OGH 8Ob54/11s

OGH8Ob54/11s29.6.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden, den Hofrat Hon.-Prof Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. J***** L*****, geboren am 7. August 2009, über den Revisionsrekurs der Pflegeeltern 1. D***** B***** und 2. N***** S*****, beide *****, beide vertreten durch Sattlegger Dorninger Steiner & Partner, Rechtsanwälte in Linz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 2. Februar 2011, GZ 21 R 22/11a-30, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Pflegeeltern unter Abstandnahme vom herangezogenen Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung

Das am 7. 8. 2009 geborene Kind lebte in den ersten fünf Lebenswochen bei seiner Mutter, die an einer schwerwiegenden psychischen Krankheit leidet. Am 10. 9. 2009 wurde das Kind wegen Verschlechterung des Zustands der Mutter im Rahmen einer Interimsmaßnahme nach § 215 Abs 1 ABGB vom Jugendwohlfahrtsträger bei Krisenpflegeeltern untergebracht. Am 16. 9. 2009 stellte der Jugendwohlfahrtsträger den Antrag, ihn mit der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung zu betrauen und diese der Mutter zu entziehen.

Das erstinstanzliche Verfahren erstreckte sich über mehr als ein Jahr, weil die Entwicklung der Erkrankung der Mutter die Einholung psychologischer Gutachten erforderlich machte. Während dieses Zeitraums war das Kind ständig bei Pflegeeltern untergebracht, deren Personalien im Gerichtsakt nicht aufschienen und die dem erstinstanzlichen Verfahren nicht beigezogen wurden. Auch über einen Wechsel der Pflegefamilie wurde das Gericht nicht in Kenntnis gesetzt, allerdings gab die Mutter im Zuge der Befunderhebung durch den Sachverständigen am 2. 4. 2010 (AS 41) an, dass die Besuchskontakte zu ihrem Kind seltener geworden seien, weil es nun bei anderen Pflegeeltern lebe.

Mit dem in der Tagsatzung vom 18. 11. 2010 verkündeten Beschluss gab das Erstgericht dem Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers auf Übertragung der Obsorge über das Kind im Bereich Pflege und Erziehung befristet bis 31. 7. 2011 statt, anschließend komme die alleinige Obsorge wieder der Mutter zu. Sowohl der Vertreter des Jugendwohlfahrtsträgers als auch die Mutter erklärten, auf Rechtsmittel gegen diesen Beschluss zu verzichten, die schriftliche Ausfertigung wurde ihnen am 9. 12. bzw 13. 12. 2010 zugestellt.

Am 16. 12. 2010 ersuchten die Revisionsrekurswerber als Pflegeeltern des Kindes das Erstgericht um eine Aktenkopie. Ihren am 22. 12. 2010 erhobenen Rekurs gegen den Beschluss vom 18. 11. 2010 wies das Rekursgericht mit dem angefochtenen Beschluss als verspätet zurück.

Die Rekurswerber seien, selbst wenn sie als Pflegeeltern im Sinn des § 186 ABGB anzusehen wären, jedenfalls nicht im Verfahren aktenkundige Parteien im Sinn der §§ 8 Abs 2, 46 Abs 2 AußStrG gewesen, sodass sie nur bis zu jenem Zeitpunkt einen Rekurs erheben hätten können, bis zu dem eine aktenkundige Partei einen Rekurs oder eine Rekursbeantwortung erstatten hätte können. Der angefochtene Beschluss sei aber wegen des Rechtsmittelverzichts der aktenkundigen Parteien bereits mit der Zustellung an diese rechtskräftig geworden. Der ordentliche Revisionsrekurs sei jedoch zulässig, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu den Fragen bestehe, ob auch „Krisenpflegeeltern“ einem Verfahren auf Entziehung der Obsorge gemäß § 176 ABGB beizuziehen seien und wie weit die Nachforschungspflicht des Gerichts zur Ermittlung allenfalls weiterer dem Verfahren beizuziehender Parteien gehe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Pflegeeltern ist aus den vom Rekursgericht angeführten Gründen zulässig und berechtigt.

Gemäß § 186 ABGB haben Pflegeeltern, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen und zu denen eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahe kommende Beziehung besteht oder hergestellt werden soll, in dem die Person des Kindes betreffenden Pflegschaftsverfahren das Antrags- und damit auch das Rekursrecht (RIS-Justiz RS0006506 [T1 ff]; RS0118141; RS0006508), und zwar auch in Verfahren, die nicht über ihren Antrag eingeleitet wurden. Auf die Art des Begründungsakts kommt es letztlich nicht an, bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale ist die Pflegeelterneigenschaft kraft Gesetzes gegeben (Stabentheiner aaO § 186 ABGB Rz 2; Haberl in Schwimann³ § 186 ABGB Rz 3).

