Spruch:
Die Voraussetzung der Leistungsfreiheit des Versicherers ist auch dann erfüllt, wenn der Versicherungsnehmer vom Eintritt des Versicherungsfalles erst in der Zeit zwischen seiner Antragstellung und der Annahme des Antrages erfährt.
Der Versicherer kann auf seine nach § 2 (2) VersVG. eingetretene Leistungsfreiheit hinterher wirksam verzichten.
Entscheidung vom 21. Juni 1967, 7 Ob 79/67.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:
Oberlandesgericht Graz.
Text
Der Kläger begehrt mit der am 28. April 1965 eingebrachten Klage von der beklagten Versicherungsgesellschaft, die er als Kaskoversicherer seines bei einem Verkehrsunfall beschädigten LKWs in Anspruch nimmt, die Zahlung von 57.538 S samt Nebengebühren. Wenngleich er die Erstprämie erst nach dem Unfall gezahlt habe, sei die von der Beklagten geltend gemachte Leistungsfreiheit nach § 38 (2) VersVG. nicht eingetreten, weil die Zahlung mangels Zustellung der Versicherungspolizze oder einer Mahnung noch nicht fällig gewesen sei.
Die Beklagte stützte ihren Antrag auf Klagsabweisung auf die vorerwähnte Gesetzesbestimmung und für den Fall, als bis zum Unfall zwischen den Streitteilen ein Versicherungsverhältnis nicht zustandegekommen sein sollte, auf die Einwendung, daß sie dem Kläger eine vorläufige Deckungszusage nicht gegeben haben. Der Höhe nach stellte die Beklagte das Klagebegehren außer Streit.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und erkannte in Abänderung des Ersturteils nach dem eingeklagten Zahlungsbegehren, wobei es von folgendem Sachverhalt ausging:
Der Kläger unterfertigte mit am 13. März 1964 ein Antragsformular der Beklagten (Beilage IV), worin er ihr das Angebot auf Abschluß eines Kaskoversicherungsvertrages über einen von ihm benützten, jedoch damals noch im Eigentum einer Firma X. stehenden LKWs, Marke Steyr, stellte. Hiebei wurde die Frist der Bindung des Antragstellers an das Anbot mit drei Monaten festgesetzt.
Am 12. April 1964 wollte die Grazer Filiale der Beklagten den Originalversicherungsschein zufertigen und versendete ihn zu diesem Zweck an die Anschrift "Möbelhaus X., Graz, D.-Platz 12". Wegen der unrichtigen Bezeichnung des Adressaten ("Möbelhaus X." statt "Möbelhaus A.") verweigerte Edeltraud A., die Gattin des klägerischen Firmeninhabers, den Empfang der Sendung, die daraufhin der Postzusteller unter Anbringung des Vermerkes "Zurück an den Absender" wieder an sich nahm. Seither ist die Polizze unauffindbar; an die Beklagte langte sie jedenfalls nicht zurück. Edeltraud A. hatte sich bei der Zurückweisung jener Postsendung nichts weiter gedacht und sich lediglich darauf beschränkt, ihrem Mann von der versuchten Postzustellung Mitteilung zu machen. Am 16. Juni 1964 erbot sich der Inhaber der klägerischen Firma gegenüber der Firma X. zum Ankauf des erwähnten LKWs, wobei er gleichzeitig bei der N.-Bank um einen Kredit von 150.000 S ansuchte. Bei dieser Gelegenheit äußerte er sich zu seiner Frau, daß die Prämie sofort bei Einlangen der Polizze der Beklagten zu zahlen sein werde. Im Zuge der Kreditaufnahme richtete er an die Beklagte am 14. Juli 1964 das briefliche Ersuchen, "die bestehende bzw. erst abzuschließende Vollkaskoversicherung" zugunsten der Bank als der Sicherungseigentümerin des LKWs zu vinkulieren (Beilage 1). Dieses Schreiben erhielt die Beklagte am 27. Juli 1964 zugleich mit einem Schreiben der Bank vom vorangegangenen 24. Juli, worin auch sie um die Vinkulierung zu ihren Gunsten ersuchte. Nachdem die Bank dieses Ersuchen mehrmals betrieben hatte, wurde sie mit Schreiben vom 19. August 1964 von der Beklagten schriftlich verständigt, daß die Vinkulierung der Vollkaskoversicherung für den LKW vorgemerkt sei (Beilage E). Als dieses Schreiben zustande kam, wußte sein Verfasser noch nicht, daß der fragliche LKW tags zuvor, am 18. August 1964, bei einem Verkehrsunfall schwer beschädigt worden war. Die diesbezügliche Schadensmeldung erstattete Edeltraud A. am 19. August 1964 bei der Beklagten, deren Sachbearbeiter damals auf einen entsprechenden Vorhalt der Genannten hin erklärte, die Versicherungspolizze sei wahrscheinlich noch (im Zentralbüro der Beklagten) in W. und werde sicherlich zugefertigt werden. Am 25. August 1964 erhielt die Bank ein vom 21. August 1964 datiertes Schreiben der Beklagten (Beilage F), in welchem diese unter Hinweis auf die erfolgte Vinkulierung anfragte, ob die Bank den Schadensbetrag von etwa 60.000 S, der anläßlich des Schadensfalles vom 18. August 1964 zur Auszahlung gelangen solle, freigebe. Am 31. August 1964 erteilte die Bank hiezu ihre Zustimmung. Zuvor hatte sie die beiden an sie gerichteten Schreiben der Beklagten (Beilagen E und F) an den Kläger weitergeleitet. Am 18. September 1964 kassierte ein Angestellter der Beklagten in Kenntnis des Schadensfalles beim Kläger die Erstprämie im Betrag von 8180.40 S. Hiebei kam Edeltraud A. auch auf das Schadensereignis zu sprechen und erwähnte u. a., daß sie noch immer keine Polizze in Händen habe. Mit Schreiben an den Kläger vom 27. Oktober 1964 lehnte die Beklagte die Deckung des Schadens mit der Begründung ab, daß sie mangels Zahlung der Erstprämie vor dessen Eintritt leistungsfrei geworden sei.
