OGH 8Ob46/22f

OGH8Ob46/22f29.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Dr. Weixelbraun‑Mohr sowie die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. W* P*, vertreten durch Konrad Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei S* GmbH, *, vertreten durch Dr. Michael Wukoschitz, Rechtsanwalt in Wien, wegen 21.821,82 EUR sA, im Verfahren über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 27. Jänner 2022, GZ 4 R 194/21p‑16, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 13. Juli 2021, GZ 34 Cg 9/21t‑11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0080OB00046.22F.0629.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art 12 Abs 3 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen zur Änderung der Verordnung (EG) Nr 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (Pauschalreise‑RL) dahin auszulegen, dass sich ein Reiseveranstalter auf unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände, die ihn an der Erfüllung des Vertrags hindern, schon dann berufen kann, wenn die im Mitgliedstaat des Kunden dazu autorisierte Behörde vor dem geplanten Reisebeginn eine Reisewarnung der höchsten Stufe für das Zielland verlautbart hat?

2. Wenn Frage 1. bejaht wird:

Ist Art 12 Abs 3 der Richtlinie (EU) 2015/2302 dahin auszulegen, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände dann nicht vorliegen, wenn der Reisende im Bewusstsein der Reisewarnung und der Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Pandemiesituation erklärt hat, an der Reise dennoch festhalten zu wollen und ihre Durchführung für den Veranstalter nicht unmöglich gewesen wäre?

B. Das Verfahren über das Rechtsmittel des Klägers wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

 

Begründung:

[1] 1. Der Kläger, ein niedergelassener Facharzt, und seine Gattin buchten am 13. 5. 2020 eine von der beklagten Partei veranstaltete Pauschalreise mit dem Ziel Malediven für den Zeitraum vom 26. 12. 2020 bis 2. 1. 2021 zu einem Gesamtpreis von 8.620 EUR.

[2] Spätestens ab Dezember 2020 bestand für die Malediven aufgrund der Covid‑19‑Pandemie eine Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums der höchsten Stufe 6 („Es wird von allen touristischen und nicht notwendigen Reisen, einschließlich Urlaubs‑ und Familienbesuchsreisen, in dieses Land gewarnt“). Zu diesem Zeitpunkt war die 7‑Tages‑Inzidenz auf den Malediven mit 34,7 geringer als in Österreich mit 220.

[3] Die Beklagte sagte die gebuchte Reise am 3. 12. 2020 aufgrund der Reisewarnung ab. Die Begründung wurde dem Kläger spätestens am 9. 12. 2020 mitgeteilt und ihm die geleistete Anzahlung rücküberwiesen. Alternative Reiseangebote der Beklagten entsprachen nicht den Vorstellungen des Klägers und seiner Ehefrau.

2. Anträge und Vorbringen der Parteien

[4] Der Kläger macht eigene und von seiner Ehefrau abgetretene Schadenersatzansprüche wegen entgangener Urlaubsfreude sowie einen pauschalen Unkostenbetrag geltend. Darüber hinaus begehrt er den Ersatz von Verdienstentgang, weil er seine Praxis wegen der gebuchten Reise vom 23. 12. 2020 bis 5. 1. 2021 geschlossen habe. Eine kurzfristige Rücknahme der Schließung sei nach der Absage nicht mehr möglich gewesen. Die Reisewarnung des Ministeriums sei kein unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstand gewesen, der die Beklagte an der Erfüllung des Reisevertrags gehindert hätte, zumal die 7‑Tages‑Inzidenz auf den Malediven günstiger gewesen wäre, es auch dort ausreichende medizinische Versorgung gebe und der Kläger und seine Gattin überdies eine Reisekrankenversicherung abgeschlossen hätten.

[5] Die Beklagte wandte ein, die Durchführung der Reise sei ihr nicht zumutbar gewesen. Sie hätte unüberschaubare Haftungsfolgen in Kauf nehmen müssen, wenn sie sich über die Reisewarnung des Außenministeriums hinweggesetzt hätte. Aufgrund der ab 26. 12. 2020 in Österreich geltenden Ausgangsbeschränkungen hätte der Kläger die Reise nicht einmal antreten dürfen. Ein durch die Absage verursachter Verdienstentgang sei ihm nicht entstanden.

3. Bisheriges Verfahren

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Beklagte habe sich für ihren Rücktritt auf rechtfertigende unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände berufen. Schon aus diesem Grund gebühre kein Schadenersatz.

[7] Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel des Klägers keine Folge. Selbst wenn die Reisewarnung nur als Indiz für außergewöhnliche Hindernisse angesehen würde, treffe die Beklagte in Anbetracht der im Rücktrittszeitpunkt herrschenden Unsicherheit über die Entwicklung der Pandemie jedenfalls kein Verschulden.

