OGH 7Ob179/16y

OGH7Ob179/16y9.11.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj M* B*, geboren am * 2001, derzeit *, über den Revisionsrekurs des Landes Wien als Kinder‑ und Jugendhilfeträger gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 24. Mai 2016, GZ 45 R 270/16p‑27, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 23. März 2016, GZ 2 Ps 101/12w‑18, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E116536

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichts wird aufgehoben und diesem die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

 

Begründung:

Die mj M* ist österreichische Staatsbürgerin. Die Ehe ihrer Eltern wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 1. 8. 2012 einvernehmlich geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich haben die Eltern die Obsorge beider Teile sowie den hauptsächlichen Aufenthalt ihrer Kinder bei der Mutter vereinbart.

Der Kinder- und Jugendhilfeträger (fortan: KJHT) beantragte mit dem beim Erstgericht am 7. 1. 2016 per Telefax und am 12. 1. 2016 im Original eingebrachten Schriftsatz in Verbindung mit seinem Vorgehen nach § 211 ABGB und gestützt auf § 181 ABGB, ihn mit der Obsorge für die mj M* zu betrauen. Er führte dazu aus, dass sich die Minderjährige am 11. 12. 2015 entschieden habe, das Krisenzentrum aufzusuchen, weil die Wohnsituation für sie zu Hause untragbar geworden sei. Die Minderjährige wünsche, dass die volle Erziehung an den KJHT übertragen werde und sie in eine institutionelle Einrichtung übersiedeln könne.

Das Erstgericht übertrug die Obsorge für die mj M* im Bereich der Pflege und Erziehung dem KJHT. Es führte zusammengefasst aus, dass die Minderjährige zu Hause keine Freiheiten und von ihren Eltern Gewalt erlebt habe. Die Eltern wollten ihr den Umgang mit ihrer besten Freundin verbieten. Nach einem früheren Krisenaufenthalt sei bereits versucht worden, eine gemeinsame Lösung für ein harmonisches Miteinander zu finden. Diese Bemühungen seien jedoch gescheitert, weshalb die Minderjährige am 11. 12. 2015 erneut das Krisenzentrum aufgesucht habe.

Das Rekursgericht gab den Rekursen beider Elternteile Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass es den Antrag des KJHT auf Obsorgeübertragung zurückwies. Es war der Rechtsansicht, dass der KJHT im Fall seines Vorgehens nach § 211 Abs 1 ABGB die Entscheidung des Pflegschaftsgerichts unverzüglich, jedenfalls aber innerhalb von acht Tagen zu beantragen habe. Diese Frist werde nur durch das rechtzeitige Einlangen des Antrags bei Gericht gewahrt. Nach dem Vorbringen des KJHT habe dieser die Maßnahme am 11. 12. 2015 gesetzt, weil die Minderjährige an diesem Tag im Krisenzentrum aufgenommen worden sei. Der Obsorgeantrag sei erst mit dem am 7. 1. 2016 per Telefax beim Erstgericht eingelangten Schriftsatz gestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei die achttägige Frist des § 211 Abs 1 ABGB bereits abgelaufen gewesen. In diesem Fall trete die vom KJHT vorläufig getroffene Maßnahme außer Kraft und dieser habe den vorigen Zustand wiederherzustellen. Das Gesetz schweige darüber, was die Fristversäumnis sonst bewirke. Nach Ansicht des Rekursgerichts führe die Versäumung der Frist des § 211 Abs 1 ABGB dazu, dass der Obsorgeantrag des KJHT zurückzuweisen sei. Demnach seien die Rechtsmittel beider Elternteile, die erkennbar wieder die Obsorge anstrebten, im Ergebnis berechtigt.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil höchstgerichtliche Judikatur zu den Folgen der Versäumung der achttägigen Frist des § 211 Abs 1 ABGB fehle und der Lösung dieser Frage über den Einzelfall hinaus Bedeutung zukomme.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtete sich der als Revisionsrekurs zu behandelnde Schriftsatz des KJHT mit dem erschließbaren Antrag auf Abänderung im Sinn der Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses. Der KJHT macht im Wesentlichen geltend, dass die Eltern am 11. 12. 2015 mit der dem Rechtsmittel angeschlossenen Vereinbarung der Fremdunterbringung im Krisenzentrum zunächst zugestimmt hätten. Nachdem die Eltern in der Folge diese Zustimmung widerrufen hätten, sei anschließend die Obsorgeübertragung fristgerecht beantragt, lediglich die Zustimmungserklärung der Eltern versehentlich nicht angeschlossen worden.

Die Eltern und die Minderjährige erstatteten keine Revisionsrekursbeantwortungen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch im Sinn der Aufhebung der Entscheidung des Rekursgerichts berechtigt.

1. Nach § 211 Abs 1 ABGB hat der KJHT die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der KJHT vorläufig mit der Obsorge betraut. Kathrein verweist (in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 215 ABGB Rz 24) darauf, dass das Pflegschaftsgericht aufgrund des Antrags des KJHT das Verfahren nach den §§ 104 ff AußStrG einzuleiten und über den Antrag zu entscheiden hat.

