OGH 9ObA109/03z

OGH9ObA109/03z17.3.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug und Mag. Thomas Kallab als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Ernst U*****, Arbeiter, *****, vertreten durch Dr. Thomas Stampfer und Dr. Christian Orgler, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei W***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Stefan Herdey, Rechtsanwalt in Graz, wegen EUR 275,47 brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. Juni 2003, GZ 8 Ra 12/03a-14, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. November 2002, GZ 30 Cga 119/02g-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 166,65 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin EUR 27,77 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war vom 9. 4. 2001 bis zum 22. 3. 2002 bei der Beklagten als Maurer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis war der Kollektivvertrag für Bauindustrie und Baugewerbe (in der Folge: KV) anzuwenden.

In den Kalenderwochen 37 bis 41 des Jahres 2001 war der Kläger auf einer Baustelle in Linz im Einsatz. Die Beklagte stellte ihm in dieser Zeit ein Quartier in Baustellennähe zur Verfügung. Der Kläger wurde jeden Montag um 4:00 Uhr in der Früh mit dem Firmenbus von zu Hause abgeholt und am Ende der Arbeitswoche (Donnerstag oder Freitag) so zurückgebracht, dass er um ca. 20:30 Uhr wieder zu Hause eintraf. Die Fahrzeit für die Wochenendheimfahrt betrug jeweils ca 6 Stunden und lag zur Gänze außerhalb der Normalarbeitszeit.

Der Kläger begehrt den Zuspruch von EUR 275,47 brutto sA als Entgelt für die Fahrten vom Wohnort zur Baustelle nach Linz und retour. Diese seien - da das beigestellte Quartier am Wochenende habe geräumt werden müssen - ausdrücklich angeordnet gewesen. Anspruchsgrundlage sei die Bestimmung des § 9 IV. des KV, nach der dem Arbeitnehmer die Inanspruchnahme seiner Zeit durch den Arbeitgeber in jenen Fällen abzugelten sei, in denen der Arbeitnehmer über Auftrag des Arbeitgebers für den Weg zu einer auswärtigen Arbeitsstätte einen zeitlichen Mehraufwand habe.

Die Beklagte beantragte, das Klagebegehren abzuweisen. Bei der Tätigkeit des Klägers habe es sich nicht um eine "kurzfristige Abordnung" iSd § 9 IV. Z 1 lit b des KV gehandelt. Der Kläger habe Trennungsgeld bezogen, was den Bezug von Fahrtkostenvergütung und Wegegeld ausschließe. Die Beförderung des Klägers sei außerhalb der Normalarbeitszeit erfolgt. Reisestunden seien aber nur zu entlohnen, wenn sie in der Normalarbeitszeit anfielen oder Zeiten produktiver Arbeit seien.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.

Nach § 20b Abs 1 AZG seien Reisezeiten als entgeltpflichtige Arbeitszeit anzusehen. Auch der KV sehe eine Abgeltung der Reisezeiten für Arbeitnehmer, die vom Arbeitgeber von einer Arbeitsstelle auf eine andere oder zu kurzfristigen Arbeiten abgeordnet würden, vor. Mit dieser Regelung werde der Besonderheit der Arbeitsleistungen eines Arbeiters im Baugewerbe Rechnung getragen, der seine Arbeit großteils an auswärtige Arbeitsstätten verrichte.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Die Zeit, die der Arbeitnehmer brauche, um den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte zurückzulegen, sei grundsätzlich nicht als Arbeitszeit zu beurteilen, weil sie vor Dienstbeginn oder nach Dienstende liege. Gemäß § 2 Abs 1 Z 1 AZG sei als Arbeitszeit iSd AZG die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen definiert. Ob und in welchem Ausmaß solche Zeiten dennoch zu honorieren seien, hänge vom anzuwendenden Kollektivvertrag ab. Dabei sei zunächst zu prüfen, was als Arbeitsort des Klägers anzusehen sei. Diese Frage richte sich primär nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages. Bei Bauarbeitern ergebe sich die Besonderheit, dass der regelmäßige Mittelpunkt ihres tatsächlichen Tätigwerdens, somit ihr Arbeitsort, regelmäßig wechsle, weil sie auf verschiedenen Baustellen zum Einsatz gelangen. Mangels anderer Anhaltspunkte müsse das auch für den Kläger gelten, der lediglich behauptet habe, er sei während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses fünf Wochen in Linz eingesetzt gewesen. § 9 IV. Z 1 lit b des KV sei nicht anwendbar, weil diese Bestimmung die Honorierung von Reisestunden nur für den hier nicht gegebenen Fall der Abordnung des Arbeitnehmers von einer Arbeitsstelle auf eine andere oder zu kurzfristigen Arbeiten vorsehe.

Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil es um die Auslegung eines für viele Arbeitnehmer geltenden Kollektivvertrages gehe und dazu gesicherte Rechtsprechung fehle.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, es im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, zumal die vom Berufung zu Recht zitierte Rechtsprechung aus der Zeit vor der Schaffung der vom Erstgericht ins Treffen geführten Bestimmung des § 20b AZG stammt.

Die Revision ist aber nicht berechtigt.

Das Erstgericht hat seine Rechtsauffassung, die hier zu beurteilenden Fahrzeiten des Klägers seien als Arbeitszeit zu qualifizieren, mit der durch die AZG-Novelle 1997 eingeführten Bestimmung des § 20b AZG begründet, aus der es abgeleitet hat, dass Reisezeiten - ungeachtet ihrer Qualifizierung als aktiv oder passiv - jedenfalls entgeltpflichtige Arbeitszeiten seien. Dem schließt sich auch der Kläger an: Der Zeitraum, der für die An- und Abreise vom Ort benötigt werde, an dem die auswärtige Tätigkeit verrichtet werden solle, sei grundsätzlich Arbeitszeit. Dies habe zur Folge, dass Reisezeiten eines Bauarbeiters, zu dessen ständigen Aufgabenkreis die Arbeit an auswärtigen Baustellen gehöre, stets Arbeitszeit seien.