[8] Der Oberste Gerichtshof hat über die Revision des Klägers zu entscheiden. Die Beklagte vertritt auch im Revisionsverfahren den Standpunkt, dass sie wegen unvermeidlicher und unvorhersehbarer Umstände in Gestalt der Reisewarnung zum Rücktritt vom Reisevertrag ohne weitere Entschädigungspflicht berechtigt gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

4. Rechtsgrundlagen

4.1. Unionsrecht

[9] Art 12 Abs 3 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen zur Änderung der Verordnung (EG) Nr 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (Pauschalreise-RL) lautet auszugsweise:

„Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn

a) sich für die Pauschalreise weniger Personen als die im Vertrag angegebene Mindestteilnehmerzahl angemeldet haben und der Reiseveranstalter den Reisenden innerhalb der im Vertrag gesetzten Frist vom Rücktritt vom Vertrag in Kenntnis setzt, (...)

oder

b) der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt. (...)“

[10] Nach der Definition des Art 3 Z 12 Pauschalreise‑RL sind „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ „eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.

4.2. Österreichisches Recht

[11] Nach § 10 Abs 3 zweiter Fall Pauschalreisegesetz kann der Reiseveranstalter vor Beginn der Pauschalreise gegen volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, aber ohne Zahlung einer zusätzlichen Entschädigung vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, „wenn der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und seine Rücktrittserklärung dem Reisenden unverzüglich, spätestens jedoch vor Beginn der Pauschalreise zugeht“.

5. Vorlagefragen

[12] 5.1. Im Anlassfall lag rund drei Wochen vor Antritt der gebuchten Reise wegen der Covid‑19‑Pandemie eine durch das Außenministerium des Wohnsitzstaats des Klägers verlautbarte Reisewarnung der höchsten Stufe vor, die mit der Empfehlung an die Bevölkerung verbunden war, touristische Reisen an das gebuchte Ziel zu unterlassen.

[13] Sowohl der Verlauf der Covid‑19‑Pandemie als auch die Ausgabe der Reisewarnung unterlagen nicht der Kontrolle des beklagten Reiseveranstalters. Er hatte offenkundig auch keine Möglichkeit, die Folgen der Pandemie im Allgemeinen oder die Reisewarnung im Besonderen durch eigene geeignete Vorkehrungen zu vermeiden.

[14] 5.2. Zweifelhaft ist jedoch, ob die von einem Ministerium wegen einer Pandemiesituation ausgegebene Reisewarnung als solche bereits einen Umstand bildet, der die Beklagte als Reiseveranstalterin zum Rücktritt berechtigte, weil darin ein hohes Risiko für die sichere Durchführung der Reise ausgedrückt wird und auch mit möglichen Maßnahmen am Urlaubsort gerechnet werden musste, die den Aufenthalt oder die Rückkehr der Reisenden behindern hätten können, oder ob es, wovon der Kläger ausgeht, vom Veranstalter zu fordern ist, unabhängig von der öffentlichen Warnung die Situation selbst zu bewerten und eine Risikoabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu treffen.

[15] Für die Maßgeblichkeit der öffentlichen Reisewarnung könnte ins Treffen geführt werden, dass sie von einer unbeteiligten qualifizierten Stelle erlassen wird und eindeutig ist, sodass dem Bedürfnis der beteiligten Verkehrskreise nach Klarheit und Rechtssicherheit entsprochen wird. Hinzu kommt, dass einer staatlichen Behörde, insbesondere einem Ministerium des Äußeren, in der Regel auch verlässlichere Möglichkeiten zur Beobachtung der Gefährdungslage zur Verfügung stehen als einem Unternehmen.

[16] Für die Auslegung des Klägers würde dagegen sprechen, dass die behördliche Reisewarnung angesichts eines ständig sich verändernden Pandemiegeschehens und ständig wechselnder Betroffenheit der unterschiedlichen Weltregionen unter Umständen nicht mehr völlig aktuell sein und die reale Gefährdungslage im Reisezeitpunkt nicht widerspiegeln könnte. Die Rechtsprechung hat bisher nur für den Reisenden den Rücktrittsgrund bejaht (8 Ob 99/99p), zu einem Rücktritt des Veranstalters aber noch nicht Stellung genommen.

[17] 5.3. Die zweite Vorlagefrage zielt darauf ab, ob der Reiseveranstalter sich auch bei Vorliegen einer Reisewarnung höchsten Grades nicht darauf berufen könnte „aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert“ zu sein, wenn die Durchführung der Reise wegen Verfügbarkeit der gebuchten Transportmittel und Unterkünfte grundsätzlich möglich wäre und der Kunde in Kenntnis der Reisewarnung erklärt hat, das damit indizierte Risiko in Kauf nehmen zu wollen, oder ob dem Reiseveranstalter auch in diesem Fall ein Rücktrittsrecht ohne weitere Entschädigungspflichten zukommt.

[18] 6. Der Oberste Gerichtshof, dessen Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, ist gemäß Art 267 AEUV zur Vorlage der im Spruch formulierten Fragen verpflichtet, weil die richtige Anwendung des Unionsrechts in diesem Umfang zweifelhaft ist und eine einheitliche Auslegung für diese typischerweise häufig grenzüberschreitend auftretenden Fragestellungen geboten scheint (vgl zum Rücktritt des Reisenden auch C‑776/21 ).

[19] Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über die Revision des Klägers zu unterbrechen.

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