In rechtlicher Beziehung führte das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit dem Ersturteil aus, daß das Klagebegehren unter dem Gesichtspunkt des Schadenersatzes nicht zu beurteilen sei, weil der Kläger einen derartigen Klagegrund nicht geltend gemacht habe, und daß mangels eines entsprechenden klägerischen Prozeßvorbringens auch eine vorläufige Deckungszusage der Beklagten als Grundlage der Klagsforderung außer Betracht bleibe. Was aber die vom Erstgericht aufgeworfene Frage nach dem Bestand eines zwischen den Prozeßparteien eingegangenen Versicherungsverhältnisses anlange, so sei dieses von ihnen gar nicht bestritten worden. Allerdings sei, da der Kläger die Versicherungspolizze nicht erhalten habe, der Versicherungsvertrag zur Zeit des Schadensereignisses noch nicht abgeschlossen gewesen, wohl aber sei dies schlüssig (§ 863 ABGB.) dadurch geschehen, daß sich die Beklagte nicht nur mit ihrer am 19. August 1964 erfolgten Mitteilung der Vinkulierung der Kaskoversicherung (Beilage E), sondern auch nach dem ganzen Inhalt ihres Schreibens vom 21. August 1964 (Beilage F), worin sie wegen der Freigabe des Schadensbetrages von rund 60.000 S bei der Bank anfragte, zu dem Versicherungsverhältnis bekannt habe. In die gleiche Richtung weise auch die etwa einen Monat später vorgenommene Einhebung der Erstprämie. Dieses Inkasso für sich allein stelle freilich noch keinen Verzicht auf die von der Beklagten behauptete Leistungsfreiheit nach § 38 (2) VersVG. dar, doch sei ein solcher Verzicht gemäß § 863 ABGB. darin zu erblicken, daß sie nach dem Schadensfall in ihrem Schreiben vom 21. August 1964 (Beilage F) ausdrücklich erklärt habe, mit Zustimmung der Bank die Deckungssumme auszahlen zu wollen; dies umsomehr, als sie unter den gegebenen Umständen damit habe rechnen müssen, daß die Bank jenes Schreiben, wie es dann auch tatsächlich geschah, an den Kläger, der ja in erster Linie die Vinkulierung seinerzeit verlangt habe und der auch der Unfallsgeschädigte gewesen sei, übermitteln werde. Aber auch wenn die Beklagte auf ihre Leistungsfreiheit nach § 38 (2) VersVG. nicht wirksam verzichtet hätte, käme ihr diese Bestimmung nach herrschender Rechtsprechung (SZ. XXVII 328) nicht zugute, da sie die nicht rechtzeitige Zahlung der Erstprämie durch die falsche Adressierung der Polizze selbst verschuldet habe; darüber hinaus habe sie auch für das Verschulden der von ihr benützten Übermittlungsanstalt, nämlich der Post, an dem Unterbleiben der Rückleitung der Sendung einzustehen (EvBl. 1961 Nr. 434). Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Revisionswerberin ist allerdings darin beizupflichten, daß sie im erstgerichtlichen Verfahren entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes den Abschluß eines Versicherungsvertrages mit dem Kläger nicht stillschweigend zugestand; vielmehr ließ sie diese Frage offen, indem sie, worauf im Vorstehenden bereits hingewiesen ist, auch ein Vorbringen erstattete, welches darauf abstellt, daß ein Versicherungsverhältnis nicht bestehe. Tatsächlich kann aber dessen Bestand nicht zweifelhaft sein, da ja die Beklagte in der Folge durch ihre beiden bereits zur Sprache gekommenen Schreiben, Beilage E und F, und durch das Inkasso der Erstprämie unzweideutig zum Ausdruck brachte, daß auch sie ein aufrechtes Versicherungsverhältnis bejaht, dessen Inhalt bei der gegebenen Sachlage sich naturgemäß nur nach dem Vertragsantrag vom 13. März 1964 (Beilage IV) bestimmt. Zutreffend führte daher das Berufungsgericht aus, daß der Versicherungsvertrag mit Wirkung vom 13. März 1964 abgeschlossen wurde, mit welchem Datum der Versicherungsbeginn im Antrag (Beilage IV) wie übrigens auch im Durchschlag der Versicherungspolizze (Beilage 4) bezeichnet ist. Da aber der Vertragsabschluß erst später stattfand, indem dem Kläger die schlüssige Annahme seines Anbotes durch die Beklagte mittels deren Schreiben, Beilagen E und F, zur Kenntnis gelangte, liegt insofern eine