OGH 9Ob64/20g

OGH9Ob64/20g24.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau, Hon.‑Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner und Mag. Korn in der Rechtssache der klagenden Partei Ö* Post AG, *, vertreten durch Koller & Schreiber Rechtsanwälte Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei D* Post AG, *, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 28.191,24 EUR sA (Rekursinteresse jeweils 24.857,43 EUR sA), über die Rekurse der klagenden und der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht 16. September 2020, GZ 12 R 81/19y-28, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 10. Mai 2019, GZ 53 Cg 77/17h‑22, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131654

 

Spruch:

 

Den Rekursen wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts unter Einschluss seines in Rechtskraft erwachsenen Teils wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 2.289,12 EUR (darin 381,52 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 4.727,76 EUR (darin 1.431 EUR Barauslagen, 549,06 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die österreichische Klägerin begehrte von der deutschen Beklagten 28.191,24 EUR an Schadenersatz für die Zustellung von Sendungen vom 21. 6. 2016 bis zum 31. 12. 2016. Die Beklagte habe von den Ö*, einer Gesellschaft mit Sitz in Wien, in dieser Zeit insgesamt 630.000 Sendungen mit Kundenkarten übernommen, um diese an Kunden in Österreich liefern zu lassen. Die Beklagte habe die Sendungen an der österreichisch-deutschen Grenze an die Klägerin übergeben und ihr eine Endvergütung für die weitere Zustellung in Österreich gezahlt. Hätten die Ö* die Sendungen in Österreich aufgegeben, so hätten die Ö* der Klägerin ein höheres Inlandsporto zahlen müssen. Die Ö* hätten sich der in Dresden ansässigen *card GmbH als Erfüllungsgehilfin für die Fertigung und Kuvertierung der Kundenkarten bedient. Der Inhalt sei zur Gänze von den Ö* konzipiert gewesen. Die Ö* seien als Absender aufgeschienen und als solche zu qualifizieren. Die von der *card GmbH für die Ö* in Deutschland erbrachten Leistungen (Herstellung der Karten etc) würden im Verhältnis zum Porto zurückweichen, sodass ein Fall des unerlaubten Remailings vorliege.

[2] Die Streitteile seien Vertragsparteien des IRA‑E (Interpostal Remuneration Agreement – Europe). In Art 8 des Übereinkommens hätten die Streitteile ausdrücklich die interparteiliche Anwendbarkeit des Art 28 Weltpostvertrages (WPV) samt dessen Rechtsfolgen in der Fassung 2012 vereinbart. Die Beklagte habe gegen den Weltpostvertrag (WPV), der gemäß Art 28 unzulässiges Remailing verpöne, verstoßen. Die Beklagte habe anerkannt, dass es sich bei den Versendungen um einen Fall des Remailing handle. Der Klägerin stehe gemäß Art 28 Abs 4 WPV 2012 ein Anspruch in Höhe der Differenz zwischen der nach dem IRA‑E von der Beklagten bezahlten Endvergütung (0,467252 EUR pro Sendung) und 80 % des rabattierten Inlandstarifs (0,64 EUR, davon 80 % = 0,512 EUR pro Sendung), insgesamt 0,044748 EUR pro Sendung zu. Bei 630.000 Sendungen errechne sich ein Anspruch in Höhe des Klagsbetrags.

[3] Der Anspruch werde hilfsweise auch auf Art 28 Abs 1 WPV 2012 gestützt, wonach die Klägerin einen Anspruch auf Zahlung des Inlandstarifs habe. Die Differenz zwischen bezahlter Endvergütung nach IRA‑E und dem Inlandstarifs von 0,64 EUR betrage 0,172748 pro Sendung, insgesamt bei 630.000 Sendungen sohin auf 108.831,24 EUR. Die Klageausdehnung werde vorbehalten.

[4] Nach Erörterung zu den in Art 28 Abs 4 WPV 2012 normieren Rechtsfolgen brachte die Klägerin ergänzend vor, dass sie gemäß § 1304 ABGB eine Schadenminderungspflicht treffe und davon ausgehend die Zustellung der 630.000 Sendungen das gelindeste Mittel dargestellt habe.

[5] Die Beklagte bestritt und brachte vor, dass nicht die Ö*, sondern die *card GmbH mit Sitz in Deutschland Absenderin und Vertragspartnerin der Beklagten sei; die Ö* haben die *card GmbH mit der Herstellung und dem Versand von diversen Ö*-Kundenkarten beauftragt, die *card GmbH habe aus Dresden die für die ÖBB hergestellten Bahnkarten nach Österreich an die Kunden der Ö* versendet; dabei habe die *card GmbH die Beklagte beauftragt und die Vergütung für die Versendung bezahlt. Sämtliche Sendungen seien in Deutschland im normalen Briefstrom befördert und in Salzburg der Klägerin zur weiteren Zustellung übergeben worden. Es liege kein Fall des Remailing im Sinne Art 28 WPV 2012 vor; die Beklagte habe einen solchen Fall auch nicht anerkannt. Würde auch die Wertschöpfung in Form der Produktion von Plastikkarten von Art 28 WPV 2012 erfasst werden, läge darin ein Verstoß gegen die Waren- und Dienstleistungsfreiheit.

[6] Die *card GmbH habe für die Sendungen eine Vergütung von mindestens 0,65 EUR pro Sendung, somit mehr als die von den Ö* bei Aufgabe der Sendungen in Österreich zu bezahlende rabattierte Inlandsvergütung von 0,64 EUR, bezahlt. Es liege kein Preisgefälle vor, sodass Art 28 Abs 1 WPV 2012 nicht zur Anwendung komme.

[7] Auch Art 28 Abs 4 WPV 2012 könne nicht als Anspruchsgrundlage herangezogen werden. Die Bestimmung erfasse den Fall des ABA Remailing nicht, sondern nur den Fall des ABC Remailing. Aus Art 28 Abs 4 WPV 2012 leite sich auch kein direkter Zahlungsanspruch der Klägerin ab. Die Klägerin habe nur das Recht, die Sendung anzuhalten und mit der Postverwaltung des Einlieferungsstaates Verhandlungen zu führen; dies sei nicht geschehen.

