European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1985:0080OB00042.85.0619.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit S 3.607,10 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin Barauslagen von S 480,‑‑ und Umsatzsteuer von S 284,30) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 22. Juni 1984 ereignete sich gegen 11,45 Uhr in * auf der Innstraße im Bereich der Zufahrt zur SHELL-Tankstelle ein Verkehrsunfall, an dem Hubert W* als Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin mit dem Kennzeichen * und der Erstbeklagte als Lenker des Personenkraftwagens mit dem Kennzeichen * beteiligt waren. Die Zweitbeklagte ist die Halterin, die Drittbeklagte der Haftpflichtversicherer des letztgenannten Kraftfahrzeuges. Die beiden Fahrzeuge stießen zusammen, als der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin von der Innstraße nach rechts in Richtung Fernmeldeamt und Postgarage abbog, während der Erstbeklagte von der SHELL‑Tankstelle kommend in die Innstraße einzufahren versuchte. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt; Personenschaden trat nicht ein. Ein gerichtliches Strafverfahren fand gegen keinen der beiden beteiligten Lenker statt.
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte die Klägerin aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 16.836,-- s.A.. Der Höhe nach ist der Klagsbetrag nicht strittig. Dem Grunde nach stützte die Klägerin ihr Begehren auf die Behauptung, daß den Erstbeklagten das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe, weil er den dem Lenker ihres Fahrzeuges zukommenden Vorrang mißachtet habe.
Die Beklagten wendeten dem Grunde nach ein, das Alleinverschulden an diesem Verkehrsunfall treffe die Klägerin. Die Kollision der beiden Fahrzeuge habe auf dem Gelände der Tankstelle stattgefunden. Der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin hätte im Zuge seines Einbiegemanövers in einem weiten Winkel ohne Berührung des Tankstellengeländes zufahren müssen und nicht, wie er es tatsächlich getan habe, das Tankstellengelände überfahren dürfen. Zumindest hätte er sich davon überzeugen müssen, ob dort, von rechts kommend, ein Fahrzeug unterwegs sei. Schließlich wendeten die Beklagten eine Schadenersatzforderung der Zweitbeklagten aus diesem Verkehrsunfall in der Höhe von S 8.488,-- (Reparaturkosten, Wertminderung) aufrechnungsweise gegen die Klagsforderung ein. Der Höhe nach ist auch diese Gegenforderung nicht mehr strittig.
Das Erstgericht entschied, daß die Klagsforderung mit S 16.836,-- zu Recht, die eingewendete Gegenforderung hingegen nicht zu Recht besteht. Es gab daher dem Klagebegehren statt.
Das Erstgericht stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:
Hubert W* lenkte den Personenkraftwagen der Klägerin auf der Innstraße in Richtung Arlberg und bog nach der SHELL‑Tankstelle nach rechts in Richtung Fernmeldeamt und Postgarage ab. Er wollte nicht zur SHELL‑Tankstelle zufahren. Zur gleichen Zeit fuhr der Erstbeklagte von der rechts der Innstraße gelegenen SHELL‑Tankstelle los und wollte in Richtung Arlberg weiterfahren. Dabei kollidierten die beiden Fahrzeuge.
Der Unfall ereignete sich im Ortsgebiet von Landeck. Der Unfallsbereich ist eben; die Sichtweite beträgt mehr als 50 m. Eine besondere Geschwindigkeitsbeschränkung besteht nicht. Die Innstraße weist eine Fahrbahnbreite von 7,6 m auf; die rechte Fahrbahnhälfte hat eine Breite von 3,6 m. Rechts schließt an die Fahrbahn der Innstraße ein 1,8 m breiter Gehsteig an; daran anschließend befindet sich die SHELL-Tankstelle.
