Normen
ABGB §1293
ABGB §1323
ABGB §1329
AHG §1 Abs1
Europäische Menschenrechtskonvention Art5
ABGB §1293
ABGB §1323
ABGB §1329
AHG §1 Abs1
Europäische Menschenrechtskonvention Art5
Spruch:
§ 1329 ABGB gewährt bei einer mit Art. 5 Abs. 5 MRK konformen Auslegung auch gegenüber einer Privatperson den Anspruch auf Ersatz ideeller Schäden aus Freiheitsberaubung
OGH 1. März 1979, 7 Ob 555/79 (OLG Wien 18 R 2026/78; LGZ Wien 3 Cg 288/77)
Text
Die Zweitbeklagte hatte vom Jahre 1974 bis zum Frühjahr 1975 ein intimes Verhältnis zum Kläger. Seit Oktober 1975 lebt sie in Lebensgemeinschaft mit dem Erstbeklagten. Nachdem sie den Kläger bei der Polizei wegen verschiedener Beschimpfungen und anderer gegen sie gerichteter Handlungen, durch die sie in ihrer Umgebung herabgesetzt worden war, angezeigt hatte, bezichtigte sie ihn am 29. Dezember 1975 auch der Drohung mit dem Umbringen. Einen gleichlautenden Vorwurf erhob auch der Erstbeklagte am 29. Dezember 1975 gegen den Kläger, wobei er Tätlichkeiten gegen seine Person und Bedrohungen durch den Kläger behauptete. Daraufhin wurde der Kläger noch am selben Tage in Haft genommen und am 30. Dezember 1975 wurde gegen ihn auf Antrag der Staatsanwaltschaft Wien die Voruntersuchung wegen Verdachtes nach den §§ 105, 106 Abs. 1 Z. 1 und 107 Abs. 2 StGB eingeleitet. Auch wurde über ihn aus den Haftgrunden des § 180 Abs. 2 Z. 1 und 3 StPO die Untersuchungshaft verhängt. Aus dieser Haft wurde er am 15. Jänner 1976 entlassen. Das gegen ihn eingeleitete Verfahren wurde am 12. Mai 1976 gemäß § 109 StPO eingestellt.
Mit der Behauptung, seine Haft sei ausschließlich auf die wider besseres Wissen durch die Beklagten erstatteten Anzeigen zurückzuführen, wobei die Anzeigeerstattungen den Zweck gehabt hätten, in seiner Abwesenheit Gegenstände aus seiner Wohnung zu entfernen, begehrt der Kläger 44 203 S samt Anhang als Ersatz für verschwundene Gegenstände und einen durch die Haft erlittenen Verdienstentgang. Im Klagsbetrag sind außerdem 27 000 S als angemessene Entschädigung für die erlittene Haft enthalten.
Während das Erstgericht eine bewußt unwahre Anzeigeerstattung nicht als erwiesen annahm und das Klagebegehren daher abwies, hob das Berufungsgericht das Urteil des Erstgerichtes unter Rechtskraftvorbehalt auf. Es erachtete das Verfahren bezüglich der Frage, ob die Anzeigeerstattung bewußt wahrheitswidrig erfolgt sei, als ergänzungsbedürftig. Nach seiner Rechtsansicht sei auch der die Entschädigung für die Haft betreffende Teil des Klagebegehrens noch nicht spruchreif, weil, entgegen der bisherigen Judikatur, aus § 1329 ABGB auch ein Anspruch auf Ersatz immaterieller Schäden abgeleitet werden könne.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Daß ein Anspruch wegen rechtswidriger Freiheitsberaubung nach § 1329 ABGB nur gegeben sein kann, wenn die Haft des Klägers auf die Anzeigen der Beklagten zurückzuführen war, wenn sie widerrechtlich verhängt worden ist und wenn die Anzeigen wissentlich falsch gewesen sein sollten (Gschnitzer, Schuldrecht besonderer Teil und Schadenersatz, 178; SZ. 29/1; 6 Ob 111/64 u. a.), hat das Berufungsgericht richtig erkannt. Es hat jedoch das Verfahren in diesem Punkte als ergänzungsbedürftig erachtet. Ist die vom Berufungsgericht in seinem Aufhebungsbeschluß vertretene Rechtsansicht unbedenklich, so kann der OGH, der nicht Tatsacheninstanz ist, der Auffassung des Berufungsgerichtes, die bisher getroffenen Feststellungen reichten für die rechtliche Beurteilung nicht aus, nicht entgegentreten (SZ. 44/108; SZ. 43/167 u. a.).
Zu prüfen war demnach nur, ob die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, aus § 1329 ABGB könnten auch Ansprüche wegen immaterieller Schäden abgeleitet werden, richtig ist oder nicht.