[8] Die begehrte Entschädigung sei zu hoch; Art 28 Abs 4 WPV 2012 stelle auf die tatsächlichen Kosten und nicht auf die von der Klägerin willkürlich festgesetzten Kosten ab, selbst wenn diese behördlich genehmigt seien. Die Klägerin schreibe im Briefgeschäft faktisch einen überhöhten Tarif vor, um die Unterdeckung im Paketgeschäft zu kompensieren. Auch seien nur 572.889 Sendungen übermittelt worden.

[9] Die Anwendung einer Schadenminderungspflicht setze voraus, dass Art 28 WPV 2012 einen Anspruch auf Schadenersatz einräume; dies sei nicht der Fall. Die Klägerin nutze ihre marktbeherrschende Stellung auf dem Briefzustellmarkt aus (Preiserhöhungsmissbrauch iSd Art 102 lit a AEUV) und versuche, das Endvergütungssystem des IRA‑E zu umgehen.

[10] Das Erstgericht wies das Klagebegehren nach Feststellung des folgenden Sachverhalts ab:

[11] Die Ö* mit Sitz in Wien erteilten nach einer internationalen Ausschreibung (Gesamtauftragsvolumen 4,2 Mio EUR) der *card GmbH mit Sitz in Dresden, Deutschland, für den Zeitraum 9. 11. 2015 bis 31. 12. 2020 den Auftrag, diverse Kundenkarten herzustellen und an die Kunden der Ö* zu versenden. Der Auftrag umfasst einerseits die Herstellung der Kartenrohlinge, die Erstellung einer Datenverbindung zwischen den Ö* und der *card GmbH, über die laufend die entsprechenden Daten und Fotos der Kunden der Ö* übermittelt werden, weiters die Herstellung der konkreten auf einzelne Kunden ausgestellte Kundenkarten sowie den Versand dieser mit einem inhaltlich von den Ö* zur Verfügung gestellten Begleitschreiben.

[12] Die *card GmbH war im Zuge der internationalen Ausschreibung insgesamt, auch (aber nicht nur) hinsichtlich der angebotenen Portokosten Best- und Billigstbieter; die im Vergleich zu den anderen Bietern günstig angebotenen Portokosten waren nicht der maßgebliche Faktor, warum die Ö* den Auftrag an die *card GmbH erteilten. Vielmehr war die *card GmbH betreffend die angebotenen Kosten für die Herstellung der Karten(‑rohlinge) bzw die Herstellung von mit Foto und Chip individualisierter Kundenkarten (diese machen ca 20 % des Gesamtvolumens aus) Best- und Billigstbieter; aus diesem Grund erteilten ihr die Ö* den Gesamtauftrag. Nach dem Vertragsverständnis der Ö* steht bei dem an die *card GmbH erteilten Auftrag die Herstellung der jeweiligen Kundenkarten im Vordergrund. Die übrigen auftragsgegenständlichen Leistungen (Erstellung einer Datenverbindung, Herstellung der Versandschreiben und der Versand an die Kunden) stellen nach ihrem Verständnis nur Nebenleistungen dar. Der ursprünglich im Rahmen der Ausschreibung von der *card GmbH angebotene, vereinbarte und zunächst verrechnete Portopreis pro Sendung lag unter dem (rabattierten) Inlandstarif, den die Ö* an die Klägerin bei Aufgabe dieser Sendungen in Österreich hätten bezahlen müssen. Infolge einer Preiserhöhung zwischen der Beklagten und der *card GmbH wurde auch der zwischen der *card GmbH und den Ö* vereinbarte Portopreis nachträglich erhöht. Jedenfalls zahlten die Ö* der *card GmbH im Zeitraum 21. 6. 2016 bis 31. 12. 2016 für sämtliche auftragsgemäßen Briefsendungen an die Kunden der Ö*– unabhängig davon, ob eine Karte oder mehrere gleichzeitig versendet wurden – einen höheren Betrag für das Porto, als die Ö* nach dem zwischen ihr und der Klägerin verhandelten (rabattierten) Inlandstarif pro Briefsendung bei Aufgabe dieser Briefsendungen in Österreich an die Klägerin hätten bezahlen müssen. (...)

[13] Im Zeitraum 1. 5. 2016 bis 21. 6. 2016 hielt die Klägerin insgesamt 67.425 von der Beklagten an die österreichisch/deutschen Grenze transportierten Briefsendungen der *card GmbH an Ö*-Kunden an und stellte sie nicht den Empfängern zu. Die Klägerin berief sich betreffend dieser Sendungen gegenüber der Beklagten darauf, dass hier die Ö* ihre Kundenkarten an österreichische Empfänger über die D* Post AG versenden, um Portogebühren zu sparen, sodass ein Fall des nach § 28 WPV verpönten Remailings vorliege, und forderte die Beklagte auf, eine höhere als nach dem IRA‑E vorgesehene Endvergütung zu bezahlen. Die Beklagte kam betreffend dieser 67.425 Sendungen, ohne Anerkenntnis einer rechtlichen Verpflichtung, der Zahlungsforderung der Klägerin nach und zahlte den verrechneten Differenzbetrag; vereinbarungsgemäß stellte die Klägerin folglich die Briefsendungen an die Empfänger zu. (…)

[14] Im Zeitraum 21. 6. 2016 bis 31. 12. 2016 versendete die *card GmbH 555.498 Briefsendungen mit einer oder mehreren von ihr für die Ö* hergestellten Kundenkarten mit einem Durchschnittsgewicht von 16,5 g an Empfänger in Österreich, wobei sie die Sendungen in Dresden an die Beklagte übergab und pro Sendung den seit 1. 6. 2016 angepassten höheren (über dem rabattierten Inlandstarif liegenden) Portobetrag an die Beklagte bezahlte. Als Absender der Schreiben war am Kuvert im genannten Zeitraum die „Ö*“ mit einer Retourenadresse „Dienstleistungszentrum der Ö*CARD Postfach * Dresden, Germany“ genannt. Die Beklagte übergab diese Briefsendungen ohne weitere Vorsortierung oder andere Vorleistungen an der deutsch-österreichischen Grenze an die Klägerin zur weiteren Zustellung an die österreichischen Empfänger. Die Klägerin stellte sämtliche dieser Briefsendungen zu, ohne sie – wie bereits davor im Zeitraum vor 21. 6. 2016 – anzuhalten und oder von der Beklagten ein höheres Entgelt zu fordern; erst mit Schreiben der Klagevertreter vom 8. 6. 2017 berief sie sich auch hinsichtlich dieser Briefsendungen auf einen ihr nach Art 28 WPV zustehenden Anspruch. Die Beklagte zahlte für sämtliche dieser 555.498 Briefsendungen (nur) die Endvergütung gemäß IRA‑E.

