OGH 9Ob53/13d

OGH9Ob53/13d29.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen M***** L***** M*****, geboren am ***** September 2012, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Eltern A***** W*****, und M***** M*****, beide vertreten durch Dr. Christian Nurschinger, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 29. Mai 2013, GZ 43 R 274/13g‑68, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 18. März 2013, GZ 23 PS 112/12f‑47, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Begründung

Der am ***** 9. 2012 geborene M***** L***** M***** ist das uneheliche Kind von M***** M***** und A***** W*****. Unmittelbar nach der Geburt wurde das Kind im Rahmen einer Interimsmaßnahme nach § 215 Abs 1 ABGB aF (§ 211 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013) vom Jugendwohlfahrtsträger bei Krisenpflegeeltern untergebracht. Seit 12. 1. 2013 befindet sich das Kind bei Dauerpflegeeltern. Bereits am 6. 9. 2012 stellte der Jugendwohlfahrtsträger den Antrag, ihn mit der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung zu betrauen und diese der Mutter zu entziehen.

Die Mutter beantragte die Abweisung dieses Antrags, der Vater die „Rückübertragung der Obsorge an die Mutter“.

Mit Beschluss hat das Erstgericht (von Amts wegen)

1. dem Jugendwohlfahrtsträger den Auftrag erteilt, die Aufnahme der Mutter im Mutter-Kind Haus ***** im Rahmen des Abklärungswohnens zu veranlassen,

2. den Dauerpflegeeltern aufgetragen, das Kind nach Aufnahme der Mutter im Mutter-Kind Haus ***** in deren Obhut zu übergeben und für einen Zeitraum von acht Wochen zu überlassen,

3. der Mutter aufgetragen, unverzüglich mit den zuständigen MitarbeiterInnen des AJF ***** Kontakt aufzunehmen und die für die Aufnahme in das Haus ***** und die Durchführung des Abklärungswohnens erforderlichen Vorkehrungen bzw. Vereinbarungen zu treffen,

4. den Eltern aufgetragen, sich einmal wöchentlich einer Erziehungsberatung zu unterziehen,

5. der Mutter aufgetragen, sich einmal wöchentlich einer Psychotherapie zu unterziehen,

6. die Entscheidung über die Obsorge vorbehalten und

7. ausgesprochen, dass dem Beschluss gemäß § 44 AußStrG vorläufige Vollstreckbarkeit zukommt.

Die erteilten Aufträge seien zur Sicherung des Kindeswohls iSd § 181 ABGB notwendig, um beurteilen zu können, ob die Mutter in der Lage sei, ihr die Obsorge zu belassen und von § 107 Abs 3 AußStrG auch umfasst.

Die mit Punkt 7. angeordnete vorläufige Vollstreckbarkeit wurde mit Beschluss des Rekursgerichts vom 23. 5. 2013 (ON 67) beseitigt.

Das Rekursgericht gab dem gegen die Punkte 1. und 2. des angefochtenen Beschlusses gerichteten Rekurs des Jugendwohlfahrtsträgers Folge und hob diese Punkte sowie den damit in untrennbarem Zusammenhang stehenden Punkt 3. des angefochtenen Beschlusses ersatzlos auf. Eine Verfügung nach § 181 ABGB komme schon deshalb nicht in Betracht, weil aus dem Verbleib des Kindes bei den Pflegeeltern keine konkrete drohende Gefährdung des Kindeswohls abgeleitet werden könne, zu deren Abwendung die bekämpften Anordnungen dienen könnten. Diese Anordnungen seien auch gar nicht zulässig, weil sie nach ihrer Art und ihrem Umfang nach weit über den Maßnahmenkatalog des § 107 Abs 3 AußStrG hinaus gingen. Schließlich verfüge die Mutter ‑ so die ergänzende Feststellung des Rekursgerichts ‑ nicht über eine ausreichend gefestigte, unabhängige und stabile innere Struktur, um einem Säugling die für dessen gedeihliche emotionale und psychosoziale Entwicklung erforderliche Empathie, Fürsorge und Sicherheit geben zu können. Es sei hier nicht zu verantworten, das Kind ‑ gleichsam als experimentelles Beweismittel ‑ in seiner lebenswichtigen Prägephase aus seinem gewohnten Umfeld zu entfernen. Der ordentliche Revisionsrekurs sei wegen Fehlens einer oberstgerichtlichen Rechtsprechung zu § 107 Abs 3 AußStrG zulässig.

Dagegen richtet sich der unbeantwortet gebliebene Revisionsrekurs der Eltern wegen unrichtiger rechtlichen Beurteilung mit einem auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Das Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013, BGBl I 2013/15, ist mit 1. 2. 2013 in Kraft getreten (§ 1503 Z 1 ABGB idF Art 1 Z 40 leg cit). Demzufolge ist auch hier von der neuen Gesetzeslage auszugehen.

Nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls erforderlichen Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet oder Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden. Als derartige Maßnahmen kommen insbesondere in Betracht

1. der verpflichtende Besuch einer Familien-, Eltern- oder Erziehungsberatung;

2. die Teilnahme an einem Erstgespräch über Mediation oder über ein Schlichtungsverfahren;

3. die Teilnahme an einer Beratung oder Schulung zum Umgang mit Gewalt und Aggression;

4. das Verbot der Ausreise mit dem Kind und

5. die Abnahme der Reisedokumente des Kindes.

