OGH 8Ob19/21h

OGH8Ob19/21h25.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely‑Kristöfel als weitere Richter in der Pflegschaftssache 1. des mj W*****, geboren am ***** 2006, 2. der mj Z*****, geboren am ***** 2008, und 3. der mj N*****, geboren am ***** 2009, *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter F*****, vertreten durch Dr. Markus Sorger, Rechtsanwalt in Gleisdorf als Verfahrenshelfer, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 29. Jänner 2021, GZ 2 R 20/21g‑50, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00019.21H.0325.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die drei Minderjährigen sind mit ihrer Mutter im Jahr 2015 aus Afghanistan nach Österreich geflohen. Der Vater ist verstorben. Im Familienverband lebt auch der elfjährige Halbbruder der Kinder, der einer anderen Beziehung des verstorbenen Vaters entstammt.

[2] Das Erstgericht entzog der Mutter die Obsorge für ihre drei leiblichen Kinder und übertrug sie dem Kinder- und Jugendhilfeträger. Die Mutter sei wegen ihrer massiv eingeschränkten Erziehungskompetenz, ihrer eigenen psychischen Belastung sowie einer nach wie vor nicht überwundenen sprachlichen Barriere nicht in der Lage, die Kinder ohne Kindeswohlgefährdung zu pflegen und zu erziehen.

[3] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Die nach den Feststellungen von den Kindern gezeigten Verhaltensauffälligkeiten ließen auf eine erhöhte psychische Belastung schließen. Die Mutter könne selbständig keine geregelte Lebensorganisation gewährleisten. Für die Minderjährigen sei daher die Fremdunterbringung die beste Möglichkeit für eine gute und stabile Entwicklung. Da die massiven Erziehungsdefizite der Mutter trotz jahrelanger Unterstützungen nicht kompensiert werden konnten, sei eine positive Zukunftsprognose nicht möglich.

Rechtliche Beurteilung

[4] Mit dem dagegen gerichteten außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine erhebliche Rechtsfrage auf:

[5] 1.1 Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, hängt grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls ab und wirft im Regelfall keine Rechtsfrage im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG auf (RIS‑Justiz RS0115719; RS0048699 [T18]).

[6] 1.2 Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ausschließlich dessen Wohl maßgebend (RS0048632). Wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darf die Beschränkung der Obsorge nur das letzte Mittel sein und nur soweit angeordnet werden, als das zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Von einer solchen Vorkehrung darf das Gericht nur aus schwerwiegenden Gründen Gebrauch machen (RS0048712 [T1, T9, T10]). Das Kindeswohl ist gefährdet, wenn die Obsorgepflicht nicht erfüllt oder gröblich vernachlässigt wird oder sonst schutzwürdige Interessen des Kindes ernstlich und konkret gefährdet werden, wobei die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung genügt (RS0048633 [T19]). Bei der Beurteilung darf nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden, sondern sind auch Zukunftsprognosen anzustellen (RS0048632; RS0106312).

[7] 2. Von diesen Grundsätzen sind die Vorinstanzen nicht abgewichen.

[8] Bereits das Rekursgericht hat darauf hingewiesen, dass ausgehend von den Feststellungen keine Rede davon sein kann, dass bei den Kindern bloß typische Probleme von Flüchtlingsfamilien aus stark religiös geprägten und nicht deutschsprachigen Ländern vorliegen würden. Vielmehr hat der fünfzehnjährige W***** massive schulische Schwierigkeiten. Er zeigt ein stark oppositionelles, aggressives und drohendes Verhalten, insbesondere der flexiblen Hilfe gegenüber, und verhält sich der Mutter und den (Halb‑)Geschwistern gegenüber deutlich autoritär und kontrollierend. Seine mit der eingenommenen Familienrolle einhergehende Überforderung droht sich in zunehmenden schulischen Defiziten, Verhaltensauffälligkeiten, deviantem und deliquentem Verhalten zu manifestieren. Es gibt weiters Hinweise auf autoaggressives Verhalten („Ritzen“) in Zusammenhang mit belastenden Situationen. Die dreizehnjährige Z***** weist massive Schwierigkeiten im Sozialkontakt auf. Sie tut anderen Kindern – unbeabsichtigt oder auch absichtlich – weh und zeigt gegenüber der flexiblen Hilfe und anderen Betreuungen eine zunehmend ablehnende Haltung. Gegenüber der Mutter nimmt sie die Erwachsenenrolle ein und erledigt auch Aufgaben der Mutter im Haushalt, wobei die Gesamtsituation zu ihrer Überforderung führt und zeitweise bereits die Einnahme von Psychopharmaka notwendig machte. Die zwölfjährige N***** ist gefühlskalt, aggressiv, sucht massiv Aufmerksamkeit und zeigt ein stark oppositionelles Verhalten gegenüber den in der Familie eingesetzten Betreuern und Hilfen. Sie ist gereizt und grenzüberschreitend und in der Interaktion mit der Mutter kaum in der Lage, verbalen oder nonverbalen Kontakt aufzunehmen. Die Mutter wiederum erkennt die Bedürfnisse ihrer Kinder zu wenig, um adäquat darauf reagieren zu können, Anteil zu nehmen, sie in kognitiver Hinsicht zu fördern, ihnen Grenzen zu setzen oder eine durchgehende Gefahrenabwehr sicherzustellen. Ihr fehlt der Überblick und die Kontrolle über behördliche, schulische und ärztliche Belange der Kinder, was einen zusätzlichen Risikofaktor bei der Betreuung darstellt. Schließlich steht fest, dass der weitere Verbleib der Kinder in der Obhut der Mutter das Kindeswohl gefährden würde. Daran vermag auch der Hinweis der Mutter, dass die Kinder nicht durchgehend erhebliche schulische Probleme hätten und ihre Opposition sich zu einem guten Teil gegen die ständige Überwachung durch den Kinder- und Jugendhilfeträger richten würde, nichts zu ändern.

[9] In Anbetracht der – wie festgestellt – fehlenden Kooperationsbereitschaft der Mutter und ihrer trotz jahrelanger umfassender Hilfs- und Unterstützungsleistungen seitens des Kinder- und Jugendhilfeträgers anhaltenden Erziehungsinsuffizienzen, die im Rechtsmittel teilweise auch zugestanden werden, ist nicht ersichtlich, mit welchen gelinderen Mitteln zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung hier noch das Auslangen gefunden werden könnte. Die Entscheidung der Vorinstanzen ist damit nicht zu beanstanden.

[10] 3. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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