[15] Es besteht kein übereinstimmender Parteiwille oder eine bisherige Übung zwischen den Vertragsparteien des IRA‑E, wie Art 28 WPV 2012 auszulegen ist, insbesondere zur Frage, welche Fälle des Remailings (ABA Remailing oder nur ABC Remailing) von Art 28 Abs 4 WPV 2012 erfasst sind.

[16] In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, dass kein Fall des Remailings nach Art 28 WPV 2012 vorliege, weil die *card GmbH ein ausschließlich von ihr gefertigtes Produkt (Kartenrohling) erzeuge und nur nach den Vorgaben der Ö* individualisiere und in der Folge versende. Durch den Versand der Kundenkarten durch die *card GmbH aus Dresden an österreichische Empfänger sei der *card GmbH bzw den Ö* – im klagsgegenständlichen Zeitraum – außerdem kein finanzieller Vorteil erwachsen. Es sei kein Tarifgefälle ausgenutzt worden. Es könne auch kein direkter Zahlungsanspruch aus Art 28 Abs 4 WPV 2012 abgeleitet werden; die Klägerin habe eine ihr obliegende unmittelbare Zustellverpflichtung nicht plausibel darzulegen vermocht.

[17] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und hob das angefochtene Urteil, das hinsichtlich der Abweisung von 3.333,81 EUR unangefochten in Rechtskraft erwuchs, hinsichtlich der weiteren Abweisung von 24.857,43 EUR auf und trug dem Erstgericht insoweit die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung auf.

[18] Zusammengefasst war es infolge der zu Art 25 WPV idF 1989 ergangenen Entscheidung des BGH III ZR 248/00 vom 10. 10. 2002 und der Entscheidung des EuGH in den verbundenen Rs C‑147/97 und C‑148/97 Deutsche Post AG/GZS und CKG, der Ansicht, dass auch nach grenzüberschreitendem Datentransfer vollständig im Ausland hergestellte Sendungen (non‑physical remailing) Inlandspost sein könnten und der Zahlungsanspruch auch nicht an einer Wertschöpfung im Ausland scheitere. Auch den Erwägungen des Oberlandesgerichts Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 9. 1. 2008, VI U (Kart) 45/06, folgend sei aus der Bestimmung des Art 28 Abs 4 S 1 und 2 WPV 2012 ein direkter Zahlungsanspruch abzuleiten. Die Ö* seien aus der Sicht eines verständigen Empfängers formell und materiell als Absender anzusehen. Durch die Vereinbarung der Parteien in Art 8 IRA‑E („Remailing“), Art 28 WPV 2012 uneingeschränkt untereinander anzuwenden, solle ein Ausgleich bei Kostenunterdeckung unabhängig davon vereinbart werden, ob es sich um ein ABA oder ABC Remailing handle. Ein Absehen von einer Nachforderung gemäß Art 28 Abs 4 WPV 2012 wäre bei einer nichtkostendeckenden Endvergütung zudem unionsrechtlich wettbewerbsverzerrend, weil Wettbewerber im Gegensatz zur Klägerin gegenüber dem Staat oder im Rahmen der Entgeltregulierung prinzipiell keine Kompensation der Verluste geltend machen könnten. Es sei daher ein Anspruch der Klägerin beim vorliegenden non-physical ABA Massen-Remailing zu bejahen, wenn ein Ungleichgewicht zwischen der gewährten Endvergütung und den der Klägerin tatsächlich entstandenen Kosten bestehen sollte. Da noch ungeklärt sei, ob 80 % des rabattierten Inlandstarifs deren tatsächliche Kosten übersteige oder nicht und ob mit der Endvergütung eine kostendeckende Vergütung erreicht worden sei, werde das Erstgericht – allenfalls nach Verfahrensergänzung – (negative) Feststellungen zur Höhe der der Klägerin entstandenen Kosten zu treffen haben.

[19] Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung der Bestimmung des Art 28 Abs 4 WPV 2012 vorliege und folgende Fragen in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgingen:

‑ ob Art 28 Abs 4 WPV 2012 einen direkten Zahlungsanspruch bei Kostenunterdeckung nach erfolgter Zustellung begründet;

‑ ob „Remailing“ ungeachtet einer Wertschöpfung im Ausland anzunehmen ist, wenn die Briefsendung im Bestimmungsland vorprogrammiert ist;

‑ ob Art 28 Abs 4 WPV 2012 auf ABA Remailing oder nur auf ABC Remailing anwendbar ist;

‑ ob Art 28 Abs 4 WPV 2012 eine Nachforderung auf 80 % der Inlandsgebühren ohne Nachweis der tatsächlich entstandenen Kosten rechtfertigt, wenn die Parteien gemäß IRA-E eine Vereinbarung schlossen, die 80 % der Inlandsgebühren nicht erreicht.

[20] Die Klägerin beantragt in ihrem dagegen gerichteten Rekurs eine Abänderung des Aufhebungsbeschlusses im Sinne einer Klagsstattgabe im angefochtenen Umfang; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[21] Die Beklagte beantragt in ihrem Rekurs die Abänderung des Aufhebungsbeschlusses im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils.

[22] Beide Streitteile beantragen in ihren Rekursbeantwortungen jeweils, dem Rekurs der Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[23] Beide Rekurse sind zulässig und berechtigt.

[24] I. Die österreichische Klägerin ist der Ansicht, durch die Begründung des Aufhebungsbeschlusses beschwert zu sein, weil für die Bemessung ihres Aufwands der behördlich genehmigte Inlandstarif heranzuziehen sei, der der gesetzlichen Vorgabe (§ 21 Abs 1 PMG) einer jedenfalls allgemein erschwinglichen, kostenorientierten, transparenten und nichtdiskriminierenden Gestaltung unterliege und von der Regulierungsbehörde überprüft und nicht untersagt worden sei. Es bedürfe daher keiner ergänzenden Feststellungen über die Höhe der entstandenen Kosten.

