Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 21.229,20 (einschließlich S 3.538,20 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger wurde am 2. Juni 1987 im Krankenhaus R*****, dessen Rechtsträger die Beklagte ist, im Wege eines Kaiserschnittes zur Welt gebracht. Er war bei der Geburt zyanotisch, schlaff und bradycard und wurde sofort in die Kinderklinik G***** überführt. Es liegt ein Hirnödem sowie eine schwerste cerebrale Parese vor. Das Hirn ist kaum arbeitsfähig, der Kläger ist nur in der Lage, diffuse Mißbehagenszustände zu empfinden, die weder ausgedrückt noch beschrieben werden können. Die Merkfähigkeit ist reduziert, die cerebrale Parese macht eine Motorik unmöglich. Es liegen Bewegungseinschränkungen vor, die zu Sekundärveränderungen führen werden (Kontrakturen, Versteifungen, Hautveränderungen, Dekubitusgeschwüre, Auswirkungen auf die Herz- und Kreislauffunktion, allenfalls auf den Verdauungstrakt). Der Zustand des Klägers ist nicht verbesserungsfähig.
Der Kläger begehrte die Verurteilung des beklagten Bundeslandes als Rechtsträger des Krankenhauses zur Zahlung von S 1,000.000,-- an Schmerzengeld und S 200.000,-- an Verunstaltungsentschädigung sowie die Feststellung, daß die Beklagte ihm für alle Folgen hafte, die ihm wegen der nicht fachgerechten Geburtshilfe am 2 Juni 1987 entstehen werden.
Er brachte dazu vor: Seine Mutter habe sich am 1. Juni 1987 zur Entbindung in das Krankenhaus R***** begeben. Während des Geburtsvorganges seien bedrohliche Situationen aufgetreten, auf die nicht ordnungsgemäß reagiert worden sei. So sei zwischen 3,35 Uhr und 4,05 Uhr des 2. Juni 1987 das Cardiotokogramm ständig pathologisch gewesen, um 4 Uhr sei es zu einem katastrophalen Frequenzabfall (der Herztätigkeit des Kindes) gekommen. Daraufhin sei die Durchführung eines Kaiserschnittes angeordnet worden, um 4,35 Uhr sei der Kläger durch Kaiserschnitt entwickelt worden. Obwohl medizinisch indiziert, hätten es die Ärzte unterlassen, rechtzeitig eine Mikroblutanalyse und eine Akuttokolyse anzuordnen. Jedenfalls aber hätte die notwendige Operation, nämlich der Kaiserschnitt, durchgeführt werden müssen. Das Alleinverschulden am Zustand des Klägers treffe die Bediensteten der Beklagten, die die fachgerechte Überwachung und Behandlung der Mutter des Kindes grob fahrlässig unterließen. Der Kunstfehler sei bereits im Verfahren zu 21 Cg 185/87 des Landesgerichtes für ZRS Wien (Klage der Eltern des Klägers gegen die Beklagte) festgestellt worden.
