OGH 8ObA70/19f

OGH8ObA70/19f29.6.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Sabine Duminger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Ing. W*****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Kommandit-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei A***** AG, *****, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen 327.802,94 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 214.360,25 EUR brutto sA) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse: 113.442,72 EUR brutto sA), gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. September 2019, GZ 9 Ra 43/18m‑157, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBA00070.19F.0629.000

 

Spruch:

Die außerordentlichen Revisionen der Streitteile werden gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Der Kläger war seit 18. 12. 1988 bei einer Fluggesellschaft als Pilot beschäftigt. Das Unternehmen stellte Ende April 1994 seine Tätigkeit ein. Mit Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 1. 2. 2007 wurde ausgesprochen, dass der Betrieb auf die Rechtsvorgängerin der Beklagten iSd § 3 AVRAG übergegangen ist. Aufgrund dieses Urteils forderte die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Kläger zum Dienstantritt auf. Da er dieser Aufforderung nicht entsprach, wurde mit 6. 8. 2007 seine Entlassung ausgesprochen.

Mit seinem Leistungsbegehren beantragte der Kläger zuletzt, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihm 327.802,94 EUR brutto sA an Entgelt(‑differenz) seit dem Betriebsübergang und entlassungsabhängigen Ansprüchen zu zahlen.

Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 113.442,72 EUR brutto sA abzüglich 9.284 EUR netto. Das Mehrbegehren wies es ab. Das Berufungsgericht gab den Berufungen beider Parteien nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen gerichteten außerordentlichen Revisionen der Streitteile sind mangels Darstellung von Rechtsfragen von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

I. Zur außerordentlichen Revision des Klägers:

1. Der Oberste Gerichtshof ist nicht Tatsacheninstanz. Fragen der Beweiswürdigung sind nicht revisibel (RIS‑Justiz RS0042903 [T1, T2, T10]). Nur wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisfrage überhaupt nicht oder nur so mangelhaft befasst hätte, dass keine nachvollziehbaren Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt und im Urteil festgehalten sind (RS0043150), ist sein Verfahren mangelhaft. Eine bloß mangelhafte und unzureichende Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren nicht angefochten werden (RS0043371).

Entgegen der Darstellung in der Revision hat sich das Berufungsgericht im vorliegenden Fall sehr wohl mit der Beweisrüge auseinandergesetzt und dargestellt, aufgrund welcher Überlegungen es die Beweiswürdigung des Erstgerichts als überzeugend erachtet. Dabei hat es auch richtig darauf verwiesen, dass in einer gesetzmäßig ausgeführten Beweisrüge unterem anderen anzuführen ist, aufgrund welcher Beweisergebnisse welche Feststellung statt der bekämpften begehrt wird. Dem entspricht der Antrag, eine Feststellung zu rechtlich relevanten Themen habe „ersatzlos zu entfallen“, aber gerade nicht (vgl RS0041835 insb [T3]).

Der Kläger übersieht auch, dass das Berufungsgericht auf seine „Tatsachenrüge“ zu den Berechnungsvarianten des Sachverständigen sehr wohl eingegangen ist. Da sich der Kläger dabei aber gegen keine Feststellung des Erstgerichts, sondern gegen allgemeine Ausführungen in der Beweiswürdigung wendet, hat es dieser keine Berechtigung zuerkannt.

2. Soweit in der Revision moniert wird, die Vorinstanzen seien zu Unrecht davon ausgegangen, der Kläger habe die Berechnungsvarianten der Beklagten außer Streit gestellt, ist dieser Vorwurf nicht richtig. Die Parteien haben die rechnerische Richtigkeit der einzelnen Berechnungsvarianten außer Streit gestellt. Die Vorinstanzen sind aus rechtlichen Erwägungen davon ausgegangen, dass die Prämissen, die von der Beklagten angenommen wurden, zutreffen. Damit ist aber das vom Sachverständigen aufgrund dieser Prämissen ermittelte Ergebnis, das als solches „unstrittig“ ist, auch Ergebnis ihrer rechtlichen Beurteilung.

3. Richtig ist, dass das Berufungsgericht im ersten Rechtsgang aufgrund fehlender Feststellungen eine Verfahrensergänzung dahingehend aufgetragen hat, die näheren Umstände der Einmalzahlung im April 1998 zu klären. Nunmehr hat das Erstgericht aber ausdrücklich festgestellt, dass die Zahlung zur Abgeltung der fehlerhaften Einstufung für die Vergangenheit geleistet wurde. Dementsprechend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass diese Zahlung kongruent auf den entsprechenden Zeitraum aufzuteilen ist. Warum diese Beurteilung unrichtig sein soll, lässt sich der Revision nicht entnehmen.