Der Erstbeklagte legte von der Dieselzapfsäule der SHELL-Tankstelle bis zur späteren Zusammenstoßstelle eine Strecke von ca. 25 m zurück. Er benötigte hiefür eine Zeit von ca. 6 bis 7 Sekunden. 2,5 Sekunden vor der Kollision befand sich der Personenkraftwagen der Klägerin noch ca. 7 m, der Personenkraftwagen des Erstbeklagten noch ca. 9,5 m vor der Unfallstelle. Der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin bog mit einer Geschwindigkeit von ca. 10 km/h nach rechts ab. Im Moment des Zusammenstoßes hielt er eine Geschwindigkeit von ca. 10 km/h ein. Der Erstbeklagte hielt eine Geschwindigkeit von ca. 20 km/h ein. Der Anhalteweg aus 10 km/h beträgt 3,3 m, der Anhalteweg aus 20 km/h 7,6 m (jeweils bei einer Bremsverzögerung von 7,5 m/sec2 und 1 Sekunde Reaktionszeit). Der Bremsweg aus 20 km/h beträgt bei einer mittelstarken Bremsung von 3 m/sec2 ca. 5,2 m.
Im Moment des Zusammenstoßes betrug der Winkel der beiden Fahrzeuge zueinander ca. 30 Grad. Das linke vordere Eck des Fahrzeuges der Klägerin befand sich 0,5 m außerhalb der Fahrbahn, das rechte vordere Eck ca. 2,6 bis 2,8 m außerhalb der Fahrbahn bzw. ca. 0,8 bis 1 m außerhalb des Gitters im Trichterbereich der Firmenzufahrt bzw. im Bereich der Tankstellenausfahrt. Beide Fahrzeuge waren im Moment des Zusammenstoßes in Fahrt. Der Erstbeklagte bemerkte den Personenkraftwagen der Klägerin vor dem Zusammenstoß nicht. Der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin bemerkte den Personenkraftwagen des Erstbeklagten kurz vor dem eigentlichen Rechtsabbiegen. Er betätigte mindestens 25 m vor dem eigentlichen Abbiegen nach rechts den rechten Blinker. Der Erstbeklagte konnte zumindest ca. 2,5 Sekunden vor dem Zusammenstoß erkennen, daß der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin nach rechts abbog. Ebenso konnte der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin ca. 2,5 Sekunden vor der Kollision erkennen, daß sich der Erstbeklagte auf ihn zu bewegte. Nicht festgestellt werden kann, zu welchem Zeitpunkt Hubert W* sicher erkennen konnte, daß der Erstbeklagte nicht stehen bleibt. Hubert W* wäre es durch ein leichtes Wenden des Kopfes nach rechts möglich gewesen, die Position des Personenkraftwagens des Erstbeklagten 2,5 Sekunden vor der Kollision wahrzunehmen. Beide Fahrzeuglenker konnten 2,5 Sekunden vor dem Zusammenstoß erkennen, daß das jeweilige Gegenfahrzeug in die Fahrlinie des anderen hineinfährt.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß der Erstbeklagte gegen § 19 Abs 6 StVO verstoßen und den Vorrang des Personenkraftwagens der Klägerin verletzt habe. Ein Kraftfahrzeug, das von der Hauptfahrbahn abbiegend die Nebenfahrbahn überquere, befinde sich im fließenden Verkehr. Es habe den Vorrang gegenüber dem Verkehr auf Nebenfahrbahnen.
Der gegen diese Entscheidung gerichteten Berufung der Beklagten gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Urteil Folge. Es änderte die Entscheidung des Erstgerichtes im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens (wegen Nichtbestandes der Klagsforderung) ab. Das Berufungsgericht sprach aus, daß die Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO nicht zulässig sei.
Das Berufungsgericht führte, ausgehend von den unbekämpft gebliebenen Feststellungen des Erstgerichtes, rechtlich im wesentlichen aus, aus den getroffenen Feststellungen ergebe sich, daß sich zum Zeitpunkt der Kollision beide Fahrzeuge außerhalb der Fahrbahn der Innstraße befunden hätten. Insbesondere habe auch der Personenkraftwagen der Klägerin bereits die Fahrbahn der Innstraße verlassen gehabt und sich bereits im Bereich der Zufahrt zur Tankstelle und zur Postgarage Landeck befunden. Diese Verkehrsfläche stelle sich zwar eindeutig als Nebenverkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO dar, nicht jedoch als Nebenfahrbahn (§ 2 Abs 1 Z 4 StVO). Im vorliegenden Fall hätten sich beide Fahrzeuge im Bereich einer Tankstellen- bzw. Garagenzufahrt befunden, die als Nebenverkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO zu qualifizieren sei. Zwischen den unfallsbeteiligten Fahrzeugen habe daher die Rechtsregel des § 19 Abs 1 StVO gegolten. Daher habe der Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin den Vorrang des Erstbeklagten mißachtet, sodaß ihn das Alleinverschulden am Unfall treffe.
