Spruch:
Durch § 29a StVO (6. StVO-Novelle) wurde ein erhöhter Schutz für Kinder normiert; gleichwohl haben diese die Bestimmungen über den Fußgängerverkehr des § 76 StVO zu beachten
Ist einem Kind nach seiner geistigen Reife ein solcher Verstoß anzulasten, so ist sein Verschulden grundsätzlich geringer zu werten als das eines Erwachsenen
OGH 15. Juni 1981, 8 Ob 113/81 (OLG Innsbruck 2 R 371/82; LG Innsbruck 6 Cg 326/78)
Begründung:
Am 9. Jänner 1977 ereignete sich auf der Kreuzung Erzherzog-Eugen-Straße/Senn-Straße im Ortsgebiet von Innsbruck ein Verkehrsunfall, an dem die am 29. Juli 1968 geborene Klägerin als Fußgängerin und der Erstbeklagte mit seinem PKW beteiligt waren. Die Klägerin wurde dabei schwer verletzt.
Die Zweitbeklagte ist der Haftpflichtversicherer des PKW.
Die Klägerin begehrte von den Beklagten zur ungeteilten Hand die Zahlung von 40.099 S samt Anhang an Schmerzensgeld und Krankenhauskosten sowie die Feststellung ihrer Haftung für künftige Schäden aus dem Unfall.
Sie brachte vor, daß sie zur Unfallszeit gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer sechs Jahre alten Schwester Michaela die Erzherzog-Eugen-Straße von Osten nach Westen überquert habe. Sie sei rechts neben ihrer Mutter gegangen.
Ungefähr in der Fahrbahnmitte seien sie stehen geblieben, weil ihre Mutter den sich aus nördlicher Richtung nähernden PKW des Erstbeklagten kommen sah. Die Klägerin sei in der Folge wieder losgelaufen und vom PKW des Erstbeklagten erfaßt und zu Boden geschleudert worden. Sie habe einen Bruch des rechten Oberschenkels, eine Zerreißung der Milz und Risse in der Niere erlitten, welche Verletzungen eine Entfernung der Milz notwendig machten. Den Erstbeklagten treffe ein Verschulden am Unfall, weil er auf der schneebedeckten und vereisten Fahrbahn zu schnell fuhr, nicht die rechte Fahrbahnhälfte einhielt und auf die Personengruppe nicht durch eine Herabsetzung der Geschwindigkeit reagierte.
Die Beklagten stellten das Leistungsbegehren der Höhe nach außer Streit. Sie bestritten das übrige Klagevorbringen, beantragten die Abweisung des Klagebegehrens und wendeten ein, daß den Erstbeklagten weder ein Verschulden treffe noch eine Haftung im Rahmen des EKHG bestehe. Die Klägerin habe sich von der Mutter losgerissen und sei von der Fahrbahnmitte plötzlich losgelaufen. Der Erstbeklagte habe nach Sichtkontaktaufnahme mit der Mutter annehmen können, daß die Personengruppe seinen Vorrang beachten werde. Er sei nur mehr 10 bis 15 m von der Unfallstelle entfernt gewesen, als die Klägerin plötzlich loslief, um den restlichen Teil der Fahrbahn zu überqueren. Trotz sofortiger Bremsung habe er den Unfall nicht vermeiden können. Seine Geschwindigkeit sei nicht überhöht gewesen. Seine Fahrlinie habe den örtlichen Verhältnissen entsprochen.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren - ausgehend von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 2 : 1 zu Lasten der Klägerin - mit dem Betrag von 13 366,33 S samt Anhang sowie dem Feststellungsbegehren zu einem Drittel statt und wies das Mehrbegehren ab.
Es legte seiner Entscheidung im wesentlichen folgenden Sachverhalt zugrunde:
Die Erzherzog-Eugen-Straße weist im Unfallsbereich eine Breite von
13,80 m bis 14 m auf. Zum Unfallszeitpunkt war die Fahrbahn teilweise schneebedeckt, teilweise vereist und nicht mit Splitt bestreut. Die Erzherzog- Eugen-Straße ist eine Vorrangstraße. Es herrschte wenig Verkehr. In der Fahrtrichtung des Erstbeklagten waren am rechten Fahrbahnrand sowohl vor der Kreuzung als auch danach parkende PKW abgestellt. Die Mutter der Klägerin, Elisabeth M, hatte die Absicht, mit ihren beiden Kindern die Erzherzog-Eugen-Straße im Bereich der Kreuzung mit der Senn-Straße vom nordöstlichen Gehsteig aus im rechten Winkel in Richtung Westen zu überqueren. Sie führte ihre sechs Jahre alte Tochter Michaela an der linken Hand.