[25] Dazu ist voranzustellen, dass den Parteien der Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss nicht nur dann zusteht, wenn sie die Aufhebung der erstgerichtlichen Entscheidung bekämpfen, sondern auch dann, wenn sie lediglich die dem Erstgericht erteilten Aufträge und Bindungen anfechten, obwohl sich diese nur aus den Gründen des Beschlusses ergeben, da nicht nur die Aufhebung selbst, sondern auch eine nachteilige Rechtsansicht im Aufhebungsbeschluss die verfahrensrechtliche Stellung der Parteien beeinträchtigt (RS0007094). Auch jene Partei kann gegen einen Aufhebungsbeschluss im Berufungsverfahren Rekurs erheben, die selbst die Aufhebung erwirkt hat (RS0007094 [T5]; RS0043817 [T7]). Der Rekurs der Klägerin ist daher zulässig. Zu dessen Berechtigung wird auf Pkt III. verwiesen.

[26] II. Die deutsche Beklagte wiederholt in ihrem Rekurs im Wesentlichen ihren Rechtsstandpunkt, erachtet den Aufhebungsbeschluss zur Ergänzung der der Klägerin entstandenen Kosten aber auch deshalb als unzulässig, weil diese kein entsprechendes Vorbringen dazu erstattet habe.

[27] III. Inhaltlich ist zu beiden Rechtsmitteln Folgendes zu erwägen:

[28] 1. Der Weltpostvertrag, der am 10. 7. 1964 im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen vom Weltpostverein geschlossen wurde und regelmäßig erneuert wird, bildet den Rahmen für die Beziehungen zwischen den Postverwaltungen der ganzen Welt. Ihm sind sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft beigetreten. Dieser völkerrechtliche Vertrag wurde von Österreich zuletzt mit BGBl III 2013/229 in der Fassung der Vertragswerke des Weltpostvereins (Genf 2008) in Gesetzesrang erhoben. Nachfolgende vom Weltpostverein beschlossene Satzungsänderungen, insbesondere in der Fassung 2012, wurden von Österreich bis dato nicht ratifiziert.

[29] In Deutschland wurde mit Bundesgesetzblatt Jahrgang 2002 Teil II Nr 23 der Weltpostvertrag in der Fassung 1999 als Gesetz zu den Verträgen vom 15. 9. 1999 des Weltpostvereins ratifiziert. Die Regelungen des Weltpostvereins aus 2004, 2008, 2012 und 2016 traten für die Bundesrepublik Deutschland am 16. 9. 2019 in Kraft (Zustimmung des Bundestags mit Zustimmung des Bundesrates in Bundesgesetzblatt Jahrgang 2019 Teil II Nr 11, S 530; Bekanntmachung Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020 Teil II Nr 13, S 616).

[30] 2. Zur Regulierung und Vergütung der bei grenzüberschreitenden Zustellungen durch öffentliche Postbetreiber entstehenden Kosten führten die Mitglieder des Weltpostvereins 1969 ein System fester Ausgleichssätze je nach Postart, die sogenannten „Endvergütungen“, ein und schafften so ein seit der Gründung des Weltpostvereins geltendes Prinzip ab, wonach jeder öffentliche Postbetreiber die Kosten der Verteilung und Zustellung der eingehenden Post übernahm, ohne sie den öffentlichen Postbetreibern der Herkunftsländer der Post in Rechnung zu stellen. Die Regelungen des Weltpostvereins sind nicht zwingend, sondern können durch bi- oder multilaterale Abkommen ersetzt werden. Innerhalb der EU gelten in der Regel die Vereinbarungen der International Post Corporation (IPC), einer Vereinigung ehemaliger staatlicher europäischer und anderer Postbetreiber (s nur die zusammenfassende Darstellung des 11. Sektorgutachtens in der Drucksache des Deutschen Bundestags, 19/15852 S 209, Rz 59 ff mwN).

[31] Die Streitteile sind Vertragsparteien des von der IPC am 4. 12. 2015 abgeschlossenen Interconnect Remuneration Agreement Europe (in der Folge IRA‑E). Das IRA‑E dient der Regelung der Vergütungen, wenn Postsendungen beim Postbetreiber eines Mitglieds aufgegeben werden, von diesem weiter transportiert und vom Postbetreiber eines oder mehrerer anderer Mitglieder an die Empfänger zugestellt werden. Es wurde zusätzlich zu den ebenfalls von der IPC getroffenen REIMS Vereinbarungen I–V (Remuneration of Mandatory Deliveries of Cross-Border Mails) aufgesetzt, die die Vergütung für die grenzüberschreitende Beförderung von Briefen regeln. Die Höhe der Endvergütungen nach der zum 1. 1. 2012 in Kraft getretenen REIMS-V Vereinbarung ist nicht öffentlich bekannt (Gerling, Die Regulierung und Liberalisierung der Postdienste in der Bundesrepublik Deutschland [2019] S 162).

[32] 3. Art 8 des IRA‑E lautet:

Art 8 Remail : Nichts im Abkommen darf eine Partei daran hindern, Artikel 28 der UPU [Weltpostverein] Konvention von 2012 (oder nachfolgende Bestimmungen) gegen eine andere Partei anzuwenden. Insbesondere die Anwendung des Artikels 4.11, oder die Tatsache, dass Post von einem ETOE [Extraterritorial Office of Exchange] kommt, darf eine Partei nicht daran hindern, Artikel 28 der UPU [Weltpostverein] Konvention von 2012 gegen eine andere Partei anzuwenden.“

[33] Art 28 des WPV idF 2012 lautet:

„1. Ein benannter Betreiber ist nicht verpflichtet, Briefsendungen zu befördern oder den Empfängern auszuliefern, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedsland es ansässige Absender im Ausland einliefern oder einliefern lassen, um aus den dort geltenden günstigeren Entgeltverhältnissen Nutzen zu ziehen.

2. Absatz 1 gilt ohne Unterschied sowohl für Briefsendungen, die in dem Land, in dem der Absender ansässig ist, vorbereitet und anschließend über die Grenze gebracht wurden, als auch für Briefsendungen, die in einem anderen Land versandfertig gemacht worden sind.

