OGH 8Ob34/85

OGH8Ob34/8519.6.1985

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Dr. Klaus Messiner, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagten Parteien 1. K*****, 2. W*****‑AG, *****, beide vertreten durch Dr. Ernst Üblacker‑Risenfels, Rechtsanwalt in Amstetten, wegen S 318.536,70 s.A., Rente und Feststellung (S 30.000,‑), Revisionsinteresse: S 331.107,62 s.A., infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 10. Jänner 1985, GZ 17 R 265/84‑40, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes St. Pölten vom 12. Juni 1984, GZ 1 Cg 545/82‑33, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1985:0080OB00034.850.0619.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin ist schuldig, den Beklagten die mit S 13.427,23 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Barauslagen von S 960.‑, die Umsatzsteuer von S 1.133,38) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Am 20. 7. 1982 ereignete sich gegen 17,05 Uhr im Ortsgebiet von S***** im Kreuzungsbereich der Bundesstraße ***** mit der Landesstraße ***** ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin mit ihrem Motorfahrrad, polizeiliches Kennzeichen N *****, sowie der Erstbeklagte mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten PKW, polizeiliches Kennzeichen N *****, beteiligt waren.

Die Klägerin machte Schadenersatzansprüche geltend und begehrte die Feststellung der Haftung der Beklagten für die Unfallsfolgen. Sie habe sich ordnungsgemäß zum Linksabbiegen eingeordnet und rechtzeitig ein Handzeichen gegeben; dennoch habe sie der Erstbeklagte überholt.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Das Alleinverschulden am Unfall treffe die Klägerin, die vom rechten Fahrbahnrand ohne Handzeichen unvermutet nach links abgebogen sei.

Das Erstgericht sprach der Klägerin S 6.429,01 s.A. sowie eine monatliche Rente von S 750,‑ ab 1. 7. 1983 zu, gab dem Feststellungsbegehren unter Bedachtnahme auf ein gleichteiliges Verschulden statt und wies das Mehrbegehren von S 312.107,68 s.A., einer monatlichen Rente von S 1.250,‑ und einer darüber hinausgehenden Feststellung ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es der Klägerin S 56.429,01 s.A. zusprach und demgemäß ein Leistungsmehrbegehren von S 262.107,69 s.A. abwies. Die Renten‑ und Feststellungsaussprüche wurden bestätigt. Nur die Verschuldensteilung, die Höhe des Schmerzengeldes und der Unfallsrente waren Gegenstand des Berufungsverfahrens.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß dem Feststellungsbegehren zur Gänze stattgegeben, eine Rente von insgesamt monatlich S 2.000,‑ zuerkannt und ein weiteres Schmerzengeld von S 100.000,‑ zugesprochen werde.

Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Vorinstanzen gingen bei ihren Entscheidungen – die noch strittigen Fragen der Verschuldensteilung, des Schmerzengeldes und der Unfallsrente betreffend – von nachtehendem Sachverhalt aus:

Die Fahrbahn der Bundesstraße ***** hat im Unfallsbereich eine Breite von 8,3 m und verläuft horizontal in Richtung Ost‑West. Die Unfallsstelle ist nach Westen in Fahrtrichtung der Unfallsbeteiligten mindestens 250 m weit ungehindert einsehbar. Die Sicht reicht mehrere hundert Meter darüber hinaus. Im Bereich der Unfallsstelle ist wegen des Ortsgebietes eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h erlaubt.

Die Klägerin fuhr mit ihrem Motorfahrrad Puch in Richtung S***** und wollte in der Folge nach links in die Landeshauptstraße ***** einbiegen. Als sie sich der Unfallsstelle näherte, hielt sie eine Fahrgeschwindigkeit von etwa 30 km/h und einen Seitenabstand von etwa 0,8 bis 1,0 m zum rechten Fahrbahnrand ein. Zur gleichen Zeit näherte sich der Erstbeklagte ebenfalls auf dem rechten Fahrstreifen in die gleiche Richtung fahrend mit seinem PKW Renault. Er hatte eine Geschwindigkeit von ca. 90 km/h. Neben ihm saß sein Neffe.

