OGH 8Ob592/92

OGH8Ob592/929.7.1992

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Griehsler als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Huber, Dr.Kodek, Dr.Graf und Dr.Jelinek als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. R***** H*****, vertreten durch die Mutter und alleinige gesetzliche Vertreterin E***** M***** H*****, diese vertreten durch Dr.Rudolf Tobler und Dr.Karl-Heinz Götz, Rechtsanwälte in Neusiedl/See, wider die beklagte Partei E***** H*****, vertreten durch Dr.Helmut Destaller und Dr.Gerald Mader, Rechtsanwälte in Graz, wegen S 50.100 sA und Feststellung (Gesamtstreitwert S 53.100) infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz vom 26. März 1992, GZ 3 R 199/91-22, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 15.Juli 1991, GZ 12 Cg 238/90-15, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Entscheidung wird dahin abgeändert, daß sie lautet:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei S 50.100 samt 4 % Zinsen seit 30.Jänner 1988 zu bezahlen.

Es wird festgestellt, daß die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche Ansprüche aus der Hundebißverletzung vom 1.September 1987 haftet.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 35.608,32 (einschließlich S 5.443,72 Umsatzsteuer und S 3.174 Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 1.9.1987 wurde die damals knapp vierjährige Klägerin vom Hund der Beklagten gebissen und erheblich verletzt. Sie war damals bei ihren Großeltern auf Besuch und spielte, wie schon des öfteren, auf dem eingefriedeten Nachbargrundstück, auf dem sich das Haus der Beklagten befindet, als sich der Unfall ereignete. Die Beklagte stand am Küchenfenster und unterhielt sich mit der Klägerin. Der Hund, ein damals etwa zehn Jahre alter Dackel-Spaniel-Mischlingsrüde, lag etwa drei Meter vom Küchenfenster entfernt ruhig im Garten. Plötzlich hörte die Beklagte einen Winsler und einen Schrei. Die Klägerin war vom Hund am rechten Auge gebissen worden; wie es genau zu dem Unfall kam, konnte nicht festgestellt werden. Die Klägerin erlitt eine schwere Verletzung im Bereich des rechten Auges: es wurde das Augenlid teilweise herabgerissen und auch der Tränenkanal durchtrennt. In einer dreistündigen Operation im Krankenhaus mußte der durchtrennte Tränenkanal durch ein Kunststoffröhrchen ersetzt und die Wunde operativ versorgt werden. Die Klägerin war vom 1.9. bis 9.9.1987 in stationärer Behandlung, wurde danach in häusliche Pflege entlassen, mußte aber in der Folge durch einen Facharzt für Augenheilkunde noch weiter behandelt werden.

Der Hund, der auch mit der Klägerin vertraut war, hatte sich vorher im Umgang mit Kindern immer gutartig verhalten; mit Ausnahme einer spielerischen Balgerei, bei der der Schwiegersohn der Beklagten einen blutigen Kratzer im Gesicht erlitt, hatten sich keine Zwischenfälle ereignet.

Die Klägerin begehrte die Verurteilung der Beklagten zum Schadenersatz in Höhe von S 50.100 und die Feststellung der Haftung für Folgeschäden aus diesem Unfall. Die Beklagte habe den aufgrund seiner Rasse eigenwilligen und unberechenbaren Hund, der schon einmal eine erwachsene Person gebissen habe, unzureichend beaufsichtigt, obwohl sie wahrgenommen habe, daß die Klägerin auf ihrem Anwesen im unmittelbaren Nahebereich des Hundes spielte.

Die Beklagte stellte die Höhe der Schadenersatzforderung und die Möglichkeit des Eintrittes von Spätfolgen außer Streit, beantragte aber die Abweisung des Klagebegehrens mit dem Einwand, daß ihr eine mangelhafte Verwahrung ihres Hundes nicht vorgeworfen werden könne. Sie habe auch nicht eine Aufsichtspflicht über die Klägerin übernommen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision an den Obersten Gerichtshof nicht zu. Es führte aus: Ein insbesondere im Umgang mit Kindern gutmütiger und harmloser Haushund, wie der der Beklagten, bedürfe keiner besonderen Verwahrung und Beaufsichtigung. Anhaltspunkte für eine besondere, über die jedem Hund aufgrund seiner weitgehend von Instinkten gelenkten Verhaltensweise grundsätzlich innewohnende Unberechenbarkeit hinausgehende Gefährlichkeit lägen nicht vor. Selbst wenn man annehmen wollte, daß die eigene Unberechenbarkeit und die mangelnde Einsicht der damals knapp vier Jahre alten Klägerin in die von einem Tier ausgehende typische Gefahr außergewöhnliche und einen erhöhten Sorgfaltsmaßstab erfordernde Umstände dargestellt hätten, könne der Beklagten im Hinblick darauf, daß der Hund mit der Klägerin vertraut gewesen sei, ein sonst allenfalls in der mangelnden Beaufsichtigung von Kind und Hund gelegenes objektives Fehlverhalten nicht vorgeworfen werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidung im klagestattgebenden Sinn; hilfsweise stellt sie auch einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte begehrt, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Es trifft zwar zu, daß die Frage, ob der Hundehalter mit der gebotenen Sorgfalt für die Verwahrung seines Hundes gesorgt hat, eine Frage des Einzelfalles ist; die Unterinstanzen haben aber bei der Beurteilung des vorliegenden Falles die von der oberstgerichtlichen Rechtsprechung dazu ausgesprochenen Grundsätze insofern verletzt, als sie vor allem der bei der Verwahrung eines wenngleich als gutmütig geltenden Hundes in der Nähe von Kleinkindern geforderten besonderen Vorsicht des Halters nicht die nötige Bedeutung beigemessen haben (siehe die grundlegenden Ausführungen in der E JBl 1982, 150), sodaß die außerordentliche Revision zulässig ist; sie ist auch berechtigt.