4. Zur Anrechenbarkeit des Arbeitslosenentgelts wurde bereits im ersten Rechtsgang zu 8 ObA 82/14p vom Obersten Gerichtshof Stellung genommen. Richtig ist auch, dass in dieser Entscheidung auf die Beweislast der Beklagten zur Frage, ob das Arbeitslosenentgelt noch rückforderbar ist, verwiesen wurde. Die Beklagte hat im fortgesetzten Verfahren die Verjährung eines allfälligen Rückforderungsanspruchs geltend gemacht.

Mittlerweile wurde § 25 Abs 6 AlVG durch die Novelle BGBl I Nr 38/2017 (SVÄG 2017) geändert.

Bei der Beurteilung, ob ein Widerruf einer zuerkannten Leistung nach § 24 Abs 2 AlVG zulässig ist und ob eine Verpflichtung zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen iSd § 25 Abs 6 AlVG durchgesetzt werden kann, ist nach dem im Verwaltungsverfahren geltenden allgemeinen Grundsatz das im Entscheidungszeitpunkt in Geltung stehende Recht anzuwenden. Nach § 24 Abs 2 und § 25 Abs 6 AlVG in der Fassung BGBl I Nr 38/2017 ist ein Widerruf nur zulässig und besteht eine Verpflichtung zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen nur dann, wenn der Widerruf bzw die Rückzahlungsverpflichtung mit erstinstanzlich erlassenem Bescheid innerhalb von drei Jahren nach dem jeweiligen Leistungszeitraum ausgesprochen wird. Auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme eines Rückforderungsgrundes durch das AMS kommt es nicht (mehr) an (vgl VwGH Ra 2017/08/0067).

Auch vom Kläger wird kein Grund aufgezeigt, warum die Vorinstanzen zu Unrecht davon ausgegangen sind, dass ein allfälliger Rückforderungsanspruch verjährt ist.

5. Nach den Feststellungen erfolgte die Reduzierung auf eine Teilzeitbeschäftigung ausschließlich aufgrund des Wunsches des Klägers. Daraus folgt aber grundsätzlich, dass es dem Kläger jedenfalls möglich gewesen wäre, das Gehalt aus einer Vollzeitbeschäftigung zu lukrieren. Die Ansicht der Vorinstanzen, dass er sich daher auch ein solches Gehalt nach § 1155 ABGB anrechnen lassen muss, ist nicht zu beanstanden.

6. Die außerordentliche Revision des Klägers ist daher mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

II. Zur außerordentlichen Revision der Beklagten:

1. Eine Abweichung des Berufungsgerichts von seiner im ersten Rechtsgang zum Ausdruck gebrachten Rechtsansicht ist kein Revisionsgrund, weil die Rechtsfrage vom Obersten Gerichtshof unabhängig von der Entscheidung des Berufungsgerichts zu lösen ist (RS0042181 [T10]).

2. Ein Geständnis iSd § 266 ZPO liegt vor, wenn der Erklärung einwandfrei zu entnehmen ist, dass bestimmte Tatsachenbehauptungen des Gegners als richtig zugegeben werden (RS0040114). Zugestandene Tatsachen sind dem Urteil ungeprüft zugrundezulegen. Betrifft ein Geständnis einen einfachen und eindeutigen Rechtsbegriff, ist es als Geständnis jenes Komplexes von Tatsachen anzusehen, die dem zugrunde liegen, sodass es das Gericht in diesem Umfang bindet (RS0111277; RS0039945).

Richtig verweist zwar die Beklagte darauf, dass die konkrete Widmung einer Zahlung eine Tatsache darstellt, die einer Außerstreitstellung zugänglich ist. Im konkreten Fall hat aber der Kläger nur vorgebracht, dass die Zahlung im Jahr 2004 ungewidmet erfolgt ist und daher anzurechnen ist. Wenn daher die Beklagte in der Folge dem Vorbringen des Klägers beitritt, „dass die Zahlung am Ende der Berechnung in Abzug zu bringen ist“, bezieht sie sich nur auf eine mögliche Rechtsfolge, nicht auf die zugrunde liegende Tatsache. Selbst wenn man aber von einer Außerstreitstellung der Tatsachenbehauptung „Zahlung ohne Widmung“ ausgeht, hat dann die Anrechnung entsprechend dem dispositiven Recht zu erfolgen.

Dass diese Anrechnung von den Vorinstanzen insoweit unrichtig vorgenommen wurde, wird in der Revision aber nicht konkret dargestellt.

3. Ein Arbeitnehmer ist nach der Rechtsprechung berechtigt, seine Arbeitsleistung solange zurückzuhalten, bis der Arbeitgeber einen bereits fällig gewordenen Lohnrückstand gezahlt hat (RS0020176). Nach § 1155 Abs 1 ABGB gebührt dem Arbeitnehmer nämlich auch für Dienstleistungen, die nicht zustandegekommen sind, das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Arbeitgebers liegen, daran verhindert worden ist; er muss sich jedoch anrechnen lassen, was er infolge Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat.