Rückwärtsversicherung nach § 2 (1) VersVG. vor. Hiebei ist nun beachtlich, daß der Versicherungsfall bereits vor dem Zustandekommen des Versicherungsvertrages eingetreten war und der Kläger davon im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses wußte. Käme es nur darauf an, so wäre die Beklagte nach § 2 (2) zweiter Satz VersVG. leistungsfrei. Daran könnte auch nichts ändern, daß die Klägerin ihren Vertragsantrag am 13. März 1964, also noch lange vor dem Schadensereignis stellte, denn nach der herrschenden Rechtsprechung und der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung ist die Voraussetzung der eben erwähnten Leistungsfreiheit des Versicherers auch dann erfüllt, wenn der Versicherungsnehmer vom Eintritt des Versicherungsfalles erst in der Zeit zwischen seiner Antragstellung und der Annahme des Antrages erfährt (vgl. SZ. XXII 3; Bruck - Möller "Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz" [8] I. Bd. S. 149 Anm. 25; Prölss "Versicherungsvertragsgesetz" Anm. 3 zu § 2 vgl. ebenda Anm. 3 zu §§ 16, 17; a. M. Ehrenzweig "Deutsches (österreichisches) Versicherungsvertragsrecht", 1952, S. 78 Abs. 21. Eine andere Frage ist es jedoch, ob der Versicherer auf seine nach § 2 (2) VersG. eingetretene Leistungsfreiheit hinterher wirksam zu verzichten vermag. Der Revisionswerber verneint dies unter Berufung auf die oberstgerichtliche Entscheidung SZ. XXXVII 98, die besagt, daß § 2 (2) VersVG. absolut zwingend sei und es daher auf sich beruhen könne, ob der Versicherer bei Abschluß des Versicherungsvertrages vom Eintritt des Versicherungsfalles Kenntnis hatte. Damit wird indes eine Verzichtsmöglichkeit des Versicherers in dem oben angedeuteten Sinn nicht ausgeschlossen. In der Tat läßt sich weder aus dem Versicherungsvertragsgesetz noch aus einer sonstigen Norm, auch nicht aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder den guten Sitten ableiten, daß es dem nach § 2 (2) VersVG. von seiner Verpflichtung zur Leistung frei gewordenen Versicherer verwehrt wäre, sich zu dieser Leistung dennoch zu verpflichten (vgl. Bruck - Möller a. a. O., Anm. 43 zu § 2 VersVG.). Dabei setzt dies unter den vorliegenden Umständen, nämlich mit Rücksicht darauf, daß die Verzögerung der Prämienzahlung von der Beklagten selbst verschuldet wurde, ihrerseits nicht einmal eine besondere Kulanz oder gar eine von ihr allerdings nicht zu erwartende Schenkungsabsicht voraus. Daß sie gewillt sei, zu ihrer Deckungspflicht zu stehen, gab die Beklagte durch ihr Schreiben vom 21. August 1964 an die Bank (Beilage F) objektiv zu erkennen. Auch mußte sie annehmen, daß der Kläger seitens der Bank von diesem Schreiben auf irgendeine Weise unterrichtet werden würde. Demnach wurde von der Beklagten auch gegenüber dem Kläger zumindest der äußere Anschein erweckt (§ 863 ABGB.), daß sie die Bestimmung des § 2 (2) VersVG. nicht geltend machen, sondern den Schaden decken werde, ein Anschein, der den wirklichen Gegebenheiten sogar insofern entspricht, als doch die Beklagte, wie der Durchschlag der Versicherungspolizze (Beilage 4) zeigt, den Versicherungsvertrag in Übereinstimmung mit dem gestellten Anbot (Beilage IV) tatsächlich abschließen wollte und dies zunächst nur an der von ihr zu vertretenden Fehlerhaftigkeit der Adressierung der Polizze scheiterte. Bei all dem ist auch noch zu berücksichtigen, daß die Beklagte, als sie mit ihrem Schreiben, Beilage F, den hier zur Erörterung stehenden äußeren Tatbestand setzte, nicht etwa von der Annahme eines zwischen ihr und der Klägerin bereits zustande gekommenen Versicherungsverhältnisses ausgehen konnte. Wurde sie doch festgestelltermaßen am 19. August 1964 von Edeltraud A. darauf aufmerksam gemacht, daß dem Versicherungsnehmer die Polizze noch immer nicht zugegangen sei.
Die Verurteilung der Beklagten durch das Berufungsgericht erweist sich daher als begrundet. Mithin war der Revision nicht Folge zu geben.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)