3. Der benannte Betreiber des Bestimmungslandes ist berechtigt, vom benannten Betreiber des Einlieferungslan des die Zahlung der Inlandstarife zu verlangen. Ist der benannte Betreiber des Einlieferungslandes nicht bereit, diese Tarife innerhalb einer vom benannten Betreiber des Bestimmungslandes fest gesetzten Frist zu zahlen, so kann dieser entweder die Sendungen an den benannten Betreiber des Einlieferungslandes zurückschicken – in diesem Fall hat er Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Rücksendung – oder nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit ihnen verfahren.

4. Ein benannter Betreiber ist nicht verpflichtet, Briefsendungen zu befördern oder den Empfängern auszuliefern, die Absender in einem anderen Land als demjenigen, in dem sie ansässig sind, in großen Mengen eingeliefert haben oder haben einliefern lassen, wenn die hierfür fälligen Endvergütungen niedriger sind als der Betrag, der erhoben worden wäre, wenn die Sendungen in dem Land eingeliefert worden wären, in dem die Absender ansässig sind. Die benannten Betreiber des Bestimmungslandes sind berechtigt, vom benannten Betreiber des Einlieferungslandes eine mit den entstandenen Kosten in Beziehung stehende Vergütung zu verlangen, die jedoch den höheren der zwei nach den beiden folgenden Verfahren berechneten Beträge nicht überschreiten darf: entweder 80 % des Inlandstarifs für vergleichbare Sendungen oder, je nach Fall, die nach den Artikeln ... fälligen Prozentsätze. Ist der benannte Betreiber des Einlieferungslandes nicht bereit, den geforderten Betrag innerhalb einer vom benannten Betreiber des Bestimmungslandes festgesetzten Frist zu zahlen, so kann dieser entweder die Sendungen an den benannten Betreiber des Einlieferungslandes zurückschicken – in diesem Fall hat er Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Rücksendung – oder nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit ihnen verfahren.“ (amtliche Übersetzung im dt Bundesgesetzblatt)

[34] 4. Die Geltung des hier maßgeblichen Art 28 WPV 2012 zwischen den Streitteilen beruht damit auf vertraglicher Grundlage. Für das Verständnis dieser Bestimmung zwischen den Vertragsparteien des IRA‑E ist aber davon auszugehen, dass Art 28 WPV 2012 jene Bedeutung zukommen soll, die einer Auslegung des WPV als völkerrechtlichem Vertrag entspricht. Dafür spricht, dass die Vertragsparteien des IRA‑E in dessen Art 8 allgemein und mit dynamischem Verweis (arg.: „oder nachfolgende Bestimmungen“) auf Art 28 der UPU Konvention (Weltpostvertrag) von 2012 verwiesen haben, sohin auch spätere Änderungen und Ratifizierungen des WPV durch die Vertragsstaaten gelten lassen wollen, dieser aber nach den internationalen Auslegungsgrundsätzen der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) zu interpretieren ist und auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Vertragsparteien des IRA‑E der Bestimmung des Art 28 WPV 2012 unter sich eine andere Bedeutung beimessen wollten. Primär ist Art 28 WPV 2012 daher nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen (Art 31 Abs 1 WVRK). Im Sinn einer dynamischen Interpretation sind aber auch spätere Übereinkünfte über die Auslegung des Vertrags und eine spätere Übung bei dessen Anwendung bei der Auslegung zu berücksichtigen (Art 31 Abs 3 WVRK).

[35] 5. Regelungsgegenstand des Art 28 WPV 2012 ist das von der Klägerin behauptete „Remailing“, dessen Vorliegen die Beklagte bestreitet.

[36] Remailing resultiert typischerweise aus der unterschiedlichen Preisstruktur für den Versand in den Mitgliedstaaten. Die Remailing-Betreiber versuchen ua aus den Preisunterschieden Vorteile zu ziehen, indem sie Handelsunternehmen anbieten, ihre Post zu denjenigen öffentlichen Postbetreibern zu befördern, die für einen bestimmten Zielort das beste Preis-Leistungs-Verhältnis anboten. Unter Remailing wird daher in der Praxis verstanden, dass die Briefsendung, insbesondere zur Ausnutzung eines Tarifgefälles aus einem Land A in das Gebiet eines Landes B befördert wird, um dort bei dem inländischen Postbetreiber eingeliefert und schließlich von diesem innerhalb seines eigenen Gebiets (= ABB Remailing) oder in das Ursprungsland A (= ABA Remailing) oder ein drittes Land C (= ABC Remailing) weitergeleitet zu werden (EuG v 16. 9. 1998, T‑110/95 IECC/Kommission, Slg 1998, II‑3605, Rz 2, 5).

[37] Remailing umfasst auch Sendungen, die in großen Mengen (Massensendungen) eingeliefert werden. Während Art 28 Abs 1 WPV 2012 auf ein Einliefern(‑lassen) im Ausland abstellt, „um aus den dort geltenden günstigeren Entgeltverhältnissen Nutzen zuziehen“, erfordert die für Massensendungen geltende Bestimmung des Art 28 Abs 4 WPV 2012 keine solche Absicht, sondern nur objektiv eine Ungleichheit zwischen der Endvergütung und den Inlandsgebühren. Dass Art 28 Abs 1 WPV 2012 im vorliegenden Fall mangels bewusster Ausnützung eines Preisgefälles im streitgegenständlichen Zeitraum nicht anwendbar ist, ist im Rekursverfahren nicht mehr weiter strittig.

[38] 6. Für das Vorliegen von Remailing und die Ausnahme vom Beförderungs- und Auslieferungsgebot macht es nach Art 28 Abs 2 WPV 2012 keinen Unterschied, ob die Briefsendungen in dem Land, in dem der Absender ansässig ist, vorbereitet und anschließend über die Grenze gebracht wurden, oder ob sie erst in einem anderen Land „versandfertig gemacht“ (in der österreichischen amtlichen Übersetzung zu Art 26 Abs 2 WPV 2008: „im Ausland gefertigt“; in der verbindlichen französischen Vertragsfassung: „confectionnés“) worden sind. Ungeachtet des systematischen Aufbaus des Art 28 WPV 2012 kann dabei nicht zweifelhaft sein, dass dessen Abs 2 auch auf Massensendungen iSd Abs 4 zu beziehen ist. Dafür spricht sowohl der Regelungszusammenhang als auch die Entwicklung des (vielfach geänderten) Art 28 WPV 2012, der in früheren Fassungen des Abs 1 in einem eigenen Satz 2 auch auf Massensendungen Bezug nahm (zB Art 25 Abs 1 S 2 WPV 1989: „Dies gilt auch für in großer Zahl eingelieferte Sendungen dieser Art, und zwar selbst dann, wenn nicht die Absicht besteht, die niedrigeren Gebühren auszunutzen.“), ohne dass Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass mit dem Entfall dieses Satzes 2 der Regelungsgehalt des Abs 2 nur noch für einen um Massensendungen reduzierten Inhalt gelten sollte.