Die Formulierung „zur Leistung bereit war“ in § 1155 Abs 1 ABGB stellt offensichtlich nur auf die grundsätzliche Leistungsbereitschaft des Arbeitnehmers ab, wenn und solange der Arbeitgeber seine Lohnzahlungspflicht erfüllt. In diesem Sinn ist daher § 1155 ABGB teleologisch einschränkend auszulegen (9 ObA 139/16f ua).

4. Diese Grundsätze, von denen die Vorinstanzen ausgegangen sind, werden von der Beklagten auch nicht bezweifelt. Sie argumentiert jedoch, dass die Lohnrückstände nur geringfügig gewesen seien, weshalb der Kläger nicht berechtigt gewesen sei, seine Arbeitsleistung zurückzuhalten. Dabei übergeht sie jedoch, dass sie offenbar von 1994 bis 2007 dem Kläger abgesehen von einer Einmalzahlung überhaupt kein Entgelt bezahlt hat, also nicht nur geringfügige Beträge zurückgehalten hat. Dass daraus für manche Monate nur geringfügige Ansprüche resultieren, liegt ausschließlich daran, dass der Kläger sich um einen anderweitigen Verdienst bemüht hat. Dementsprechend errechnen sich für unterschiedliche Perioden gemessen am zustehenden Monatsentgelt auch unterschiedliche Differenzbeträge. Eine Durchschnittsbetrachtung, wie sie offenkundig der Beklagten vorschwebt, nach der Rückstände aus einzelnen Monaten auf längere Perioden umgelegt werden und damit „geringfügig“ werden, ist jedenfalls nicht vorzunehmen.

Die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass der festgestellte Gesamtanspruch des Klägers von 28.938,23 EUR brutto weder bei einer Brutto‑ noch einer Nettobetrachtung noch periodenbezogen als geringfügig zu betrachten ist, hält sich im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraums. Die Frage, ob bei bloß geringfügigen Entgeltrückständen ein Zurückbehaltungsrecht des Arbeitnehmers besteht, stellt sich daher im vorliegenden Fall nicht.

5. Auf das Bestehens einer Gegenforderung kommt es in diesem Zusammenhang nicht an, da die Beklagte außergerichtlich im relevanten Zeitpunkt (Verweigerung des Dienstantritts) keine Aufrechnung erklärt hatte und die diesbezüglichen Ansprüche auch nicht aus dem Dienstverhältnis resultieren.

6. Allein dass ein offener Anspruch strittig ist, kann nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer kein Zurückbehaltungsrecht zusteht, hätte es doch der Arbeitgeber sonst in der Hand, durch ein Bestreiten der Forderung den Arbeitnehmer zu einer weiteren Vorleistung zu zwingen.

Inwieweit das Berufen des Arbeitnehmers auf das Zurückbehaltungsrecht bei strittigen Forderungen mißbräuchlich erfolgt, ist jeweils von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Dass im konkreten Fall die Verweigerung des Arbeitsantritts in Schädigungsabsicht erfolgte, wurde nicht festgestellt. Dem Kläger kann auch nicht vorgeworfen werden, nach einem dreizehnjährigen Rechtsstreit, während dessen er genötigt war, eine Beschäftigung bei einem anderen Dienstgeber anzunehmen, diese Tätigkeit ohne eine Einigung über seine finanziellen Ansprüche nicht sofort beendet zu haben. Wenn die Beklagte auf den höheren Verdienst des Klägers beim neuen Arbeitgeber verweist, so bedeutet dieser höhere Verdienst, den der Kläger sich anrechnen lassen muss, auch, dass für sie mit einem späteren Arbeitsantritt keine Nachteile verbunden gewesen wären.

Bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände liegt in der Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass der Kläger zur Zurückbehaltung seiner Arbeitsleistung berechtigt war, jedenfalls keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung.

7. Behauptungen darüber aufzustellen, warum der in § 49a erster Satz ASGG festgelegte Zinssatz nicht zustehe, ist Sache des Schuldners (RS0116030 [T3]). Nur dann, wenn die Verzögerung der Zahlung auf einer vertretbaren Rechtsansicht des Schuldners beruht, sind die sonstigen gesetzlichen Zinsen zuzusprechen (RS0116030 [T2]). Unzutreffende Tatsachenbehauptungen können die Berechtigung des Zinsenbegehrens nicht in Zweifel ziehen. Ob die Verzögerung der Zahlung auf einer unvertretbaren Rechtsansicht beruht und deshalb Zinsen nach § 49a S 2 ASGG zuzusprechen sind, ist im Einzelfall zu beurteilen (RS0116030 [T1]).

Da im Verfahren überwiegend Fragen auf Tatsachenebene zu klären waren, bestehen gegen den Zinszuspruch der Vorinstanzen keine Bedenken.

8. Auch die außerordentliche Revision des Beklagten ist daher mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

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