Seinen Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO begründete das Berufungsgericht damit, daß mit Rücksicht auf die Judikatur die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne dieser Gesetzesstelle abhänge.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin. Sie bekämpft sie aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung im Sinne des § 503 Abs 2 ZPO mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichtes abzuändern. Die beklagten Parteien haben eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag erstattet, die außerordentliche Revision der Klägerin zurückzuweisen, allenfalls ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig. Zu der im vorliegenden Fall zu lösenden Frage, ob ein Gehsteig, der im Zuge des Zufahrens zu einer Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO bzw. des Verlassens einer solchen Verkehrsfläche zulässigerweise befahren wird, selbst als Verkehrsfläche im Sinne dieser Gesetzesstelle oder als dem fließenden Verkehr gewidmeter Teil der Straße zu qualifizieren ist, fehlt, soweit überschaubar, eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes. Es handelt sich dabei um eine Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO.
Sachlich ist die Revision aber nicht berechtigt.
Es entspricht ständiger Rechtsprechung, daß sich der Vorrang zwischen Fahrzeugen, die sich alle auf Verkehrsflächen im Sinne des § 19 Abs 6 StVO befinden, nach der im § 19 Abs 1 StVO normierten Rechtsregel richtet, wenn nicht durch Verkehrszeichen etwas anderes angeordnet ist (Dittrich-Veit-Schuchlenz StVO3 § 19 Anm. 66a; MGA StVO6 § 19 Anm. 9; ZVR 1978/297; ZVR 1979/214; ZVR 1981/272; ZVR 1984/33 uva.) und daß der Vorrang im Sinne des § 19 Abs 6 StVO dem Vorrangberechtigten bis zum vollständigen Verlassen der bevorrangten Verkehrsfläche zusteht (8 Ob 284/82; ZVR 1984/74).
Im vorliegenden Fall bog nach den Feststellungen der Vorinstanzen der Personenkraftwagen der Klägerin von der Fahrbahn der Innstraße nach rechts in eine Verkehrsfläche im Sinne § 19 Abs 6 StVO ab, während der Erstbeklagte mit dem von ihm gelenkten Fahrzeug aus einer solchen Verkehrsfläche kommend in die Innstraße einzufahren versuchte. Im Augenblick des Zusammenstoßes hatte der Personenkraftwagen der Klägerin die Fahrbahn der Innstraße bereits zur Gänze verlassen und befand sich zum größten Teil auf dem Gehsteig der Innstraße, den er überfahren mußte, um auf die anschließende Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO zu gelangen, zum geringeren Teil bereits auf dieser anschließenden Verkehrsfläche.
Geht man nun von den oben dargelegten rechtlichen Grundsätzen aus, dann ist im vorliegenden Fall für die Lösung der Vorrangfrage entscheidend, ob sich der Personenkraftwagen der Klägerin im Zeitpunkt des Zusammenstoßes bereits zur Gänze auf einer Verkehrsfläche nach § 19 Abs 6 StVO befand (dann kam im Sinne der anzuwendenden Rechtsregel dem vom Erstbeklagten gelenkten Personenkraftwagen der Vorrang zu) oder ob er sich noch zumindest teilweise auf einer dem fließenden Verkehr dienenden Verkehrsfläche befand (dann kam im Sinne des § 19 Abs 6 StVO dem Fahrzeug der Klägerin der Vorrang zu).