Diese Ausführungen verkennen den Unterschied zwischen den nicht zur Arbeitszeit zählenden Wegezeiten und den davon zu unterscheidenden, als Arbeitszeit zu qualifizierenden Reisezeiten.

"Wegezeit" ist jene Zeit, die der Arbeitnehmer für den Weg von der Wohnung (oder der sonstigen Stätte, an der er gerade Freizeit verbringt) zur Arbeitsstätte und zurück benötigt. Sie zählt nicht zur Arbeitszeit. Ob und inwieweit solche Zeiten ausnahmsweise zu vergüten sind, hängt von einzel- oder kollektivvertraglichen Vereinbarungen ab (Klein in Cerny/Klein/Schwarz, AZG 97; Grillberger, AZG² 22; Arb 11.083; Arb 10.180 ua).

Davon zu unterscheiden sind die - zur (zu entlohnenden) Arbeitszeit zählenden - "Reisezeiten" (Dienstreisen). Dabei handelt es sich um Zeiten, in denen der Arbeitnehmer über Auftrag des Arbeitgebers vorübergehend seinen Dienstort (seine Arbeitsstätte) verlässt, um an anderen Orten seine Arbeitsleistung zu erbringen, sofern der Arbeitnehmer während der Reisebewegung keine Arbeitsleistung zu erbringen hat (§ 20b Abs 1 AZG, der insofern keine Änderung zur schon vorher bestandenen Rechtsprechung gebracht hat; vgl dazu auch Klein in Cerny/Klein/Schwarz, AZG 292 ff; Grillberger, AZG² 22).

Im Gegensatz zur Meinung des Klägers ist nicht jede Reisetätigkeit Reisezeit iSd § 20b AZG und damit Arbeitszeit. Vielmehr kommt es darauf an, dass der Arbeitnehmer einen - gewöhnlichen - Dienstort hat, den er vorübergehend verlässt, um an einem anderen Ort seine Arbeitsleistung zu erbringen (Grillberger, AZG² 22f).

Der Ort, an dem sich der Arbeitnehmer zur Arbeit einzufinden hat (Dienstort, Arbeitsstätte), ergibt sich aus der individuellen Vereinbarung bzw ihrer Auslegung (Verkehrssitte). Er ergibt sich meist schlüssig aus dem Standort des Betriebs, doch können Natur und Zweck (§ 905 ABGB) des Arbeitsverhältnisses auch wechselnde Arbeitsorte innerhalb eines bestimmten Bereichs ergeben. Arbeitsort eines Arbeitnehmers ist somit der regelmäßige Mittelpunkt seines tatsächlichen Tätigwerdens, der mit dem Betriebsort bzw der Zentrale des Unternehmens, bei dem der Arbeitgeber beschäftigt ist, nicht zusammenfallen muss (Arb 11.083; Arb 10.194). Je nach Art der Tätigkeit kann er daher wechseln oder einen engeren Bereich bedeuten. Bei Bauarbeiten wird im Zweifel angenommen, dass sie sich auf der jeweiligen Baustelle einzufinden haben (Grillberger, AZG² 22; Arb 11083; Arb 10.180; Arb 8.565; Arb 8.493 uva).

Im hier zu beurteilenden Fall hat der Kläger gar nicht behauptet, dass er nach dem Arbeitsvertrag nur am Sitz des Unternehmens (oder an einem anderen bestimmten Ort) hätte eingesetzt werden dürfen und die Arbeitsleistung in Linz daher eine vorübergehende Tätigkeit außerhalb des vereinbarten Arbeitsbereichs gewesen sei. Der eben wiedergegebenen Grundregel entsprechend, ist daher davon auszugehen, dass sein Dienst an der jeweiligen Baustelle begonnen hat und die zu deren Erreichung sowie zur Rückkehr an den Ausgangsort zurückgelegte Zeit nicht als Reise- sondern als Wegzeit zu qualifizieren ist (Arb 10.180; Arb 8.565).

Dass diese Wegezeit nach der vom Kläger ins Treffen geführten Bestimmung des § 9 IV. Z 1 lit b des KV zu entlohnen ist, trifft nicht zu. Die genannte Norm gilt nach ihrem klaren Wortlaut für Arbeitnehmer, die vom Arbeitgeber von einer Arbeitsstelle auf eine andere Arbeitsstelle oder zu kurzfristigen Arbeiten abgeordnet werden. Dies ist aber beim Kläger - wie sich aus den eben angestellten Überlegungen über seinen Dienstort ergibt - nicht der Fall. Im Sinne der dargestellten Rechtslage ist als Arbeitsstelle des Klägers die jeweilige Baustelle anzusehen, sodass § 9 IV. Z 1 lit b des KV nur dann zum Tragen gekommen wäre, wenn der Kläger vom Arbeitgeber von der jeweiligen Baustelle zu kurzfristigen Arbeiten an einen anderen Ort bzw an eine andere Arbeitsstelle abgeordnet worden wäre. Das war aber hier nicht der Fall, weil die vom Kläger angesprochenen Fahrzeiten sämtlich während der Tätigkeit auf der damals seine Arbeitsstelle bildenden Baustelle aufgewendet wurden und keine vorübergehende Abordnung zu einer anderen Baustelle betroffen haben.

Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichtes ist daher zutreffend.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.

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