Mit § 107 Abs 3 AußStrG wurde der Katalog der dem Pflegschaftsgericht zur Sicherung des Kindeswohls zur Verfügung stehenden Maßnahmen nicht nur klargestellt, sondern - jedenfalls im Verhältnis zur jüngeren höchstgerichtlichen Rechtsprechung - deutlich erweitert (EB zur RV, 2004 BlgNR 24. GP 38; Feil, AußStrG² § 107 Rz 10). Dabei sollen nach dem Willen des Gesetzgebers bei inhaltlich unverändertem § 176 Abs 1 ABGB aF, nunmehr § 181 Abs 1 ABGB nF, mit einer - verfahrensrechtlichen - Norm, nämlich § 107 Abs 3 AußStrG, (auch) materiellrechtlich wirkende Eingriffe in die Persönlichkeits- und Obsorgerechte der Eltern ermöglicht werden (Höllwerth, Obsorgeverfahren und Durchsetzung der Obsorge, in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013 [2013] 217).

Die in § 107 Abs 3 AußStrG geregelten Maßnahmen dienen der Sicherung des Kindeswohls. Der Begriff des Kindeswohls ist nunmehr in § 138 ABGB mit einer ausführlichen Liste von (nur demonstrativ aufgezählten) „leitenden Gesichtspunkten“ beschrieben. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist nicht Voraussetzung; ebenso wenig müssen sie ultima ratio zur Sicherung des Kindeswohls sein, sodass sie erst nach Ausschöpfung anderer Maßnahmen zulässig wären. Allerdings muss das Gericht hier stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Die angeordnete Maßnahme muss zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein. Außerdem darf der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen (EB zur RV, 2004 BlgNR 24. GP 39).

Die Anordnung anderer als in § 107 Abs 3 Z 1 bis 5 AußStrG angeordneter Maßnahmen ist angesichts ihrer demonstrativen Aufzählung (arg „insbesondere“) zulässig. Auch sind alle Parteien des Verfahrens Adressaten dieser Bestimmung, weil nur dadurch sichergestellt ist, dass das Kindeswohl umfassend gesichert werden kann. Durch die Maßnahmen dürfen aber - so § 107 Abs 3 AußStrG - weder die Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet noch die Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden. So wird etwa in der Lehre die Bestellung eines Kinderbeistands, eines Besuchsmittlers oder die Anordnung einer Besuchsbegleitung als mögliche im Einzelfall vom Gericht anzuordnende Maßnahme angesehen (Deixler-Hübner, Neue verfahrensrechtliche Instrumentarien im KindNamRÄG 2013, ZAK 2013/8, 11 und Deixler-Hübner/Mayrhofer, Überblick über die Neuerungen im Verfahrensrechtin Barth/Deixler-Hübner/Jelinek, Handbuch des neuen Kindschafts- und Namensrechts [2013] 234).

Dennoch scheint es geboten, die nach dem Gesetzeswortlaut äußerst weitgehenden Möglichkeit des Einsatzes von Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG im Einzelfall zu begrenzen (vgl Höllwerth aaO 218). Andere geeignete Maßnahmen im Sinne des § 107 Abs 3 AußStrG müssen daher sowohl nach ihrer Art und ihrem Umfang aber auch in ihrer Qualität den gesetzlich angeordneten Maßnahmen gleichwertig sein. Die nach § 107 Abs 3 AußStrG möglichen Maßnahmen betreffen solche, die (im weiteren Sinn) der Beratung (Z 1 und 3), der Streitschlichtung (Z 2) oder der Verhinderung einer (unzulässigen) Verbringung eines Kindes ins Ausland (Z 4 und 5) dienen sollen. Nur in diesem Rahmen können sich daher die vom Gericht angeordneten Maßnahmen bewegen.

Die hier revisionsrekursgegenständlichen Maßnahmen sind aber auch im weitesten Sinn weder mit der Beratung noch der Streitschlichtung oder der Verhinderung einer Verbringung des Kindes ins Ausland vergleichbar. Sie mögen zwar grundsätzlich der Sicherung des Kindeswohls dienen, weil sie darauf abzielen, die Interaktion zwischen Mutter und Kind zu beobachten, die Mutter zu betreuen und ihr Hilfestellung zu geben, um damit letztlich feststellen zu können, ob die Mutter in der Lage ist, die Obsorge für ihr Kind zu übernehmen, gehen aber über den vom Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen des § 107 Abs 3 AußStrG weit hinaus. Sie sind daher, wie das Rekursgericht zutreffend erkannt hat, nicht zulässig.

Die Frage, ob diese Maßnahmen auch im Hinblick auf die vom Rekursgericht getroffene Feststellung, die Mutter verfüge nicht über eine ausreichend gefestigte, unabhängige und stabile innere Struktur, um einem Säugling die für dessen gedeihliche emotionale und psychosoziale Entwicklung erforderliche Empathie, Fürsorge und Sicherheit geben zu können, noch als zielführend und dem Kindeswohl entsprechend angesehen werden können, weil es nach Ansicht des Rekursgerichts unter diesen Voraussetzungen nicht zu verantworten sei, das Kind - gleichsam als experimentelles Beweismittel - in seiner lebenswichtigen Prägephase aus seinem gewohnten Umfeld zu entfernen, braucht daher nicht näher erörtert zu werden.

Dem Revisionsrekurs war daher nicht Folge zu geben.

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