Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger ist schuldig, dem Beklagten die mit 1.049,04 EUR (darin enthalten 174,84 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger führt beim Landesgericht Linz wegen eines von ihm behaupteten Diagnose‑ und Behandlungsfehlers einen Schadenersatzprozess gegen den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. F***** S*****. Diesen hatte er am 27. 11. 2009 wegen Beschwerden am linken Vorfuß aufgesucht. Am 30. 11. 2009 hatte er sich auch an seinen Hausarzt, den Beklagten gewandt. Dr. S***** verkündete dem Beklagten den Streit; er habe im Fall des Prozessverlustes gegen den Beklagten Regressansprüche, weil dieser die Fußverletzung nur drei Tage später ebenfalls nicht richtig diagnostiziert und eine Krankenhausbehandlung zu Unrecht nicht für notwendig erachtet habe. Der Beklagte trat dem Verfahren als Nebenintervenient auf Seiten von Dr. S***** bei. Ohne vom Kläger von seiner ärztlichen Verschwiegenheitspflicht entbunden worden zu sein, legte er dessen vollständige Krankenkartei sowie jene Befunde vor, die aus seiner Sicht für das Verfahren von Bedeutung sein könnten. Der Kläger war bei ihm wegen neurologischer Probleme im Bereich der Beine mit der Diagnose Polyneuropathie bereits zuvor in Behandlung gewesen.
Mit der Behauptung, der Beklagte habe im Verfahren gegen Dr. S***** durch sein Vorbringen betreffend den Inhalt der ärztlichen Behandlungen und die Vorlage von Urkunden (Krankenkartei und diverse Befunde) seine ärztliche Verschwiegenheitspflicht verletzt, begehrte der Kläger 1. den Beklagten schuldig zu erkennen, es künftig ihm gegenüber zu unterlassen, gegen die ärztliche Verschwiegenheitspflicht zu verstoßen; 2. die Feststellung der Haftung des Beklagten für sämtliche Schäden aus dem Verstoß gegen die ärztliche Verschwiegenheitspflicht im Verfahren gegen Dr. S*****.
Der Beklagte beantragte Klagsabweisung. Einer Entbindung von der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht bedürfe es dann nicht, wenn dem behandelnden Arzt ‑ wie hier durch den angekündigten Regress ‑ direkt der Eingriff in seine Rechtsposition drohe.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Beklagte werde bei der Abwehr behaupteter Regressansprüche als Nebenintervenient in eigener Sache tätig und unterliege dabei nicht der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht nach § 54 ÄrzteG.
Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Ähnlich wie ein Rechtsanwalt nach § 9 Abs 2 RAO sei ein Arzt gemäß § 54 Abs 1 ÄrzteG, abgesehen von den in § 54 Abs 2 ÄrzteG geregelten Ausnahmefällen, zur Verschwiegenheit über alle ihm in Ausführung seines Berufs anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse verpflichtet. Zu § 9 Abs 2 RAO habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass keine Pflicht zur Verschwiegenheit bestehe, wenn der Rechtsanwalt in eigener Sache tätig werde. Gehe es um die Durchsetzung oder die Abwehr von Ansprüchen aus dem Mandatsverhältnis, sei das in diesem Zusammenhang gesetzte Verhalten des Rechtsanwalts nicht unter dem Aspekt der Verletzung von Berufspflichten zu sehen. Nichts anderes gelte hinsichtlich § 54 Abs 1 ÄrzteG. Der Beklagte versuche im Verfahren gegen Dr. S***** als Nebenintervenient den behaupteten Schadenersatzanspruch abzuwehren, um nicht selbst im Regressweg in Anspruch genommen und ersatzpflichtig zu werden. Der Beklagte sei daher gehalten, in eigener Sache alles vorzubringen und vorzulegen, um ein Obsiegen des Klägers zu verhindern. Der auf § 54 Abs 1 ÄrzteG gleichfalls anzuwendenden höchstgerichtlichen Rechtsprechung zu § 9 Abs 2 RAO zufolge unterliege der Beklagte insoweit nicht der Verschwiegenheitspflicht und sei berechtigt gewesen, anspruchsvernichtende Umstände vorzutragen und Urkunden vorzulegen. Nicht alles vorbringen zu dürfen, was er für erforderlich halte, wäre eine unzulässige Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte. Der Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, einzelne Einträge der seit dem Jahr 2001 vollständig vorgelegten Krankenkartei zu schwärzen. Die Krankenkartei sei ‑ im Gegensatz zu Befunden ‑ ohnedies nur ein ganz grober stichwortartiger Überblick über die einzelnen Ordinationen. Davon abgesehen sei der Kläger bereits in den Jahren davor beim Beklagten wegen möglicherweise mit dem behaupteten Behandlungsfehler im Zusammenhang stehenden Fußbeschwerden in Behandlung gewesen. Der Beklagte habe ohnehin nur jene Befunde vorgelegt, die nach seiner Sicht für das Verfahren von Bedeutung seien, sodass keine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht vorliege.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige; weiters, dass die ordentliche Revision nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei. Auf Antrag des Klägers nach § 508 ZPO änderte es den Ausspruch der Unzulässigkeit der Revision dahin ab, dass es die ordentliche Revision doch für zulässig erklärte, weil zur Rechtsfrage, inwieweit die Rechtsprechung zur anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht auf die ärztliche Verschwiegenheitspflicht anwendbar sei, oberstgerichtliche Judikatur fehle.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel seines Prozessgegners entweder als unzulässig zurückzuweisen oder ihm keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zwar zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.