Etwa 16,5 m vor der späteren Anstoßstelle zog die Klägerin unter gleichzeitigem Setzen eines Handzeichens mit der linken Hand ihr Motorfahrrad nach links. Der Erstbeklagte, der sich zu diesem Zeitpunkt „etwa Meter“ hinter dem Fahrzeug der Klägerin befand und dieses links überholen wollte, führte eine Vollbremsung durch, erfaßte sie aber mit der rechten Vorderecke seines Fahrzeuges. Die Kollisionsstelle liegt 3,5 m westlich des östlichen Beginnes des Einmündungstrichters der Landeshauptstraße, ca. 3,4 m vom rechten Fahrbahnrand, das sind 0,75 m von der Leitlinie entfernt, auf der Fahrbahnhälfte der Streitteile.

Die Klägerin erlitt beim Unfall einen offenen Bruch des linken Unterschenkels, einen Bruch des rechten Oberschenkelknochens und einen Bruch des rechten Schlüsselbeines. Auf Grund der Schwere der Verletzung wurde noch am 20. 7. 1982 die linkte untere Gliedmaße im Bereich des körperfernen Oberschenkels amputiert. Der Heilungsverlauf gestaltete sich durch verschiedene Störungen wie auf Medikamente zurückzuführendes Jucken an der Haut und wegen Auftretens von Blut im Stuhl als Folge einer Harnwegsinfektion etwas kompliziert. Die Klägerin befand sich vom Unfallstag an bis 6. 11. 1982 in stationärer Behandlung des Krankenhauses A***** und vom 28. 12. 1982 bis 10. 3. 1983 im Rehabilitationszentrum H*****. Während dieses Aufenthaltes mußte an der Hinterseite des Oberschenkelstumpfes ein Weichteiltumor operativ entfernt werden.

Die Klägerin erlitt unter Berücksichtigung des gesamten medizinischen Heilungsverlaufes bis zur Erreichung eines Endausheilungszustandes bzw. eines optimalen erreichbaren Anpassungs‑ und Gewöhnungszustandes andauernde starke Schmerzen von 28 Tagen, mittelstarke Schmerzen von rund 56 Tagen und andauernde leichte Schmerzen und diesen gleichzuhaltende Beschwerden in der Dauer von rund 150 Tagen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Spätfolgen und Komplikationen noch auftreten werden. Durch die verbleibenden Verletzungsfolgen ist die Klägerin in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit und Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt und behindert. Sie wird bei der Besorgung ihrer Lebensbedürfnisse ständig zu einem bestimmten Maß auf fremde Hilfe angewiesen sein und die Besorgung der größeren Hausarbeiten nicht alleine bewältigen können. An funktionellen Störungen der Gliedmaßen sind der Klägerin eine geringe Bewegungseinschränkung des rechten Armes im Schultergelenk, eine leichte Fehlstellung des rechten Oberschenkels mit leichter Bewegungseinschränkung sowie eine Lockerung der Bänder im rechten Kniegelenksbereich verblieben.

In der Zeit vor dem Unfall hielt sich die Klägerin 3–4 Monate im Jahr regelmäßig bei ihrer Tochter in Klagenfurt auf. Sie versorgte dort den Haushalt der Tochter und beaufsichtigte deren Kinder. Als Entgelt für diese Leistung erhielt sie zwar kein Bargeld, hatte aber freie Kost und Quartier. Außerdem wurde von der Tochter für die Klägerin monatlich ein Betrag von S 500,‑ für die Bekleidung der Klägerin aufgewendet. Die übrige Zeit im Jahr verbrachte sie bei ihrem Bruder. Seit ihrer Pensionierung besorgte sie dort den Haushalt und pflegte ihre Mutter. Für diese Tätigkeit erhielt sie als Entgelt freie Kost – freies Quartier war ihr ohnedies vertraglich zugesichert – und außerdem ein monatliches Taschengeld von S 1.000,‑.

Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, daß eine Verschuldensteilung von 1 : 1 der Sachlage entspreche, von einem Schmerzengeld von S 200.000,‑ auszugehen sei und der entgangene Verdienst monatlich S 1.500,‑ betragen habe. Wegen der Dauerfolgen sei auch das Feststellungsbegehren im genannten Verhältnis berechtigt.