[39] 7. Die technologischen Entwicklungen warfen die Frage auf, ob ein Fall des Remailings auch dann vorliegt, wenn die späteren Druckinhalte mit elektronischem Datentransfer aus einem Land A in ein Land B übermittelt werden, wo sie unverändert oder nach Umwandlung ausgedruckt auf Papier anschließend in das Postsystem des Landes B oder eines Landes C befördert oder eingeführt werden, um über das herkömmliche internationale Postsystem in ein Land  A, B oder C weitergeleitet zu werden, in dem der Empfänger ansässig ist (sog „non-physical“ oder „nichtmaterielles Remailing“, zB Bechtold/Wagner, „Non-physical remailing“ und die Gebührenregelung des Weltpostvertrages – Verpflichtung zur Zahlung von „Strafporti“? WRP 1998, 134 mwN; idF EuG v 16. 11. 1998, T‑110/95 IECC/Kommission, Slg 1998, II‑3605, Rz 3; EuGH v 10. 2. 2000, verb Rs C‑147/97 und C‑148/97 , Deutsche Post AG/GZS und CKG, Rz 13; dazu Kießling, Deutsche Post AG versus Remailing, WRP 2000, 368).

[40] 8. Der genannten Entscheidung des EuGH lagen Sachverhalte zugrunde, in denen deutsche Gesellschaften (für Zahlungssysteme bzw Kartenservice) die für die monatlichen Abrechnungen von Kreditkarteninhabern erforderlichen Daten (tw im Weg einer Kontenverwaltung in einem Datenverarbeitungszentrum in den USA) an ein niederländisches bzw dänisches Unternehmen übermittelten, wo die Abrechnungen erstellt, ausgedruckt, kuvertiert und zur Post gegeben wurden und die Deutsche Post ihre Inlandsgebühren verlangte. Der EuGH – dort zu Fragen zu einem Marktmissbrauch der Deutschen Post – erwog, dass aufgrund der Einlieferung von Massensendungen von einer Anwendung des Art 25 Abs 1 Satz 2 iVm Abs 2 WPV (non‑physical Remailing) auszugehen sei, dies aber für die Beantwortung der herangetragenen Fragen keine Rolle spiele (Rn 33, 34). Er bejahte die Vereinbarkeit der Forderung nach Zahlung der Inlandsgebühren mit Art 90 EG‑Vertrag (Art 86 EG) iVm Art 86 EGV (Art 82 EG) und Art 59 EGV (Art 49 EG), solange es keine Übereinkunft gebe, in der Endvergütungen entsprechend den tatsächlichen Kosten der Zustellung festgesetzt seien (Rn 52–56). Gebe es eine solche Übereinkunft, dann müsse die klagende Post die Endvergütung von den Inlandsgebühren in Abzug bringen (Rn 61).

[41] 9. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem „non physical Remailing“ erfolgte durch den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung III ZR 248/00 vom 10. 10. 2002, dort zu „Remailing“ idF Art 25 WPV idF 1989, der lautete:

1. Kein Mitgliedsland ist verpflichtet, Briefsendungen zu befördern oder den Empfängern zuzustellen, die auf seinem Gebiet ansässige Absender im Ausland einliefern oder einliefern lassen, um aus den dort geltenden niedrigeren Gebühren Nutzen zu ziehen. Dies gilt auch für in großer Zahl eingelieferte Sendungen dieser Art, und zwar selbst dann, wenn nicht die Absicht besteht, die niedrigeren Gebühren auszunutzen.

2. § 1 gilt ohne Unterschied sowohl für Sendungen, die in dem Land, in dem der Absender wohnt, vorbereitet und anschließend über die Grenze gebracht werden, als auch für Sendungen, die in einem fremden Land versandfertig gemacht worden sind.

3. Die betreffende Verwaltung ist berechtigt, die Sendungen an den Einlieferungsort zurückzusenden oder sie mit ihren Inlandsgebühren zu belegen. …

4. Kein Mitgliedsland ist verpflichtet, Briefsendun gen anzunehmen, zu befördern oder den Empfängern zuzustellen, die irgendwelche Absender in einem anderen Land als demjenigen, in dem sie ansässig sind, in großer Zahl eingeliefert haben oder haben einliefern lassen. Die betreffenden Verwaltungen sind berechtigt, solche Sendungen an den Einlieferungsort zurückzusenden oder sie den Absendern ohne Erstattung der Gebühr zurückzugeben.

[42] Der Entscheidung BGH III ZR 248/00 lag zugrunde, dass das beklagte Kreditkartenunternehmen mit Sitz in Deutschland Daten seiner Kunden an ein Rechenzentrum in den Niederlanden weitergeleitet hatte, das die Daten ausdruckte und zunächst durch die niederländische Post und ab der Grenze durch die klagende Deutsche Post an Kunden der Beklagten in Deutschland zustellte. Soweit hier von Interesse, kam der BGH zum Ergebnis, dass nach Art 25 Abs 1 und 2 WPV 1989 auch solche Sendungen von der Beförderungspflicht befreit sein können, deren Inhalt durch grenzüberschreitenden elektronischen Datentransfer festgelegt worden ist und die körperlich vollständig im Ausland hergestellt worden sind („non-physical“ Remailing). Art 25 WPV ist nicht dahin teleologisch zu reduzieren, dass die Vorschrift nur eine „künstliche Verlagerung von Postströmen ins Ausland“ erfasst, insbesondere nicht anwendbar ist, wenn im Zuge der Herstellung der Sendung eine „erhebliche Wertschöpfung im Ausland“ stattfindet.