Das Berufungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass Ärzte wie Rechtsanwälte berufliche Geheimnisträger sind und die ärztliche Verschwiegenheitspflicht nach § 54 Abs 1 ÄrzteG auf ähnlichen Überlegungen beruht, die auch für die Verschwiegenheitspflicht eines Rechtsanwalts nach § 9 Abs 2 RAO gelten. Die Judikatur betreffend die einen Rechtsanwalt treffende Pflicht zur Verschwiegenheit hinsichtlich ihm in Ausübung seines Berufs anvertrauter oder bekannt gewordener Geheimnisse kann daher auch für die Beurteilung der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht herangezogen werden. Insbesondere treffen die Erwägungen, dass keine Verschwiegenheitspflicht besteht, falls der Rechtsanwalt ihm in Ausübung seines Berufs anvertraute oder bekannt gewordene Geheimnisse „in eigener Sache“ vorbringen muss, um seine Honorarforderung gegen den Mandanten durchzusetzen oder sich in einem Strafverfahren zu verteidigen oder behauptete Schadenersatzansprüche abzuwehren, auch auf Ärzte zu. § 54 Abs 2 Z 4 ÄrzteG bestimmt, dass die ärztliche Verschwiegenheitspflicht nicht besteht, wenn die Offenbarung des Geheimnisses nach Art und Inhalt zum Schutz höherer Interessen der öffentlichen Gesundheitspflege oder der Rechtspflege unbedingt erforderlich ist. Daraus ist nicht abzuleiten, dass das Vorliegen höherer Interessen nicht auch in anderen Bereichen eine Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht rechtfertigen kann (Stellamor/Steiner, Handbuch des österreichischen Arztrechts I 172).
Die Ansicht, dass bei einem Arzt nach umfassender Abwägung seiner Interessen gegen die davon berührten Geheimhaltungsinteressen eines Patienten die Wahrnehmung seiner Interessen „in eigener Sache“ eine Durchbrechung des Geheimnisschutzes rechtfertigen kann, wird auch im Schrifttum vertreten (Stellamor/Steiner aaO, 176 mwN; Wehinger, Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit Verschwiegenheit in sozialen Berufen2 52 f; Klaus, Ärztliche Schweigepflicht 143 ff). Letzterer hat sich eingehend insbesondere auch mit der Verteidigung des Arztes gegen „Kunstfehlervorwürfe“ auseinandergesetzt. Er meint, in solchen Fällen stehe dem Geheimhaltungsinteresse des Patienten nicht nur ein „einfaches vermögensrechtliches Interesse“ des Arztes, sondern mitunter die Infragestellung seiner Existenz (man bedenke die Möglichkeit eines befristeten Berufsverbots) gegenüber. Schon aus diesem Grund werde man davon ausgehen können, dass das Interesse des Arztes, sich gegen „Kunstfehlervorwürfe“ zu verteidigen, das Geheimhaltungsinteresse des Patienten überwiege. Auch unter dem Gesichtspunkt des Art 6 MRK dürfe ein Arzt einem Kunstfehlervorwurf nicht schutzlos ausgeliefert werden. Dem ist beizupflichten; der Ansicht, ein Arzt dürfe ‑ ähnlich wie ein Rechtsanwalt - „in eigener Sache“ Berufsgeheimnisse im unbedingt notwendigen Ausmaß preisgeben, ist beizutreten.
Dem widerspricht auch der Kläger in der Revision an sich nicht. Er macht vielmehr zum einen geltend, dass ein Nebenintervenient, der ‑ wie hier der Beklagte ‑ im betreffenden Verfahren nicht unmittelbar haftbar gemacht werde, nicht „in eigener Sache“ tätig werde. Der Beklagte sei als (bloßer) Nebenintervenient deshalb im Verfahren gegen Dr. S***** an seine ärztliche Schweigepflicht gebunden. Im Übrigen sei die Ansicht, Dr. S***** könnte, falls er gegen den Kläger unterliege, Regressansprüche gegen den Beklagten geltend machen, nicht haltbar; der vom Genannten angekündigte Regress sei von vorne herein aussichtslos. Zum anderen wendet der Revisionswerber ein, die Krankenkartei enthalte auch Diagnosen einzelner Ordinationen, die mit dem Bruch seines Mittelfußknochens nichts zu tun hätten und auch nicht das Restless‑legs‑Syndrom beträfen. Insofern sei es nicht gerechtfertigt gewesen, die gesamte Kartei vorzulegen.
