OGH 8Ob29/24h

OGH8Ob29/24h22.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Tarmann‑Prentner als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Matzka, Dr. Stefula, Dr. Thunhart und Mag. Dr. Sengstschmid als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj A*, geboren *2019, wegen Obsorge, über den (richtig:) außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter N* und der mütterlichen Großmutter Prof. P*, beide vertreten durch Mag. Alfred Witzlsteiner, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 23. November 2023, GZ 54 R 234/23t‑127,in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0080OB00029.24H.0322.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

I. Aus Anlass des Revisionsrekurses wird der Beschluss des Rekursgerichts insoweit aufgehoben, als damit über die Rekurse gegen den Beschluss vom 10. Juli 2023, mit dem die wegen Gefahr im Verzug gesetzte Maßnahme des Kinder- und Jugendhilfeträgers vom 7. Juni 2023 für zulässig erklärt wurde, inhaltlich entschieden wurde. Die Rekurse werden in diesem Umfang zurückgewiesen.

II. Im Übrigen wird der außerordentliche Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit dem angefochtenen Beschluss bestätigte das Rekursgericht die Beschlüsse des Bezirksgerichts Innsbruck, mit denen dieses die wegen Gefahr im Verzug gesetzte Maßnahme der Kinder‑ und Jugendhilfe vom 7. 6. 2023 für zulässig erklärte, sowie die Obsorge für die minderjährige A* im Teilbereich Pflege und Erziehung der Mutter entzog und auf den Träger der Kinder‑ und Jugendhilfe Land Tirol übertrug.

Rechtliche Beurteilung

Zu I.:

[2] 1. Die unrichtige Benennung des Rechtsmittels hindert nicht dessen Behandlung in einer dem Gesetz entsprechenden Weise (RS0036258). Das Rechtsmittel ist daher ungeachtet seiner Bezeichnung als „Zulassungsvorstellung und ordentlicher Revisionsrekurs“ als außerordentlicher Revisionsrekurs zu behandeln, da der Entscheidungsgegenstand nicht rein vermögensrechtlicher Natur ist (RS0036258 [T30]).

[3] 2. Nach § 107a Abs 1 letzter Satz AußStrG ist ein Rechtsmittel gegen die vorläufige Zulässigerklärung der wegen Gefahr in Verzug gesetzten Maßnahme des Kinder- und Jugendhilfeträgers nicht zulässig. Dass das Erstgericht diesen (in der Tagsatzung am 10. 7. 2023 mündlich verkündeten) Beschluss gemeinsam mit jenem vom 6. 9. 2023 über die Entziehung und Übertragung der Obsorge ausgefertigt hat, kann daran nichts ändern.

[4] 3. Entscheidet ein Gericht zweiter Instanz über einen unzulässigen Rekurs meritorisch, so ist der Mangel der funktionellen Zuständigkeit für eine solche Erledigung vom Obersten Gerichtshof aus Anlass des gegen eine unzulässige Sachentscheidung erhobenen Revisionsrekurses wahrzunehmen; als Folge dessen ist der unzulässige Rekurs gegen den Beschluss erster Instanz zurückzuweisen (RS0115201 [T4]; RS0042059 [T9]; RS0121264).

Zu II.:

[5] 1. Soweit mit dem angefochtenen Beschluss die Entziehung und Übertragung der Obsorge durch den erstgerichtlichen Beschluss vom 6. 9. 2023 bestätigt wurde, zeigt der Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf.

[6] 2. Die behaupteten Mangelhaftigkeiten des Rekursverfahrens wurden geprüft, sie liegen nicht vor. Insbesondere hat sich das Rekursgericht ausführlich mit der Beweisrüge befasst, die Beweiswürdigung des Erstgerichts überprüft sowie nachvollziehbare Überlegungen darüber angestellt und in seiner Entscheidung festgehalten (RS0043150; RS0043144 [T6]). Es ist auch nicht ohne Beweiswiederholung vom erstgerichtlich festgestellten Sachverhalt abgewichen. Vielmehr handelt es sich bei den im Revisionsrekurs kritisierten Ausführungen des Rekursgerichts um rechtliche Schlussfolgerungen aus dem festgestellten Sachverhalt.

[7] 3.1. Der nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Entscheidung über die Übertragung der Obsorge im Einzelfall kommt keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, wenn dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen und keine leitenden Rechtsprechungsgrundsätze verletzt wurden (RS0115719; RS0007101). Das gilt insbesondere für die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Entziehung und Übertragung der Obsorge gemäß § 181 ABGB erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt (vgl RS0115719 [T16]; RS0007101 [T21, T24]).

[8] 3.2. Nach § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit, die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633 [T22]).

[9] 3.3. Zutreffend macht der Revisionsrekurs geltend, dass die Entziehung der Obsorge – unter Anlegung eines strengen Maßstabs – nur das letzte Mittel sein und nur angeordnet werden darf, wenn sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Ganz allgemein gelten für die Maßnahme des Gerichts nach § 181 ABGB die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit im Sinne des gelindesten Mittels (§ 182 ABGB; 5 Ob 154/23t mwN).Ob solche gelindere Mittel ausreichen, ist allerdings wiederum eine Frage des Einzelfalls und wirft daher im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf (RS0048712 [T13]; RS0132193 [T2]).

[10] 3.4. Diese Grundsätze haben die Vorinstanzen auf den festgestellten Sachverhalt angewendet. Ihnen ist dabei auch keine Fehlbeurteilung unterlaufen, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden müsste.

[11] 4.1. Das Regelbeweismaß nicht nur der ZPO, sondern auch des AußStrG (5 Ob 84/08a; 2 Ob 78/17k mwN) ist die hohe und nicht eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit; eine solche ist nur in den Fällen eines erhöhten Regelbeweismaßes erforderlich (RS0110701). Eine Beweismaßerhöhung für Entscheidungen nach § 181 ABGB, mit denen die Obsorge entzogen wird, ist gesetzlich nicht vorgesehen.

[12] 4.2. Der Revisionsrekurs argumentiert, dass es sich um einen Eingriff in das Recht auf Familienleben nach Art 8 EMRK handle, weshalb eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich sei. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu bedenken, dass die Maßnahme nach § 181 ABGB ihre Rechtfertigung in der Sicherung ebenfalls grundrechtlich geschützter Rechtspositionen (Recht auf Leben nach Art 2 EMRK; Schutz des Eigentums nach Art 1 1. ZPEMRK; Recht auf Bildung nach Art 2 1. ZPEMRK; zum Recht auf Gesundheit siehe etwa EGMR, 7. 9. 2023, 21424/16 Gauvin‑Fournis und Silliau/Frankreich [Rz 125], EF‑Z 2024/24 mwN) der jeweils betroffenen Minderjährigen findet. Demnach ist aus der grundrechtlichen Absicherung der für und wider eine Maßnahme nach § 181 ABGB sprechenden Aspekte für die Frage des Beweismaßes im gegenständlichen Kontext nichts zu gewinnen. Durch den Verweis auf Art 8 EMRK bringt der Revisionsrekurs daher keinen nachvollziehbaren Grund zur Darstellung, warum bei Entscheidungen über die Entziehung der Obsorge von der dargestellten ständigen Judikatur zum Regelbeweismaß abgegangen werden sollte. Eine erhebliche Rechtsfrage zeigt er damit nicht auf.

[13] 5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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