Die Beklagte wendete ein, es sei erst um 4,05 Uhr ein akuter Herzfrequenzabfall des Kindes aufgetreten, darauf sei sofort richtig reagiert worden. Es sei in kürzestmöglicher Zeit der Kaiserschnitt angeordnet und durchgeführt worden. Eine Akuttokoloyse sei untunlich gewesen und hätte die Durchführung des Kaiserschnittes nur verzögert. Eine solche Maßnahme gehöre keineswegs zum allgemein üblichen Therapieprogramm der Schulmedizin, sie werde von vielen Ärzten und Krankenanstalten wegen der damit verbundenen Beeinträchtigung der Mutter mit folgenden schädlichen Nebenwirkungen für das Kind nicht praktiziert. Eine Mikroblutanalyse, deren Wert umstritten sei, sei mit großen Unsicherheitsfaktoren verbunden. Die Durchführung der vermißten Maßnahmen und auch ein 30 oder 40 Minuten früher angeordneter Kaiserschnitt hätten zu keiner Besserung des Zustandes des Klägers geführt. Bestritten wurde, daß es zu einem 45 Minuten andauernden Sauerstoffmangel des Kindes kam; der Zustand des Klägers sei auf andere Faktoren (chronische Plazentainsuffizienz, pränatale Dystrophie, eine eitrige Meningitis oder eine genetische Schädigung) zurückzuführen.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch folgende wesentliche Feststellungen:
Die Mutter des Klägers wurde am 1. Juni gegen 23 Uhr in den Kreißsaal gebracht. Um 23,10 Uhr wurde ein Cardiotopogramm (CTG) zur Überwachung der Herzfrequenz des Kindes eingeschaltet. In der Folge wurde die Mutter von der Hebamme, von Oberarzt Dr. M***** und später auch von Oberarzt Dr. R***** betreut. Zwischen 23,30 Uhr und 1 Uhr früh gab es durch einzelne Dezellerationen Hinweise auf eine Sauerstoffverarmung. Ab 1 Uhr traten deutliche Dezellerationen ein, die in ihrer Tiefe und Dauer sowie Form schwankten und als Warnsignal angesehen werden mußten. Später traten wieder vereinzelte Akzellerationen auf. Um 2,40 Uhr nahm die Bandbreite ab, Nulldurchgänge wurden seltener, Akzellerationen fehlten. Es waren deutlich variable Dezellerationen zu erkennen. Immer wieder traten aber beim Kind Erholungsphasen auf. Um 3 Uhr sank die Herzfrequenz bis auf 60 Schläge pro Minute und blieb 6 Minuten lang unter 100 Schlägen. Um 3,10 Uhr erholte sich die Herzfrequenz des Kindes. Das Cardiotopogramm zeigte deutliche Belastungszeichen des Kindes. In der Folge kam es nur zögernd zu einer Normalisierung der Herzfrequenz. Um 3,35 Uhr bemerkte die Hebamme den Frequenzabfall. Sie gab der Mutter des Klägers Sauerstoff und wies sie an, sich auf die Seite zu drehen. Danach wurden die Herztöne des Kindes wieder regelmäßig. Um 4,05 Uhr trat eine akute Notsituation ein; die Herzfrequenz fiel auf unter 50 Schläge pro Minute. Dr. M***** entschied, einen Kaiserschnitt vorzunehmen und verständigte Dr. R*****, der um 4,15 Uhr eintraf. Die Mutter des Klägers wurde in den Operationssaal gebracht, um 4,30 Uhr wurde der Kläger durch Kaiserschnitt entwickelt. Er war schwerst deprimiert. Es wurde eine interauterine Asphyxie, Blässe, Schock und Atemstörung festgestellt.
Als um 3,35 Uhr am CTG-Schreiber "variable Dips" auftraten (die auf eine Nabelschnurkomplikation hinwiesen), hätte Oberarzt Dr. R***** verständigt und eine Mikroblutanalyse durchgeführt werden müssen. Ein entsprechendes Gerät war zwar im Krankenhaus vorhanden, es war aber nicht einsatzbereit. Da ab 3,35 Uhr das CTG ständig pathologische Werte zeigte, hätten Maßnahmen für eine raschere Entbindung getroffen werden müssen. Schon um 3,35 Uhr, spätestens aber um 4,05 Uhr, hätte eine Akuttokolyse durchgeführt werden müssen. Dadurch tritt eine Wehenhemmung ein, wodurch sich das Kind erholen hätte können. Eine Mikroblutanalyse hätte Klarheit geschaffen, ob ein Kaiserschnitt durchzuführen ist. Das CTG alleine läßt die Schwere der Krise nicht erkennen. Da eine Analyse nicht möglich war, hätte der Kaiserschnitt früher angeordnet werden müssen. Unmittelbar nach der Geburt wurde der Kläger in die Kinderklinik G***** transferiert, wo er 40 Minuten später eintraf. Dort wurde eine schwere posthypoxische Encephalopathie als Folge einer schweren Asphyxie (Aufhören des Pulsschlages) im Zusammenhang mit einem Kaiserschnitt diagnostiziert. Es lag sohin eine Schädigung des Gehirns infolge Sauerstoffmangels vor, die zu den oben angeführten schwersten Mehrfachbehinderungen führte. Weitere Ursachen für diese Schädigungen konnten nicht festgestellt werden; insbesondere liegen sie nicht in einer chronischen Plazentainsuffizienz, in einer pränatalen Dystrophie, in einer Infektion mit Verdacht auf eitrige Meningitis oder einem genetischen Vorschaden.