Grundgedanke der Vorschrift des § 19 Abs 6 StVO ist, daß dem fließenden Verkehr der Vorrang gegenüber dem Verkehr auf allen jenen Verkehrsflächen zukommt, denen eine wesentlich geringere Bedeutung zuzumessen ist als einer normalen Straße (ZVR 1976/35; ZVR 1977/6; ZVR 1981/237 uva.). Der aus dem Gesetzeswortlaut klar erkennbare Zweck dieser Bestimmung liegt darin, die Behinderung von Fahrzeugen, die sich auf Verkehrsflächen mit größerer Verkehrsbedeutung im fließenden Verkehr befinden, durch andere Fahrzeuge, die aus Verkehrsflächen mit geringerer Verkehrsbedeutung kommen und sich in den fließenden Verkehr erst einordnen müssen, hintanzuhalten (8 Ob 47/81; 2 Ob 111/83).
Bei einem Gehsteig handelt es sich nach der Legaldefinition des § 2 Abs 1 Z 10 StVO um einen für den Fußgängerverkehr bestimmten, von der Fahrbahn durch Randsteine, Bodenmarkierungen oder dgl. abgegrenzten Teil der Straße. Seine Benützung mit Fahrzeugen aller Art ist nach § 8 Abs 4 StVO grundsätzlich verboten. Nach dieser Gesetzesstelle gilt dieses Verbot allerdings für das überqueren von Gehsteigen mit Fahrzeugen zum Einfahren in Häuser oder Grundstücke oder zum Ausfahren aus Häusern und Grundstücken auf den hiefür vorgesehenen Stellen nicht. Diese Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot des Befahrens von Gehsteigen ist auf das überqueren von Gehsteigen zum Zufahren auf im Sinne des § 19 Abs 6 StVO benachrangte Verkehrsflächen bzw. zum Abfahren von solchen Verkehrsflächen an den hiefür vorgesehenen Stellen schlechthin zu beziehen. Es handelt sich also bei Gehsteigen auch an solchen Stellen, an denen sie im Sinne des § 8 Abs 4 StVO von Kraftfahrzeugen überquert werden dürfen, wohl um Teile der Straße; allein im fließenden Verkehr im Sinne des § 19 Abs 6 StVO befindet sich ein Fahrzeug, das den Gehsteig an einer hiefür vorgesehenen Stelle überquert, nicht. Dies ergibt sich zwingend daraus, daß der Gehsteig eben nur zum Zweck des Zufahrens zu benachrangten Verkehrsflächen oder des Ausfahrens von solchen Verkehrsflächen von Fahrzeugen überquert werden darf. Der Gehsteig ist daher auch dort, wo er im Sinne des § 8 Abs 4 StVO von Kraftfahrzeugen überquert werden darf, als Verkehrsfläche im Sinne des § 19 Abs 6 StVO zu qualifizieren.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus, daß im Zeitpunkt des Zusammenstoßes der Personenkraftwagen der Klägerin bereits die dem fließenden Verkehr dienende Fahrbahn der Innstraße zur Gänze verlassen hatte und daß sich in diesem Zeitpunkt beide Fahrzeuge zur Gänze auf Verkehrsflächen im Sinne des § 19 Abs 6 StVO befanden. Unter diesen Umständen hat das Berufungsgericht im Sinne der einleitenden Rechtsausführungen zutreffend erkannt, daß dem vom Erstbeklagten gelenkten Personenkraftwagen gegenüber dem Fahrzeug der Klägerin der Rechtsvorrang zukam. Es ist daher lediglich dem Lenker des Personenkraftwagens der Klägerin eine Vorrangverletzung anzulasten, nicht aber dem Erstbeklagten.
Auf die Frage einer allfälligen Reaktionsverspätung des Erstbeklagten ist nicht einzugehen, weil sich aus dem Vorbringen der Klägerin im Verfahren erster Instanz keine Tatumstände ergeben, aus denen ein derartiger Verschuldensvorwurf abzuleiten wäre.
Unter diesen Umständen gelangte das Berufungsgericht mit Recht zur Abweisung des Klagebegehrens. Der Revision der Klägerin mußte daher ein Erfolg versagt bleiben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
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