Das Berufungsgericht ging ebenfalls von einer Verschuldensteilung von 1 : 1 aus. Es warf der Klägerin vor, weder vor der Einleitung des Abbiegevorganges den Nachfolgeverkehr beobachtet noch das Handzeichen rechtzeitig gegeben zu haben. Auch habe sie sich nicht rechtzeitig zur Fahrbahnmitte eingeordnet. Demgegenüber stehe der Verstoß des Erstbeklagten gegen die im Ortsgebiet zulässige Geschwindigkeit, wobei die Geschwindigkeitsüberschreitung erheblich und unfallskausal gewesen sei. Als Schmerzengeld sei im Gegensatz zur Ansicht des Erstgerichtes ein höherer Betrag, nämlich S 300.000,- angemessen. Die Verdienstentgangsrente sei jedoch auf Grund der Feststellungen des Erstgerichtes in dem von diesem festgesetzten Ausmaß berechtigt.

Demgegenüber stellt sich die Klägerin in der Revision auf den Standpunkt, daß den Erstbeklagten das Alleinverschulden an dem Unfall treffe bzw. „daß zumindest die Verschuldensteilung je zur Hälfte rechtlich unrichtig“ sei. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden:

Wie das Berufungsgericht richtig ausführte, liegt dem Erstbeklagten ein Verstoß gegen die im Ortsgebiet erlaubte Höchstgeschwindigkeit gemäß § 20 Abs 2 StVO zur Last. Der Schuldvorwurf ist gravierend, weil die Geschwindigkeitsüberschreitung beträchtlich war; er hatte eine Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 90 km/h. Selbst wenn man aber eine von der Klägerin in der Revision ins Treffen geführte Reaktionsverspätung von 0,57 sec. in Rechnung stellte, wäre damit für sie nichts gewonnen. Die Klägerin hatte sich vor dem Abbiegen nach links weder zur Fahrbahnmitte eingeordnet noch die beabsichtigte Fahrtrichtungsänderung rechtzeitig angezeigt. Ihre Verstöße gegen §§ 11 und 12 StVO sind besonders gravierender Art; sie stellen einen schweren Schuldvorwurf an die sich mit dieser Fahrweise selbst in hohem Maße gefährdende Klägerin dar. Zutreffend verwies das Berufungsgericht daher darauf, daß sie sich durch die Verschuldensteilung von 1 : 1 nicht beschwert erachten kann, zumal in vergleichbaren Fällen (siehe etwa 8 Ob 63/77 oder ZVR 1980/254) auch ungünstigere Verschuldensteilung zu Lasten des Linksabbiegenden vorgenommen wurden.

Die Klägerin vermag weiters gegen den von den Vorinstanzen auf Grund der getroffenen Feststellungen unter Anwendung des § 273 ZPO ausgemessenen monatlichen Verdienstentgang nichts Entscheidendes vorzubringen. Mit bloß allgemeinen Hinweisen auf das heutige Preisgefüge lassen sich die getroffenen konkreten Feststellungen nicht ersetzen. Darnach hatte sie keine feste Anstellung, sondern war in einer Art familiärer Mithilfe teils im Haushalt der Tochter und teils in jenem des Bruders tätig. Wenn die Vorinstanzen daraus schlossen, daß sie demnach einen unfallsbedingten monatlichen Entgang von S 1.500,‑ hatte, kann dem nicht entgegengetreten werden.

Aber auch gegen die Ausmessung des Schmerzengeldes durch das Berufungsgericht mit S 300.000,- bestehen keine Bedenken. Das Schmerzengeld kann nur nach § 273 ZPO unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere der körperlichen und seelischen Schmerzen des Verletzten sowie der Art und der Schwere seiner Verletzungsfolgen nach freier Überzeugung des Gerichtes festgesetzt werden (8 Ob 4/82; 8 Ob 198/82; 8 Ob 269/82; 8 Ob 284/82 u.v.a.). Die vom Berufungsgericht herangezogene Entscheidung 8 Ob 284/82 kann zwar auf den vorliegenden Fall nicht angewendet werden, weil darin nur ausgeführt wurde, daß in der von den Vorinstanzen vorgenommenen Schmerzengeldbemessung von S 270.000,- ein Rechtsirrtum zum Nachteil der Beklagten nicht erkannt werden könne; es ist aber auf die Entscheidung 2 Ob 178/82 zu verweisen, in welcher dem Verletzten, der im Alter von 17 Jahren ein Bein verlor, ein Schmerzengeld von S 250.000,- zuerkannt wurde; die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreites war zum Unfallszeitpunkt hingegen bereits 65 Jahre alt. Unter Heranziehung der zitierten Judikatur 2 Ob 178/82 ist daher die Schmerzengeldbemessung des Berufungsgerichtes zu billigen.

Der Revision war somit der Erfolg zu versagen.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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