Rechts von ihr ging, ohne geführt zu werden, die damals acht Jahre alte Klägerin. Obwohl aus Richtung Haydnplatz (von Süden her) ein Straßenbahnzug der Linie 1 kam, überquerte die Mutter der Klägerin mit den beiden Kindern noch vor dem Straßenbahnzug die erste Hälfte der Fahrbahn der Erzherzog- Eugen-Straße. Da sie in weiterer Folge den aus nördlicher Richtung kommenden PKW des Erstbeklagten wahrnahm, blieb sie mit den Kindern etwa in der Fahrbahnmitte stehen. Der Erstbeklagte, der diesen Vorgang beobachtet hatte, näherte sich mit seinem PKW mit einer Geschwindigkeit von 46,4 km/h. Als er an die spätere Unfallstelle bis auf eine kurze Entfernung herangekommen war, lief die Klägerin plötzlich und aus unerfindlichen Gründen von ihrem Standplatz rechts neben ihrer Mutter weg und weiter in die Fahrbahn der Erzherzog-Eugen-Straße hinein. Bei einer Laufgeschwindigkeit von 8,6 km/h legte sie in 0,35 Sekunden einen Weg von 0,85 m zurück. Die Klägerin wurde dann vom PKW des Erstbeklagten ungefähr von der Mitte der Frontseite angefahren und zu Boden geschleudert. Wäre der Erstbeklagte, dessen PKW 1,71 m breit ist, um 1,7 bis 1,8 m, also eine Wagenbreite weiter rechts gefahren, wäre es zu keiner Kollision gekommen. Wäre er nur um 1 m weiter rechts gefahren, wäre die Klägerin gegen die linke Seitenwand des PKW gelaufen, was geringere Verletzungen zur Folge gehabt hätte. Tatsächliche hielt der Erstbeklagte jedoch bei der Annäherung an die Unfallsstelle einen Seitenabstand von 3 m zu den geparkten Fahrzeugen ein. Mit Rücksicht auf den Umstand, daß die nachfolgende Kreuzung mit der Gutenbergstraße links versetzt ist, hält allerdings die große Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer dort einen Abstand von 1,65 m zu den geparkten Fahrzeugen am rechten Fahrbahnrand ein. Wäre der Erstbeklagte mit einer Geschwindigkeit von 29 km/h gefahren, wäre er um 0,6 Sekunden später zur Unfallsstelle gekommen und der Unfall wäre vermieden worden. Als Elisabeth M mit ihren beiden Kindern in der Fahrbahnmitte stehen geblieben war, hatte sie zur Klägerin nicht gesagt, daß diese bei ihr stehen bleiben müsse. Die minderjährige Klägerin war das Gehen mit ihrer Mutter gewohnt und wußte üblicherweise, was sie zu tun hatte. Sie besuchte damals die dritte Klasse Volksschule und hatte in der Schule schon hin und wieder Verkehrserziehung mitgemacht. Sie war darüber unterrichtet worden, wie man sich beim Überqueren der Fahrbahn verhält. Die minderjährige Klägerin war ihrem Alter entsprechend körperlich und geistig entwickelt.
In rechtlicher Hinsicht legte das Erstgericht dem Erstbeklagten eine Verletzung der Bestimmungen der §§ 7 Abs. 1 und 20 Abs. 1 StVO zur Last. Zufolge des Umstandes, daß die Klägerin im Unfallszeitpunkt schon die dritte Klasse Volksschule besuchte und Verkehrserziehung erhalten hatte, treffe sie ein erhebliches Mitverschulden, das eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu ihren Lasten rechtfertige.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten keine, jener der Klägerin jedoch teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es der Klägerin - von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 3 zu Lasten der Beklagten ausgehend - den Betrag von 30.074,25 S samt Anhang zusprach, dem Feststellungsbegehren zu 3/4 stattgab und das Mehrbegehren abwies.
Ausgehend von der erstgerichtlichen Feststellung vertrat es die Auffassung, daß der Erstbeklagte gegen § 29a StVO verstoßen habe; er wäre verpflichtet gewesen, sofort sein Fahrzeug anzuhalten, um den Kindern das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Außerdem sei ihm ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 StVO anzulasten, weil der festgestellte Abstand zu den am Fahrbahnrand geparkten Fahrzeugen zu groß gewesen sei. Das Fehlverhalten der Klägerin bestehe darin, entgegen § 76 Abs. 1 und Abs. 4 StVO unmittelbar vor dem herannahenden PKW des Erstbeklagten die Fahrbahn überquert zu haben und in dessen Fahrzeug hineingelaufen zu sein. Es müsse allerdings geringer bewertet werden als das erwachsener Personen, weshalb die oben wiedergegebene Verschuldensteilung gerechtfertigt sei.