Wie das Berufungsgericht zutreffend dartut, hat die Judikatur seit Jahrzehnten praktisch lückenlos den Standpunkt vertreten, immaterieller Schaden sei grundsätzlich nicht Gegenstand des Ersatzes (der "Genugtuung"), sondern nur dort, wo das Gesetz dies ausrücklich vorsieht, zu ersetzen, also nicht im Falle des § 1329 ABGB (EvBl. 1962/161; JBl. 1952, 465; JBl. 1951, 377 u. a.). Begrundet wurde diese Rechtsansicht unter Hinweis auf die ältere Lehre (Randa, Nippel, Zeiller u. a.) im wesentlichen damit, daß die Freiheit als unschätzbares Gut im Regelfall nicht Geldersatz rechtfertige. Zur Stützung dieser Ansicht wurde auf die Entstehungsgeschichte der Bestimmung des § 1329 ABGB und auf ihren Zusammenhang mit den §§ 1323 und 1324 ABGB verwiesen.
Demgegenüber lehnt die neuere Lehre (Klang in der Festschrift zur 100-Jahr-Feier des österreichischen Obersten Gerichtshofes 1950, 135; Glossen in JBl. 1951, 371 und JBl. 1952, 465; Koziol, Haftpflichtrecht I, 174 ff, Ehrenzweig[2] II/1 655; Strasser, Der immaterielle Schaden im österreichischen Recht, und insbesondere Bydlinski, Der Ersatz ideeller Schäden als sachliches und methodisches Problem, JBl. 1965, 173 ff. und 237 ff.) die Judikatur in diesem Punkte ab. Hiebei muß sämtlichen Autoren zugegeben werden, daß jener Teil der Ansicht Zeillers, der in Wahrheit eine ideologische Stützung der Ablehnung immaterieller Schäden beinhaltet, einerseits den heutigen Anschauungen nicht mehr entspricht und andererseits durch inzwischen eingetretene Gesetzesänderungen überholt ist. Im übrigen weist Strasser (Der immaterielle Schaden im Österreichischen Recht, 124 ff.) an Hand der Materialien zutreffend darauf hin, daß die Entstehungsgeschichte des ABGB in Wahrheit keine sichere Grundlage für die Ablehnung immaterieller Schäden bildet, weil diese Auffassung zwar von Zeiller vertreten worden ist, dessen Auffassung sich aber nicht restlos mit der Meinung der Hofkommission deckte. Schließlich darf aber auch nicht verkannt werden, daß die geäußerten Ansichten einer ein Gesetz ausarbeitenden Kommission zwar einen Aufschluß über die damaligen Anschauungen und sohin auch ein Hilfsmittel für die Gesetzesauslegung geben, daß aber diese Kommission nicht mit dem Gesetzgeber und sohin auch nicht die von ihren Mitgliedern geäußerten Ansichten mit dem Willen des Gesetzgebers gleichgesetzt werden können.
Daß die Bestimmungen der §§ 1323 ff ABGB im Zusammenhang mit den übrigen schadenersatzrechtlichen Bestimmungen eine Auslegung dahin, daß bei Freiheitsberaubung auch immaterielle Schäden zu ersetzen seien, zumindest nicht ausschließen, hat insbesondere Bydlinski in seinen eingehenden Ausführungen in der Abhandlung "Der Ersatz ideeller Schäden als sachliches und methodisches Problem" überzeugend dargetan. Der Autor spricht jedoch der weiteren Erwägung der Judikatur, der Ersatz immaterieller Schäden sei deshalb abzulehnen, weil sie in Geld nur schwer bewertbar seien, grundsätzliche Berechtigung nicht ab. Bei gleichbleibender Rechtslage könnte im Falle zweier möglicher Auslegungen gerade dieser Gedankengang ein Festhalten an der bisherigen Judikatur rechtfertigen, obwohl nicht übersehen werden darf, daß die österreichische Rechtsordnung inzwischen in einer Reihe von Gesetzen den Ersatz immaterieller Schäden ausdrücklich angeordnet hat und daß der von Bydlinski gemachte Lösungsvorschlag einen brauchbaren Damm gegen das Überhandnehmen unerwünschter Ansprüche bilden könnte. Was die Freiheitsberaubung anlangt, wäre das Ausufern der daraus abgeleiteten Ansprüche auf Ersatz immaterieller Schäden auch noch dadurch weiter eingeschränkt, daß solche Ansprüche Vorsatz des Täters voraussetzen.
Infolge der inzwischen eingetretenen Änderung der Rechtslage kann jedoch eine Klärung der Frage, welcher Auslegung bei gleichbleibender Rechtslage der Vorzug zu geben wäre, unterbleiben. Eine solche Änderung der Rechtslage hat der Beitritt Österreichs zur europäischen Menschenrechtskonvention bewirkt. Gestützt auf deren Bestimmungen hat der OGH in seiner Entscheidung vom 18. Juni 1975, 1 Ob 226/75 (SZ 48/69 = JBl. 1975, 645) in einem Fall ungerechtfertigter Verhaftung den Ersatz immaterieller Schäden zuerkannt. Das diesbezügliche Verfahren betraf einen Anspruch gegen die Republik Österreich, durch deren Organe die Verhaftung erfolgt war. Begrundet wurde die Entscheidung damit, daß Art. 5 Abs. 5 MRK insoferne eine Abänderung des § 1329 ABGB gebracht habe, als im Falle ungerechtfertigter Haft auch ohne Verschulden gehaftet werde und andererseits immaterielle Schäden zu ersetzen seien. Auf die eingehende Begründung dieser Entscheidung, die sich auf die Entstehungsgeschichte der MRK und die diesbezügliche Judikatur des Europäischen Gerichtshofes in Straßburg beruft, kann hier verwiesen werden. Jedenfalls muß davon ausgegangen werden, daß der Begriff "Schadenersatz" in Art. 5 Abs. 5 MRK auch den Ersatz immaterieller Schäden umfaßt.