Das Erstgericht kam zu dem Schluß, die Beklagte habe nicht widerlegen können, daß die schuldhaften Unterlassungen zur Schädigung des Klägers führten. Im Hinblick auf das festgestellte Unbehagen des Klägers habe er einen Anspruch auf das geforderte Schmerzengeld; der Betrag von 1 Mill. S sei angemessen. Gemäß § 1326 ABGB stehe dem Kläger eine Verunstanltungsentschädigung von S 200.000,-- zu. Das Feststellungsbegehren sei berechtigt, weil mit Verschlechterungen zu rechnen sei.
Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht hat diese Entscheidung bestätigt und in rechtlicher Hinsicht ausgeführt:
Voraussetzung für die Gewährung eines Schmerzengeldes sei nicht das Fühlen von "Schmerz"; es sei auch dann zuzusprechen, wenn der Verletzte infolge einer schweren Schädigung seiner Gehirnfunktion nach menschlichem Ermessen auch in der Zukunft nicht in der Lage sein werde, sich Annehmlichkeiten oder Erleichterungen zu verschaffen oder verschaffen zu lassen. Hier könne das Schmerzengeld als Abgeltung eines ideellen Schadens nicht verweigert werden. Es komme nicht auf Schmerzempfindungen, sondern auf die Funktion des Schmerzengeldes und auf die Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit an. Auf die von der Beklagten aufgeworfene Frage der Konkurrenz mit einem auf Seite des Klägers eingetretenen Zufall sei nicht einzugehen, weil ein solcher Zufall nicht ersichtlich sei. Der Beklagten sei der Beweis, daß auch bei ordnungsgemäßem Handeln der Schaden ganz oder teilweise entstanden wäre, nicht gelungen. Bestimmte, von vornherein gegebene Eigenschaften des Klägers, die seinen jetzigen Zustand mitverursachten, seien nicht bewiesen worden. Es konkurriere keine zweite Schädigungsursache mit den der Beklagten zuzurechnenden Versäumnissen. Es bestehe daher kein Anlaß, den Schadenersatzanspruch des Klägers zu kürzen. Zur Höhe des Schmerzengeldes wurde ausgeführt, daß dieses den Folgen des Behandlungsfehlers, nämlich der Verhinderung des Entstehens einer Persönlichkeit, entspreche. Daß der Kläger an seinem Fortkommen gehindert sei und damit einen Anspruch nach § 1326 ABGB habe, bedürfe keiner weiteren Erörterung.
Die ordentliche Revision wurde mit der Begründung zugelassen, daß zur Frage der Schadensteilung aufgrund eines vom Verletzten ausgehenden Zufalles nur eine einzelne Entscheidung (JBl. 1990, 524) bestehe, ebenso zur Frage der Voraussetzung des Bestehens einer Persönlichkeit, die über eine bloß biologische Existenz hinausgehe (5 Ob 608/84).
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, in Abänderung der angefochtenen Entscheidung festzustellen, daß die Beklagte für die Hälfte aller Folgen, die wegen der nicht sachgerechten Geburtshilfe für den am 2. Juni 1987 geborenen Kläger eintreten werden, hafte; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger hat in seiner Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel der Beklagten zurückzuweisen, in eventu ihm keine Folge zu geben.