Der Oberste Gerichtshof gab den von beiden Teilen erhobenen Revisionen nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Auszugehen ist davon, daß seit der am 1. Jänner 1977 in Kraft getretenen 6. StVO-Novelle ein erhöhter Schutz für Kinder im Straßenverkehr gesetzlich normiert wurde. Nach der neu geschaffenen Bestimmung des § 29a Abs. 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges, der zu erkennen vermag, daß Kinder die Fahrbahn einzeln oder in Gruppen, sei es beaufsichtigt oder unbeaufsichtigt, überqueren, ihnen das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Er hat zu diesem Zweck, falls erforderlich, vor den die Fahrbahn überquerenden Kindern anzuhalten. Dabei ist nicht auf eine enge Auslegung des Begriffes "Überqueren" zurückzugreifen; vielmehr ist zu berücksichtigen, daß ein Kind auch dann die Straße überquert, wenn es während des Überquerens umkehrt, läuft oder geht oder dies abwechselnd tut und nicht den kürzesten Weg wählt (vgl. Kammerhofer, Das Kind im Straßenverkehr, VJ 1976, 25 f.), aber auch, wenn es zwischenzeitig stehenbleibt und dann wieder weitergeht. Ob es dabei beaufsichtigt wird oder nicht, spielt keine Rolle.
Im vorliegenden Fall wäre der Erstbeklagte daher verpflichtet gewesen, seine Geschwindigkeit sogleich und so wesentlich herabzusetzen, daß die von ihrer Mutter begleiteten Kinder - also auch die Klägerin - unbehindert und ungefährdet über die Fahrbahn gelangen konnten. Daß er dessen ungeachtet im Zuge seiner Annäherung seine Geschwindigkeit von 46,4 km/h beibehielt, obwohl er sah, daß die aus zwei Kindern und einer Erwachsenen bestehenden Personengruppe die Fahrbahn überquerte, wurde vom Berufungsgericht daher zutreffend als grober Verstoß gegen § 29a Abs. 1 StVO beurteilt. Dem Erstbeklagten wurde von den Vorinstanzen aber auch mit Recht angelastet, daß er nicht rechts, sondern in einem Seitenabstand von 3 m zu den geparkten Fahrzeugen fuhr. Er hat daher zusätzlich einen Verstoß gegen § 7 Abs. 1 StVO zu verantworten, zumal der Schutzzweck der Norm des § 7 Abs. 1 StVO auch darin besteht, daß sich Fußgänger von links her ungefährdet der Fahrbahnmitte nähern können, um diese zu überqueren (vgl. ZVR 1973/171 u.v.a.). Wäre der Erstbeklagte eine Wagenbreite weiter rechts gefahren, hätte er die Klägerin nicht erfaßt.
Nach dem letzten Satz des § 29a Abs. 1 StVO werden die Bestimmungen des § 76 StVO dadurch (bezogen auf Abs. 1 des § 29a StVO) nicht berührt. Da das Gesetz den § 76 StVO - also die Bestimmungen über das Verhalten der Fußgänger - auch auf Kinder angewendet wissen will, so bedeutet dies, daß auch Kinder die für Fußgänger geltenden Bestimmungen beachten müssen, sofern dieses Verhalten von ihnen nach Maßgabe ihres Einsichtsvermögens und ihrer körperlichen und geistigen Reife erwartet werden darf (vgl. Kammerhofer a.a.O.). Nach ständiger und weiterhin relevanter Rechtsprechung ist von einem geistig und körperlich normal entwickelten Kind, das 8 1/2 Jahre alt ist und bereits die dritte Klasse Volksschule besucht, zu erwarten, daß es weiß und sich danach zu richten vermag, wie gefährlich es ist, nach einem Stehenbleiben in der Fahrbahnmitte plötzlich weiterzugehen, ohne dabei das übrige Verkehrsgeschehen zu beachten. Zutreffend ging daher das Berufungsgericht davon aus, daß auch der Klägerin ein Verschulden am Unfall anzulasten sei, welches zwar mit Rücksicht auf die §§ 1304, 1310 ABGB grundsätzlich geringer gewertet werden muß als das eines Erwachsenen (vgl. ZVR 1964/130; ZVR 1971/81; ZVR 1972/31 u.v.a.), nach Lage des vorliegenden Falles aber nicht so gering zu veranschlagen ist, daß es vernachlässigt werden könnte (vgl. ZVR 1974/101 u.a.). In der vom Gericht zweiter Instanz vorgenommenen Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 3 zu Lasten der Beklagten kann daher ein Rechtsirrtum nicht erblickt werden.
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