. Das rechte Bein wurde einschließlich des Oberschenkels amputiert. Das Erstgericht vertrat die Rechtsauffassung, daß den Beklagten ein schwerwiegendes Verschulden treffe, weil er den rund 50 bis 60 Tonnen schweren Stapler trotz fehlender Sicht nach vorne ohne Zuhilfenahme eines Einweisers gelenkt habe, obwohl ihm die große Unfallgefahr und die Abhilfemöglichkeit bekannt gewesen seien. Der Beklagte hätte seinen Arbeitgeber auf die Gefährlichkeit hinweisen und Abhilfe durch Beistellung eines Einweisers verlangen müssen; angesichts der besonderen Gefahr für das Leben und die Gesundheit der anderen Arbeitnehmer müsse es dem Beklagten zugemutet werden, die Befolgung einer allfälligen Anordnung des Arbeitgebers, ohne Einweiser zu fahren, zu verweigern. Würde man hingegen vom Beklagten fordern, sich bloß vorzutasten, wäre der Einsatz des Staplers überhaupt in Frage gestellt, da dies ein zentimeterweises Vorwärtsfahren mit häufigem Stehenbleiben über mehrere 100 m bedeuten würde. Die Klägerin treffe allerdings ein erhebliches Mitverschulden, weil sie 5 Sekunden oder 7 Meter reaktionslos auf den in seinem Erscheinungsbild überaus massigen und nicht zu übersehenden Stapler frontal zugegangen sei. Auch ihr Verschulden sei als schwerwiegend einzustufen, doch überwiege das Verschulden des Beklagten, da diesem die besondere Gefährlichkeit seines Fahrzeuges bewußt gewesen sei bzw. bewußt sein mußte. Das Erstgericht gelangte daher zu einer Verschuldensteilung von 3 : 2 zu Lasten des Beklagten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei - die Klägerin ließ die Abweisung ihres Mehrbegehrens

unbekämpft - teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß (unter Abweisung des Mehrbegehrens) dem Klagebegehren mit nur 205.500 S sA unter Feststellung einer Haftung des Beklagten mit einer Quote von einem Drittel stattgegeben wurde. Das Berufungsgericht vertrat die Rechtsauffassung, daß der Arbeitnehmer grundsätzlich darauf vertrauen könne, daß der Arbeitgeber für alle zur Verhütung von Unfällen notwendigen Maßnahmen sorge. Das schwerwiegendere Verschulden treffe daher den Arbeitgeber und nicht den Beklagten, der nicht von sich aus auf die erforderlichen Schutzmaßnahmen aufmerksam gemacht habe. Gegenüber der groben Sorglosigkeit und Unaufmerksamkeit der Klägerin sei das Verschulden des Beklagten mit einem Drittel zu bewerten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, es im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise berechtigt.

Zu Recht wendet sich die Revisionswerberin gegen die durch das Berufungsgericht vorgenommene Verschuldensteilung zu ihren Lasten. Zieht man in Betracht, daß der Beklagte trotz Kenntnis der daraus für Leben und Gesundheit anderer Arbeitnehmer resultierenden Gefahr praktisch ohne Sicht nach vorne fuhr, ohne einen Einweiser auch nur zu verlangen, dann ist der Aufmerksamkeitsfehler der Klägerin, die aus der erleuchteten Halle kam und für die infolge des dort herrschenden Lärms das Motorengeräusch des Staplers nicht besonders auffällig sein mußte und die überdies anders als eine die Fahrbahn unter Verstoß gegen § 76 StVO überquerende Fußgängerin nicht rechtswidrig handelte, nicht als schwerwiegender aber auch nicht als weniger gravierend einzustufen als das Fehlverhalten des Beklagten, bei dessen Bewertung zu berücksichtigen war, daß entsprechende Sicherheitsvorkehrungen in erster Linie Sache des gemeinsamen Arbeitgebers der Streitteile gewesen wäre.

Der Revision der klagenden Partei war daher teilweise Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 43 Abs 1 und 2 sowie 50

ZPO.

Was die Kosten des Verfahrens erster Instanz betrifft, war der Klägerin im Hinblick auf den Entfall einer ersten Tagsatzung gemäß § 23 Abs 6 RAT für die Klage der doppelte Einheitssatz zuzuerkennen. Hingegen war der nur durch die Unterlassung des Zusatzes gemäß § 36 ASGG in der Klage veranlaßte Überweisungsantrag nicht zu honorieren. Besondere Umstände, welche die Beiziehung eines weder am Wohnort der Klägerin noch am Sitz des angerufenen Gerichtes ansässigen Rechtsanwaltes erforderten, hat die Klägerin weder behauptet noch bescheinigt, sodaß ihr für die Tagsatzungen nur der einfache Einheitssatz zuzuerkennen war. Schließlich war der Antrag auf Ladung des gerichtsärztlichen Sachverständigen zur Erörterung des schriftlichen Gutachtens im Hinblick auf seinen notwendigen Inhalt nur nach TP 1 RAT zu honorieren. Da die Klägerin mit rund drei Viertel ihres in erster Instanz erhobenen Begehrens obsiegt hat, war ihr die Hälfte ihrer sich mit 74.861,50 S ergebenden Kosten des Verfahrens erster Instanz zuzuerkennen. Bei Bemessung der Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens war zu berücksichtigen, daß der abweisende Teil sowie der der Klage mit 195.500 S sA (bzw. 205.500 S sA) und dem entsprechenden Teil des Feststellungsbegehrens stattgebende Teil des Ersturteils (bzw. des Berufungsurteils) unbekämpft blieben. Da die Klägerin demnach im Rechtsmittelverfahren - vernachlässigt man gemäß § 43 Abs 2 ZPO das geringfügige Unterliegen der beklagten Partei in der vom richterlichen Ermessen abhängigen Frage der Schmerzengeldbemessung - mit 62,5 % obsiegt hat, waren ihr 25 % ihrer auf diese Verfahrensabschnitte entfallenden Kosten zuzuerkennen. Der Kostenrekurs der Klägerin gegen das Ersturteil war nicht zu behandeln, weil mit der gegenüber dem Ersturteil erfolgten Abänderung in der Hauptsache - anders als im Falle der Wiederherstellung des Ersturteils - auch die bekämpfte Kostenentscheidung endgültig beseitigt wurde; der Oberste Gerichtshof hatte unabhängig davon, ob die Kostenentscheidung des Erstgerichtes bekämpft worden war, über die Kosten neu abzusprechen. Die Kosten des Rekurses gegen einen infolge Abänderung der Sachentscheidung gegenstandslos gewordenen Kostenausspruch konnten daher nicht als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig zuerkannt werden (ähnlich 1 Ob 701/89). Der Ausspruch über die Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz der in § 64 Abs 1 Z 1 ZPO genannten Beträge, von deren Bestreitung die Klägerin einstweilen befreit war, beruht auf den §§ 70 und 43 Abs 1 letzter SatzZPO.

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