Diese Einwände sind nicht berechtigt:
Der Beitritt als Nebenintervenient setzt nach § 17 Abs 1 ZPO ein konkretes rechtliches Interesse am Ausgang des betreffenden Verfahrens voraus. Ein solches rechtliches Interesse hat auch, wer als Regresspflichtiger von einer Verfahrenspartei in Anspruch genommen werden könnte (Fucik in Rechberger 3 § 17 Rz 3 mwN). Ein Nebenintervenient, der etwa durch Vorlage einer Urkunde einen bestimmten Prozessausgang herbeiführen will, um einer Regresspflicht zu entgehen, handelt ebenso „in eigener Sache“ wie wenn er dies als Prozesspartei gemacht hätte. Die Ansicht des Berufungsgerichts, den Beklagten habe als Nebenintervenient „in eigener Sache“ im erwähnten Sinn keine Verschwiegenheitspflicht getroffen, ist daher zu billigen.
Der weitere, die Berechtigung der Nebenintervention des Beklagten verneinende, Einwand des Klägers, der Beklagte habe im vorliegenden Fall tatsächlich gar keine Regressansprüche zu befürchten, übersieht die nach den festgestellten Umständen hier naheliegende Möglichkeit einer Solidarhaftung nach § 1302 ABGB. Dr. S***** hat bei der Streitverkündigung die Ansicht vertreten, falls der Vorwurf, er habe es aufgrund einer falschen Diagnose verabsäumt, den Kläger in ein Krankenhaus einzuweisen, zutreffe, müsse dies auch für den Beklagen gelten, der den Kläger ebenfalls untersucht habe; der Beklage hätte daher im Fall des Obsiegens des Klägers zumindest für einen Teil des Schadens einzustehen. Dies ist nicht von der Hand zu weisen.
Was ein Arzt zur Abwehr behaupteter Ansprüche vorbringen darf, kann, wie der Revisionswerber zutreffend ausführt, nicht von seinem Gutdünken, sondern muss von objektiven Kriterien abhängen. Kein Zweifel kann auch daran bestehen, dass sich die Angaben des Arztes bei einer Durchbrechung seiner Verschwiegenheitspflicht zur Wahrung seiner Verteidigungsrechte in einem Zivil‑, Disziplinar‑ oder Strafverfahren stets auf das Notwendigste zu beschränken haben (§ 54 Abs 2 Z 4 ÄrzteG: „unbedingt erforderlich“; vgl Wehinger aaO mwN). Was und wie viel der Arzt zur Wahrung seiner Interessen preisgeben darf, wird daher von den Umständen des Einzelfalls abhängen. Die Ansicht des Revisionswerbers, im vorliegenden Fall sei der Beklagte unter objektiven Gesichtspunkten nicht berechtigt gewesen, seine Krankenkartei ab dem Jahr 2001 vollständig vorzulegen, kann nicht geteilt werden. Zu bedenken ist, dass der Kläger wegen neurologischer Probleme in den Beinen beim Beklagten als Hausarzt (nach dessen Angaben bereits jahrelang) in Behandlung war. Alle diese Probleme betreffenden Eintragungen in der Krankenkartei konnten zur Gewinnung eines allenfalls eine Fehldiagnose rechtfertigenden Gesamtbilds geeignet sein. Ein von den Vorinstanzen über diesbezüglichen Einwand des Klägers erörtertes Vorgehen, einzelne, nicht die Thematik der Verletzung des Vorfußes betreffende Eintragungen unkenntlich zu machen (zu „schwärzen“), ist deshalb problematisch, weil der Kläger befürchten musste, sich dadurch dem Vorwurf auszusetzen, durch Weglassen bestimmter, seinem Prozessstandpunkt abträglicher Eintragungen versucht zu haben, das Gesamtbild zu seinen (bzw seines Kollegen Dr. S*****) Gunsten zu verändern. Im vorliegenden Einzelfall konnte der Beklagte daher doch in Kauf nehmen, auch das „Kunstfehlerthema“ nicht berührende Eintragungen der Vollständigkeit halber mit vorzulegen, um sich durch eine lückenlose Darstellung der Krankengeschichte gegen den Vorwurf eines schuldhaften Fehlverhaltens zu verteidigen. Als Beispiele für die in der Krankenkartei enthaltenen, einen Regressanspruch nicht tangierenden Eintragungen nennt der Kläger „teilweise ganz banale Erkrankungen“ und einen „Schnupfen“; das Vorhandensein ‑ wohl anders zu behandelnder ‑ für ihn etwa peinlicher Eintragungen oder dergleichen behauptet er nicht. Dass der Beklagte für das Verfahren objektiv nicht relevante Befunde vorgelegt hätte, wird vom Revisionswerber ebenfalls nicht behauptet.
Die Ansicht der Vorinstanzen, der Beklagte habe weder durch sein Vorbringen als Nebenintervenient noch durch die Vorlage von Urkunden, insbesondere auch nicht durch die Vorlage der vollständigen Krankenkartei, seine ärztliche Verschwiegenheitspflicht verletzt, ist demnach frei von Rechtsirrtum. Die Revision muss daher erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41 und 50 ZPO.
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