[43] Der BGH verwies dazu auf Art 25 Abs 2 (zitiert als „§ 2“) WPV 1989, aus dem er ableitete:

„... Der Begriff 'versandfertig machen' legt die Deutung nahe, daß nur die der eigentlichen Postdienstleistung unmittelbar vorangehenden Tätigkeiten, nämlich das Einkuvertieren, Adressieren, Wiegen, Frankieren und Einliefern des Briefes, erfaßt werden (vgl. …). Gegen ein derart enges Normverständnis spricht jedoch bereits der Umstand, daß in diesem Falle die zweite Alternative des § 2 ohne eigenen Regelungsgehalt wäre, da eine derartige im Ausland lediglich versandfertig gemachte Sendung nichts anderes als eine im Sinne der ersten Alternative im Inland vorbereitete Sendung wäre (…). Darüber hinaus ist zu beachten, daß nach Art. 6 der Satzung des Weltpostvereins nur der französische Text verbindlich ist, so daß allein dieser Text für die Vertragsauslegung maßgeblich ist (vgl. BGH [...]). Die Bedeutung des im französischen Text verwendeten Begriffs 'confectionner', der sich allgemein mit 'herstellen, anfertigen' übersetzen läßt, erlaubt ohne weiteres eine Auslegung des Art. 25 § 2 WPV 1989 dahin, daß auch vollständig im Ausland hergestellte Sendungen Inlandspost im Sinne des § 1 sein können (…).“

[44] Entstehungsgeschichtlich verwies der BGH darauf, dass der Begriff „confectionner“ in der amtlichen deutschen Übersetzung des Weltpostvertrags 1929 zum Schutz der Postverwaltung und der einheimischen Papier‑ und Druckindustrie mit „herstellen“, seit dem Weltpostvertrag 1957 mit „versandfertig herstellen“ und schließlich 1989 mit „versandfertig machen“ übersetzt worden sei, ohne dass sich dabei der französische Wortlaut geändert hätte.

[45] Nach dem Willen der Vertragsstaaten setze Art 25 WPV 1989 daher nicht voraus, dass die von ihr erfassten, bei einer ausländischen Postverwaltung eingelieferten Sendungen zuvor im Lande der Postverwaltung, die die Zustellung dieser Sendungen vornehmen soll, in irgendeiner, wenn auch noch so unvollkommenen Form physisch existent geworden sein müssten. Zwar zeichne sich die „moderne“ Remailing-Problematik typischerweise dadurch aus, daß die zur Herstellung der Briefe erforderlichen Daten auf elektronischem Wege zu demjenigen gelangen, der die Postsendung körperlich herstelle, also auf einem Wege, der den vertragschließenden Mitgliedern des Weltpostvereins des Jahres 1929 unbekannt gewesen sei. Dies stehe jedoch einer Anwendung des Art 25 WPV 1989 nicht entgegen, da es angesichts der Zielsetzung der Norm, alle Fälle einer Umleitung von Postströmen zu erfassen, grundsätzlich keine Rolle spiele, auf welchem Weg und in welchem Entwicklungsstadium Briefe ins Ausland gelangen (...). Zudem sei nicht zu verkennen, dass aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten, eine Vielzahl von Informationen schnell und kostengünstig elektronisch weiterzugeben, der Anreiz, teurere nationale Postdienste zu umgehen, gewachsen sei und dadurch die Gefahr hoher Gebührenverluste dieser Postdienste deutlich gestiegen sei. Dies spreche entscheidend dafür, Art 25 WPV 1989 auch auf im Wege des grenzüberschreitenden Datentransfers im Ausland hergestellte Briefsendungen anzuwenden (...).

[46] 10. Grundsätzliche Anerkennung fand ein non‑physical Remailing auch in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 9. 1. 2008, VI‑U (Kart) 45/06 (Versand von Postsendungen, insbesondere Rechnungen und Vertragsunterlagen, eines Telekommunikationsunternehmens nach elektronischer Datenübermittlung in eine Druckerei in die Niederlande, wo die Schriftstücke erstellt, gedruckt und kuvertiert und der britischen Postgesellschaft „R.M.“ als zuständige Einlieferungsverwaltung für den gesamten europaweiten Postversand der Konzernmutter des Telekommunikationsunternehmens zur Zustellung ausgehändigt wurden).

[47] 11. Die Auslegung des BGH ist in der deutschen Literatur auf Kritik gestoßen (Schnelle, Non‑Physical Remailing vor dem BGH und jetzt doch ein Ende? BB 2003, 377 [aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht fragwürdiges Fortschreiben der „protektionistischen Intentionen aus dem Jahr 1929“]; Barden, Die Zukunft des Remailing, EWS 2000, 384). Gerling hebt generell hervor, dass die einerseits als Einnahme- und andererseits als Monopolschutzvorschrift interpretierte Regelung des Art 28 WPV 2012 spätestens seit dem Wegfall der nationalen Postmonopole weder mit den Wettbewerbsregeln des AEUV noch den Vorschriften der auf die Marktöffnung und Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes abzielenden Postdiensterichtlinien vereinbar sei (aaO 197 mwN), gesteht aber zu, dass die Auffassungen vom Verhältnis zwischen WPV und EU-Postgesetzgebung in den sich überschneidenden Regelungsmaterien „heterogen“ sei (aaO S 164; zur Entwicklung der REIMS‑II Vereinbarung als Preiskartell iSd Art 81 Abs 1 EGV aF im Besonderens auch 160 f; vgl auch die Entscheidungen der Kommission vom 15. 9. 1999, Sache IV/36.748 – REIMS II, ABl EG L275/17; und vom 23. 10. 2003, Sache COMP/C/38.170 – REIMS II – Erneute Anmeldung, ABl EU L56/76). Nach Barden aaO, erscheint es unter dem Aspekt der Niederlassungsfreiheit nicht vermittelbar, dass ein Unternehmen, das in einem internationalen Umfeld in einem wirtschaftlichen Binnenmarkt agiert und durch „Outsourcing“ Unternehmensteile verlagert, aufgrund dieses Umstandes ein Porto in einem anderen Staat in Höhe von Inlandsgebühren nachzahlen muss.