2. Eine Regelung der Rechtsfolgen, die eine Versäumung der Frist des § 211 Abs 1 ABGB nach sich ziehen soll, ist im Gesetz nicht (ausdrücklich) erfolgt. In der Lehre wird (teils noch zur wortgleichen Vorgängerbestimmung [§ 215 ABGB aF] und unter Hinweis auf die einschlägigen Gesetzesmaterialien) durchwegs die Ansicht vertreten, dass die Versäumung der Antragsfrist das automatische Außerkrafttreten der rechtlichen Wirksamkeit der Maßnahme mit Fristablauf und die Verpflichtung des KJHT bewirkt, die Maßnahme auch faktisch wieder rückgängig zu machen (J. Fischer, Offene Fragen zu § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB, ÖA 1994, 89 [90 f]; Stabentheiner in Rummel 3 § 215 ABGB Rz 5; Weitzenböck in Schwimann/Kodek 4 § 211 ABGB Rz 2; Cohen/Tschugguel in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 211 Rz 2; Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 215 ABGB Rz 20). Weitzenböck folgt (in Schwimann/Kodek 4 § 211 ABGB FN 9) wie das Rekursgericht der den Landesgerichten Eisenstadt und Salzburg in EFSlg 96.752 zugeschriebenen Ansicht, dass ein verspäteter Antrag des KJHT nicht ab-, sondern zurückzuweisen sei. Dieser Rechtsmeinung ist jedoch nicht zu folgen:

3. Der Grund, warum in § 211 Abs 1 ABGB eine – gemessen an Art 6 Abs 1 BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit BGBl 1988/684 ohnehin zweifelhaft lange – Frist gesetzt wird, ist darin zu erkennen, dass eine vom KJHT ohne gerichtliche Anordnung vorgenommene grundrechtsrelevante Maßnahme einer möglichst raschen gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit zugeführt werden soll. Unterbleibt eine fristgerechte Antragstellung durch den KJHT, dann verliert die von ihm gesetzte Maßnahme mit Fristablauf ihre gesetzliche Legitimität und ist rückgängig zu machen. Erfolgt die Antragstellung fristgerecht, ist die Maßnahme vorläufig weiter wirksam, aber die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle der Interimsmaßnahme eröffnet und auch den Parteien steht etwa die Möglichkeit einer Antragstellung nach § 107a Abs 1 AußStrG offen (näher dazu Höllwerth, Die neue Prüfung der Interimskompetenz des Kinder- und Jugendhilfeträgers, ÖJZ 2015/52 [390 ff]). Diese Rechtslage dient allerdings nur der Beurteilung, ob die vom KJHT aus eigenem gesetzte vorläufige Maßnahme bis zur endgültigen Klärung eines aufrechten Obsorgeübertragungsantrags aufrecht bleiben soll.

4. Hat dagegen der KJHT, sei es innerhalb der Frist des § 211 Abs 1 ABGB, sei es nach Fristablauf oder überhaupt ohne Wahrnehmung seiner Interimskompetenz einen Antrag auf Übertragung der Obsorge gestellt, dann bleibt es diesem unbenommen, einen solchen Antrag zurückzuziehen, wenn dafür nach seiner Einschätzung keine (ausreichenden) Gründe mehr vorliegen. Ein aufrechter Obsorgeantrag des KJHT ist aber vom Pflegschaftsgericht – unabhängig von der Einhaltung der allein die Interimskompetenz begrenzenden Frist des § 211 Abs 1 ABGB – einer materiellen Prüfung zu unterziehen. Einen Obsorgeübertragungsantrag, den der KJHT in einer von ihm (zumindest anfänglich) als Krisenfall erkannten Situation gestellt hat, allein deshalb, weil die Antragstellung nicht innerhalb der Frist des § 211 Abs 1 ABGB erfolgte, ohne inhaltliche Prüfung zurückzuweisen, würde der – im Übrigen sogar amtswegig wahrzunehmenden – Pflicht des Pflegschaftsgerichts zur Wahrung des Kindeswohls diametral widersprechen.

5. Für den vorliegen Fall folgt daraus:

Ob der KJHT den Antrag auf Obsorgeübertragung fristgerecht im Sinn des § 211 Abs 1 ABGB gestellt hat, ist hier nicht zu prüfen, weil die gegebenenfalls aufrechte Interimsmaßnahme nicht Gegenstand der erstgerichtlichen Entscheidung war. Hier ist vielmehr der auf § 181 ABGB beruhende Obsorgeübertragungsantrag des KJHT zu beurteilen, der nicht allein aufgrund einer allfälligen Versäumung der Antragsfrist des § 211 Abs 1 ABGB seine materielle Berechtigung verliert. In Stattgebung des Revisionsrekurses ist daher dem Rekursgericht die inhaltliche Prüfung der von den Eltern gegen den antragsstattgebenden Beschluss des Erstgerichts erhobenen Rekurse aufzutragen.

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