Gemäß § 1320 Satz 2 ABGB ist der Halter eines Tieres für jeden Schaden verantwortlich, der in der besonderen Tiergefahr seine Ursache hat, wenn er nicht beweist, daß er für die erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres gesorgt hat. Tiere stellen ihrer Natur nach auf Grund der Unberechenbarkeit ihres triebhaften Verhaltens, das auf menschliche Interessen nicht Rücksicht nimmt, eine - jeweils mehr oder weniger große - besondere Gefahrenquelle dar, die es rechtfertigt, dem Tierhalter im Falle der Vernachlässigung der im Einzelfall gebotenen Sorgfalt bei der Verwahrung des Tieres das Haftungsrisiko, das der typischen Tiergefahr entspringt, aufzuerlegen. Das Maß der erforderlichen Aufsicht und Verwahrung ist in elastischer und den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragender Weise zu bestimmen; insbesondere sind Art und Individualität des Tieres bei der Beurteilung seiner Gefährlichkeit sorgfältig zu berücksichtigen und die Möglichkeit einer Schädigung durch das spezifische Tierverhalten zu bedenken (JBl 1982, 150). Es muß zwar nicht jede denkbare Möglichkeit einer Schädigung ausgeschlossen (Reischauer in Rummel, ABGB, Rz 12, 20 ff zu § 1320 mwN aus der oberstgerichtlichen Rechtsprechung), aber doch das Risiko nach der Wahrscheinlichkeit seiner Verwirklichung bedacht werden.

Wegen ihres bisherigen Verhaltens als gutmütig angesehene Hunde dürfen zwar grundsätzlich in Haus und Hof frei und ohne Maulkorb herumlaufen. In der Nähe von Kleinkindern ist aber auch bei solchen Hunden besondere Vorsicht geboten (Reischauer aaO Rz 18 mwN), weil das Verhalten von Kindern Tieren gegenüber ebenso unberechenbar ist wie die darauffolgende Reaktion der Tiere, sodaß Kleinkinder durch einen unbeaufsichtigten Hund in ihrer Nähe stets potentiell gefährdet sind. Die gebotene Sorgfalt des Halters ist daher immer schon dann verletzt, wenn er es zuläßt, daß ein Kleinkind mit dem Hund unbeaufsichtigt spielt. Von einem vierjährigen Kind darf regelmäßig nicht erwartet werden, daß es sich einem Hund gegenüber risikolos verhält, ihm also absichtlich oder versehentlich, im Spiel oder ernstlich Schmerz oder sonstiges Unbehagen bereitet (zB an den Haaren, Ohren oder am Schwanz zieht) oder ihm auf die Pfoten tritt. Die Beklagte mußte vielmehr damit rechnen, daß die Klägerin im Umgang mit dem Hund ein unberechenbares Verhalten zeigt und daß auch dann die folgende Reaktion des Hundes ebenfalls unberechenbar ist. Damit ist aber eine "über die jedem Hund grundsätzlich innewohnende Unberechenbarkeit hinausgehende Gefährlichkeit" - wie sie das Berufungsgericht forderte - unerheblich. Wird nicht für eine entsprechende Beaufsichtigung des Kindes, eine abgesonderte Verwahrung des Hundes oder sonstige Sicherung, zB durch Anlegen eines Maulkorbes, gesorgt, verletzt der Hundehalter seine Verwahrungspflicht (JBl 1982, 150 mwN uva).

Die Beklagte durfte aus der aus dem vorherigen Tierverhalten abgeleiteten Gutmütigkeit ihres Hundes keinesfalls darauf schließen, daß er niemals jemanden ernstlich verletzten werde. Auch die Erfahrung, daß sich bisher im Verkehr ihres Hundes mit Kindern durch Jahre hindurch kein Schadensfall ereignet hatte, schließt nicht die künftige Möglichkeit eines solchen aus. Die in der Allgemeinheit weitverbreitete Auffassung, das erste, nicht der Erfahrung entsprechende "Fehlverhalten" eines Hundes ("Erstbiß") sei für seinen Halter ohne haftungsrechtliche Folgen ("Freibiß") - die auch in der Entscheidung des Berufungsgerichtes anklingt (S 7 = AS 127: "Ein gutmütiger und harmloser Hund"; "langjähriges gutmütiges Verhalten") -, kann vom Obersten Gerichtshof nicht geteilt werden; die richtige Folgerung aus einem solchen Verhalten des Tieres ("Erstbiß") ist vielmehr, daß dem Halter künftig eine gesteigerte Sorgfalt bei der Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres trifft.

Die Beklagte hätte, als sie sah, daß die Klägerin allein und unbeaufsichtigt mit dem Hund in Kontakt tritt, entweder das Kind beaufsichtigen oder für die erforderliche Verwahrung oder Sicherung ihres Hundes (etwa durch Wegsperren oder Anlegen eines Maulkorbes) Sorge tragen müssen. Da sie dies unterlassen hat, obwohl sie damals dort die einzige Person war, die diese Vorkehrungen hätte treffen können, ist ihr eine Verletzung der gebotenen Sorgfalt bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Verwahrungspflicht anzulasten, sodaß sie für die unstrittig entstandenen Schäden und möglicherweise noch entstehenden Folgeschäden haftet.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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