[48] 12. Die Berechtigung dieser Kritik kann für den vorliegenden Fall dahinstehen:

[49] Art 28 Abs 2 WPV 2012 nimmt Bezug auf „Briefsendungen, die in einem anderen Land versandfertig gemacht worden sind“. Auch wenn man dem Tatbestand mit dem BGH die Bedeutung des „Herstellens“ einer Briefsendung beimisst, ist keine Erstreckung dieses Verständnisses auf Konstellationen wie die vorliegende geboten. Der Entscheidung des BGH wie auch den anderen genannten Entscheidungen lagen Fälle zugrunde, in denen mit den ins Ausland zur Verarbeitung transferierten Datensätzen Schriftstücke (monatliche Kreditkartenabrechnungen) hergestellt wurden, die sich inhaltlich als Briefe im eigentlichen Sinn darstellen. Das entspricht auch aus unionsrechtlicher Sicht einer Briefsendung als „Mitteilung in schriftlicher Form auf einem physischen Träger jeglicher Art, die befördert und an die vom Absender auf der Sendung selbst oder ihrer Verpackung angegebenen Anschrift zugestellt wird; Bücher, Kataloge, Zeitungen und Zeitschriften gelten nicht als Briefsendungen“ (Art 2 Z 7 Postdienste-Richtlinie 97/67 /EC idF der ÄnderungsRL 2008/6/EG ).

[50] Der Begriff der Briefsendungen war schon in Art 12 Z 2 WPV 2008 weiter und umfasste

2.1. Vorrangsendungen und Nichtvorrangsendungen bis zu 2 Kilogramm;

2.2. Briefe, Postkarten, Drucksachen und Päckchen bis zu 2 Kilogramm;

2.3. Blindensendungen bis zu 7 Kilogramm;

2.4. besondere Beutel mit Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und ähnlichen gedruckten Dokumenten per Adresse desselben Empfängers und desselben Bestimmungsortes, „M‑Beutel“ genannt, bis zu 30 Kilogramm.

[51] Zu bedenken ist, dass die technologischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte dazu geführt haben, dass inzwischen eine Vielzahl verschiedenster Produkte alleine aufgrund eines elektronischen Datentransfers im Ausland erzeugt (zB 3‑D‑Druck) oder bedruckt werden können und auf diese Weise mit konfigurierten Datensätzen unterschiedlichste Waren oder sonstige Gegenstände mit oder ohne Handelswert hergestellt werden können, die gegebenenfalls lediglich aufgrund ihres Gewichts als Briefsendung im Sinn des WPV zu qualifizieren sind. Bei ihnen ist das Interesse des Absenders wie des Empfängers nicht auf die mit einer Briefsendung im eigentlichen Sinn verbundene Information, sondern auf den physischen Versand und Empfang solcher Produkte gerichtet. Das gilt auch für den vorliegenden Fall, in dem mit dem vom österreichischen Absender elektronisch übermittelten Daten aus vom deutschen Unternehmen erzeugten Kartenrohlingen individuelle Plastik-Kundenkarten hergestellt und diese mit Begleitbrief an Kunden in Österreich versandt wurden. Die Herstellung der Kundenkarten als Produkte von eigenständiger Werthaltigkeit ging damit klar über eine reine Umwandlung von Daten auf ein Trägermedium hinaus.

[52] Zwar ist nicht zu verkennen, dass die finanziellen Interessen eines inländischen Universalpostdienstes auch durch verlustbringende Zustellungen solcher Erzeugnisse gefährdet sein können, wenn mit der Endvergütung kein ausreichender Ausgleich erreicht wird. Selbst mit dem skizzierten weiten Verständnis vom „Versandfertig-Machen einer Briefsendung“ (Art 28 Abs 2 WPV 2012) im Sinn ihres „Herstellens“ mit einer gewissen Wertschöpfung im Ausland entspricht es nach Treu und Glauben aber nicht mehr „der gewöhnlichen, der Bestimmung in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung“ dieser Wortfolge, eine im Ausland aufgrund elektronisch übermittelter Daten erfolgende Herstellung eines jeglichen von einem Schriftstück verschiedenen Produkts darunter zu subsumieren, bei dem der Versand im Gesamtzusammenhang – wie hier – nur eine Nebenleistung bildet. Solche Herstellungsprozesse sind auch keinem „Umleiten von Postströmen“ gleichzusetzen, dem Art 28 Abs 2 WPV 2012 nach seiner Zielsetzung vorbeugen will. Ob die Kosten für diese Erzeugnisse dabei unter oder über den Versandkosten liegen, kann dabei keinen Unterschied machen, weil die Bestimmung keine Anknüpfungspunkte für eine entsprechende Differenzierung bietet. Ein isoliertes Abstellen auf den Versand eines solchen im Ausland hergestellten Produkts kommt nicht in Betracht, weil insofern keine eingelieferte Briefsendung vorliegt. Solche Fälle werden danach nicht von Art 28 Abs 2 WPV 2012 erfasst.

[53] 13. Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht Art 28 Abs 2 erster Fall WPV 2012, weil eine derart hergestellte Sendung auch nicht als eine in dem Land, in dem der Absender ansässig ist, vorbereitete und anschließend über die Grenze gebrachte Briefsendung anzusehen wäre.

[54] 14. Zusammenfassend geht die Beklagte daher zutreffend davon aus, dass hier kein Anwendungsfall des Art 28 WPV 2012 gegeben ist, sodass die Klägerin den geltend gemachten Anspruch auch nicht aus Art 28 Abs 4 WPV 2012 ableiten kann. Auf die weiteren von den Streitteilen aufgeworfenen Fragen ist danach nicht weiter einzugehen. Auf eine andere Anspruchsgrundlage hat sich die Klägerin nicht gestützt.

[55] IV. Der Oberste Gerichtshof kann gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn diese zur Entscheidung reif ist; das Verbot der reformatio in peius gilt in einem solchen Falle nicht (RS0043853 ua). Da die Sache im Sinn der voranstehenden Erwägungen spruchreif ist, war daher den Rekursen der Parteien Folge zu geben, der angefochtene Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und in der Sache selbst im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens zu erkennen.

[56] V. Die Kostenentscheidung für die Rechtsmittelverfahren gründet sich jeweils auf die §§ 41, 50 ZPO. Trotz des nominell erfolgreichen Rekurses auch der Klägerin gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts besteht kein Kostenersatzanspruch dieser gegen die Beklagte, weil der Oberste Gerichtshof in der Sache selbst zum Nachteil der Klägerin entschieden hat (RS0035917 [T3]).

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