Eine unmittelbare Anwendung der aus der erwähnten Entscheidung sich ergebenden Gedankengänge auf den vorliegenden Fall ist nicht möglich, weil aus dem gesamten Art. 5 MRK, insbesondere aber aus den in Abs. 1 aufgezählten Umständen, aus denen eine Rechtfertigung für eine Haft abzuleiten ist, hervorgeht, daß diese Bestimmung nur eine Haftung des Rechtsträgers begrundet (SZ. 48/69). Überhaupt begrenzt die Konvention in der Hauptsache die Ausübung öffentlicher Gewalt gegenüber dem Individuum (Woesner in NJW 1961, 1383, Schorn, Kommentar zur MRK 69). Demnach kann ein Schadenersatzanspruch, der nicht gegen die öffentliche Gewalt gerichtet ist, nicht aus Art. 5 Abs. 5 MRK abgeleitet werden.
Indirekt hat jedoch der Beitritt Österreichs zur Menschenrechtskonvention inhaltlich zu einer Beeinflussung des österreichischen Schadenersatzrechtes beigetragen. Aus einer bloßen Verschiedenheit der Ausdrücke kann eine Verschiedenheit des Schadenersatzbegriffes in der MRK einerseits und im ABGB andererseits nicht abgeleitet werden, weil in Wahrheit hier kein wesentlicher Unterschied besteht (s. auch Strasser in seiner Glosse zu der oben erwähnten Entscheidung in JBl. 1975, 650). Andererseits ist aber Österreich einem völkerrechtlichen Vertrag im Verfassungsrang beigetreten, der in bestimmten Fällen den Ersatz des erlittenen Schadens vorschreibt, wobei aber sein Schadenersatzbegriff auch den Ersatz ideellen Schadens umfaßt. Österreich hat sohin durch seinen Beitritt zu dieser Konvention bewußt in Kauf genommen, daß in den österreichischen Schadenersatzbegriff auch der Ersatz ideellen Schadens hineingetragen wird. Soweit demnach österreichische Schadenersatzbestimmungen dem nicht ausdrücklich entgegenstehen, kann schon aus methodischen Gründen der Schadenersatzbegriff in Fällen, die denen in der MRK genannten im wesentlichen gleichgelagert sind, nicht anders ausgelegt werden. Falls zwingende Gründe dem nicht entgegenstehen, muß es nämlich Ziel einer Rechtsordnung sein, gleiche Fälle auch gleich zu behandeln. Vor allem soll eine Rechtsordnung nicht grobe Wertungswidersprüche aufweisen. Wie Strasser in seiner bereits oben erwähnten Glosse zutreffend ausführt, wäre es aber ein zu krasser Wertungswiderspruch, wenn selbst schuldlose Freiheitsbeschränkungen durch einen Polizisten zum Ersatzführen könnten, vorsätzliche durch einen Verbrecher hingegen nicht. Zu einem derart krassen Wertungswiderspruch darf die Auslegung verschiedener gesetzlicher Bestimmungen nicht führen, es sei denn, daß sie ihn eindeutig vorschreiben. Eindeutige positive Bestimmungen stehen einer Auslegung des § 1329 ABGB im Sinne einer Bejahung des Anspruches auf Ersatz ideeller Schäden nicht entgegen. Daraus folgt, daß zwar Art. 5 Abs. 5 MRK keinen Schadenersatzanspruch gegen eine Privatperson, die sich vorsätzlich einer Freiheitsberaubung schuldig gemacht hat, gibt, ein solcher Anspruch vielmehr nach wie vor nur aus § 1329 ABGB abgeleitet werden kann, daß aber die letztgenannte Bestimmung durch Art. 5 Abs. 5 MRK soweit beeinflußt worden ist, daß die Auslegung des in ihr enthaltenen Begriffes der vollen Genugtuung konform mit der Auslegung des Schadenersatzbegriffes in Art. 5 Abs. 5 MRK erfolgen muß.
Schon aus diesen Gründen erweist sich die rechtliche Beurteilung durch das Berufungsgericht als zutreffend, weshalb, wie bereits ausgeführt wurde, die Frage, ob ohne Beitritt Österreichs zur Menschenrechtskonvention an der bisherigen Judikatur zu § 1329 ABGB festzuhalten wäre, auf sich beruhen kann. Auch wenn man nämlich der Begründung der bisherigen Judikatur gegenüber den Argumenten der Lehre auf Grund der früheren Rechtslage den Vorzug geben würde, müßte die Änderung der Rechtslage zu einer anderen Entscheidung über den Ersatz immaterieller Schäden im Falle der Freiheitsberaubung führen.
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