Zutreffend hat das Rekursgericht ausgeführt, dass unter den Pflegeelternbegriff des § 186 ABGB nicht Personen fallen, die das Kind von vornherein nur vorübergehend oder ohne Eingliederung in ihren eigenen Lebenszusammenhang betreuen (zB Internat oder Heim; Stabentheiner in Rummel³, § 186 Rz 1). Keine Pflegeeltern iSd § 186 ABGB sind daher auch „Krisenpflegeeltern“, die Kinder in einer akut gefährdenden Lebenssituation nur für einen von vornherein begrenzten Zeitraum aufnehmen, ohne dass der Aufbau einer dauerhaften familienähnlichen Beziehung angestrebt wird.

Abgesehen von den Fällen vorübergehender Krisenunterbringung muss aber bei jeder Vermittlung eines Pflegeplatzes nach § 15 Abs 2 JugendwohlfahrtsG (§ 22 Oö JugendwohlfahrtsG) durch den Jugendwohlfahrtsträger die begründete Aussicht bestehen, dass zwischen den Pflegepersonen und dem Pflegekind eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung hergestellt wird; vom Jugendwohlfahrtsträger bestellten Dauerpflegeeltern stehen somit auch die Rechte nach § 186 ABGB zu.

Das nach § 49 Abs 2 AußStrG zulässige Vorbringen der Rekurswerber, sie seien seit mehr als einem Jahr die Dauerpflegeeltern des Kindes, ist unstrittig. Die nachträgliche Bestätigung dieses Vorbringens durch den Jugendwohlfahrtsträger (S 3 in ON 43) ist auch im Rechtsmittelverfahren zu Gunsten des Kindeswohls zu beachten, da Obsorgeentscheidungen nur dann sachgerecht sein können, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS-Justiz RS0106312; RS0048056).

Die Revisionswerber sind daher als Pflegeeltern des Kindes grundsätzlich rechtsmittellegitimiert. Die Rechtzeitigkeit ihres Rekurses hängt aber, wie das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, davon ab, ob ihre Parteistellung auch als aktenkundig anzusehen war. Der Umstand, dass die aktenkundigen Parteien im voraus einen Rechtsmittelverzicht erklärt haben, wirkt sich nach § 46 Abs 2 AußStrG zu Lasten von nicht aktenkundigen Parteien aus, deren Frist in diesem Fall auf den Zeitraum zwischen Verkündung und Zustellung des Beschlusses verkürzt wird (RIS-Justiz RS0124995).

Aktenkundige Parteien sind neben den vom Antragsteller als weitere Antragsteller oder Antragsgegner bezeichneten Personen alle jene, deren materielle Parteistellung sich aus den im konkreten Gerichtsakt befindlichen Informationen ergibt. Das Gericht hat daher von sich aus auf die Wahrung der Rechte dieser Personen zu achten, wobei es aber keine umfassende Nachforschungspflicht nach allen möglichen Eventualitäten in Richtung eines Erkundungsbeweises trifft (Fucik/Kloiber, aaO § 8 AußStrG Rz 5).

Im vorliegenden Verfahren ist dem Rekursgericht zuzustimmen, dass das Erstgericht zunächst nach der Angabe im Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, das Kind sei bei nicht genannten Krisenpflegeeltern untergebracht, noch keine weiteren Nachforschungen anstellen musste, weil sich daraus nur eine vorläufige Maßnahme und kein Hinweis auf die Begründung eines Pflegeelternverhältnisses iSd § 186 ABGB ergab.

Im Zuge der letztendlich mehr als einjährigen Dauer des Verfahrens wurde es jedoch schon allein durch den Zeitablauf offenkundig, dass die ursprüngliche Krisenunterbringung einer auf längere Dauer angelegten Eingliederung in eine Pflegefamilie gewichen sein musste. Die Bedeutung dieses Zeitfaktors ist im vorliegenden Fall unübersehbar, hat doch das im Alter von nur einem Monat der Mutter abgenommene Kind fast sein gesamtes bisheriges Leben in Fremdpflege verbracht, sodass jedenfalls mit einer engen Bindung im Sinn des § 186 ABGB zu seinen Pflegeeltern zu rechnen war. Unter diesen Umständen war das Gericht spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung verpflichtet, sich beim Vertreter des Jugendwohlfahrtsträgers nach Ort und Umständen des bisherigen Aufenthalts des Kindes zu erkundigen, um sich ein Bild über die Pflegesituation und die Auswirkungen der beabsichtigten Änderung verschaffen zu können, mit dem Ergebnis, dass die Revisionsrekurswerber als bereits in erster Instanz (hinreichend) aktenkundige Parteien am Verfahren zu beteiligen gewesen wären.

Das Rekursgericht, dessen Zurückweisungsbeschluss aufzuheben war, wird daher über den Rekurs der Pflegeeltern meritorisch zu entscheiden haben.

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