Die Revision ist zulässig, weil zur Frage des Zuspruches von Schmerzengeld beim Fehlen von Schmerzempfindungen noch keine gesicherte Rechtsprechung vorliegt; sie ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die in der Revision geltend gemachte Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 510 Abs. 3 ZPO). Die angeblichen Mängel des Verfahrens erster Instanz sind nicht neuerlich zu prüfen, weil ihr Vorliegen vom Berufungsgericht verneint wurde (E 28 zu § 503 ZPO in MGA14). Insoweit in der Revision die Tatsachenfeststellungen bekämpft werden, ist es dem Obersten Gerichtshof, der keine Tatsacheninstanz ist, verwehrt, auf diese Ausführungen einzugehen.
In ihrer Rechtsrüge vertritt die Beklagte die Ansicht, aus dem Gutachten der Sachverständigen ergebe sich, daß der Kläger weder Schmerzen noch Unbill in dem Sinn, wie sie als Voraussetzung für eine Entschädigung verlangt werden, empfinde; er habe daher keinen Anspruch auf Schmerzengeld.
Hiezu wurde erwogen:
Es trifft zu, daß die Rechtsprechung zum Schmerzengeld in Fällen eines apallischen Syndroms verbal den Grundsatz aufrecht erhalten hat, Voraussetzung für den Zuspruch eines Schmerzengeldes sei das Vorhandensein von Schmerzempfindungen beim Verletzten, mag er auch nicht fähig sein, seine Schmerzen bei klarem Bewußtsein zu erleben und rational zu verarbeiten (SZ 44/150; 2 Ob 146/89). Anderseits erachtete aber die Rechtsprechung das Schmerzengeld auch in den Fällen nicht als funktionslos, in denen der Verletzte wegen schwerer Schädigung seiner Gehirnfunktion nach menschlichem Ermessen auch in Zukunft nicht in der Lage sein wird, sich Annehmlichkeiten oder Erleichterungen zu verschaffen oder verschaffen zu lassen (5 Ob 608/84). Als bestimmend wurde vielmehr die "außergewöhnliche Schwere der Unfallsfolgen" an sich und nicht die Intensität des Unlusterlebnisses erkannt. In der Entscheidung vom 23. April 1992 (6 Ob 535, 1558/92) ist der 6. Senat des Obersten Gerichtshofes darüber hinausgegangen und hat ausgeführt, die tatsächliche rechtliche Wertung des Schmerzengeldanspruches liege darin, daß eine haftungsbegründende Einwirkung auf die Persönlichkeitsstruktur einer Person, die diese außerstande setze, Schmerz und Leid im Gegensatz zu Wohlbefinden und Freude zu empfinden und sie damit elementarster menschlicher Empfindungen beraubt, für den darin gelegenen immateriellen Nachteil als solchen entschädigungspflichtig macht. Wem die Erlebnisfähigkeit genommen wird, der erleidet einen schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutenden Nachteil an seiner Person wie durch eine Störung seines Wohlbefindens durch "Schmerz". Der erkennende Senat schließt sich dieser überzeugend begründeten Ansicht an; dem Kläger steht demnach aufgrund der Zerstörung seiner Persönlichkeitsstruktur ein Schmerzengeldanspruch zu.
Die mit S 1 Mill. bemessene Höhe des Schmerzengeldes wird der Schwere des Eingriffes in die Persönlichkeitsstruktur des Klägers gerecht. Bereits in der Entscheidung vom 3. Dezember 1985, 5 Ob 608/84, wurde aufgrund der Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit ein Schmerzengeld von 1 Mill. S zuerkannt.
Auf die in der Revision aufgeworfene Frage der Mitursächlichkeit der Plazentainsuffizienz der Mutter des Klägers ist nicht einzugehen, weil die beklagte Partei den Beweis dafür, daß die cerebralen Schäden auch ohne die ihr zuzurechnenden Unterlassungen eingetreten wären, nicht erbrachte (so schon 8 Ob 1527/90).
Mit Recht haben daher die Vorinstanzen dem Klagebegehren stattgegeben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
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