OGH 6Ob76/18x

OGH6Ob76/18x24.5.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj J* K*, geboren am *, und der mj N* K*, geboren am *, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen, vertreten durch die Mutter C* K*, alle *, diese vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Februar 2018, GZ 44 R 38/18s‑50, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 28. November 2017, GZ 7 Pu 129/14b‑42, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 6. Dezember 2017, GZ 7 Pu 129/14b‑44, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E122159

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Mit Unterhaltsvereinbarung vom 31. 5. 2012 hatte sich der Vater zu Unterhaltsleistungen von 700 EUR monatlich je Kind verpflichtet. Dem lag ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von rund 4.900 EUR inklusive anteiliger Sonderzahlungen zugrunde.

Der Vater beantragte, seine Unterhaltspflicht ab 1. 8. 2016 auf 326,75 EUR monatlich für J* und auf 294,07 EUR monatlich für N* herabzusetzen. Sein Dienstverhältnis habe mit 31. 7. 2016 geendet. Er habe keine Abfertigung erhalten und beziehe Arbeitslosengeld von 54,46 EUR täglich.

Die Minderjährigen traten dem Antrag entgegen. Dem Vater sei bereits seit Oktober 2015 bekannt gewesen, dass das Dienstverhältnis enden werde, sodass es ihm schon früher möglich gewesen wäre, einen neuen Arbeitsplatz zu suchen.

Das Erstgericht setzte die Unterhaltspflicht des Vaters ab dem 1. 8. 2016 auf 331 EUR monatlich für J* und auf 298 EUR monatlich für N* herab. Dabei ging es im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Den Vater treffen keine weiteren Sorgepflichten. Sein Dienstverhältnis endete mit 31. 7. 2016 durch Dienstgeberkündigung. Ein Verschulden daran traf ihn nicht. Er erhielt keine Abfertigung. Seither bezieht er Arbeitslosengeld von 1.656,50 EUR monatlich. Bei intensiver persönlicher Arbeitsplatzsuche könnte er mit hoher Wahrscheinlichkeit, allerdings erst nach 18monatiger Arbeitsplatzsuchdauer, somit ab 1. 2. 2018, eine unselbständige Vollzeitbeschäftigung mit einem Nettoeinkommen von rund 2.500 EUR erlangen.

In rechtlicher Sicht ging das Erstgericht davon aus, dass der Unterhaltsanspruch J*s 20 % und jener N*s 18 % betrage. Als Bemessungsgrundlage sei der Arbeitslosengeldbezug des Vaters heranzuziehen.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss hinsichtlich J* zur Gänze und hinsichtlich N* für den Zeitraum 1. 8. 2016 bis 31. 5. 2017, änderte ihn jedoch dahin ab, dass der Unterhalt für N* ab dem 1. 6. 2017 lediglich auf 331 EUR monatlich herabgesetzt wurde.

Nach Verwerfung einer Beweis‑ und Mängelrüge führte es aus, die Feststellungen reichten für eine abschließende rechtliche Beurteilung aus. Die Anspannung dürfe nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern habe die realen Erwerbschancen des Unterhaltspflichtigen auf dem Arbeitsmarkt auszuloten. Die Erwerbstätigkeit des Vaters habe erst mit 31. 7. 2016 geendet, sodass ihm eine zeitintensive und breit angelegte Arbeitsplatzsuche erst ab dem 1. 8. 2016 möglich sei. Es stelle auch kein Verschulden des Vaters dar, dass er im Rahmen des Systems „Abfertigung neu“ keine Auszahlung der bisher angesparten Abfertigungsbeträge beantragte.

Der Rekurs sei jedoch teilweise berechtigt, weil das Erstgericht übersehen habe, dass N* am 9. 5. 2017 das 15. Lebensjahr vollendete und ihr daher ab dem 1. 6. 2017 ebenfalls 20 % der Bemessungsgrundlage als Unterhalt zustünde, woraus sich ein Unterhaltsanspruch von 331 EUR ergebe.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil die Rechtsfrage, ob den Unterhaltsschuldner die Obliegenheit trifft, die Auszahlung der Abfertigung zu beantragen, in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs noch nicht beantwortet wurde.

Rechtliche Beurteilung

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

1.1. Soweit der Revisionsrekurs Feststellungen vermisst, ist den Revisionsrekursausführungen nicht zu entnehmen, um welche konkreten Feststellungen es sich dabei handelt. Zur Beendigung des Dienstverhältnisses hat das Erstgericht festgestellt, dass der Vater von seinem Dienstgeber gekündigt wurde, wobei ihn daran kein Verschulden treffe. Das Rekursgericht hat demgegenüber die Stellungnahme des Arbeitgebers referiert, wonach das Dienstverhältnis einvernehmlich aufgelöst wurde, die Initiative dazu aber vom Dienstgeber ausging, kein Verschulden des Vaters vorliege und eine Weiterbeschäftigung nicht möglich sei. Daher kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Vater sein Dienstverhältnis nicht „freiwillig“ auflöste, sondern, wenn er der einvernehmlichen Lösung nicht zugestimmt hätte, gekündigt worden wäre. Im Übrigen wäre selbst ein Verschulden am Arbeitsplatzverlust rechtlich irrelevant, solange dem Unterhaltsschuldner nicht nachgewiesen werden kann, er hätte es auf den Verlust des Arbeitsplatzes deshalb angelegt gehabt, um seine Unterhaltspflichten nicht erfüllen zu müssen (RIS‑Justiz RS0047503).

1.2. In Anbetracht des Umstands, dass der Vater nach den Feststellungen des Erstgerichts noch bis 31. 7. 2016 „Geschäfte für [Dienstgeber] abwickelte“, ist auch nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanzen davon ausgingen, dass eine Pflicht zur Bemühung um einen neuen Arbeitsplatz erst ab 1. 8. 2016 bestand.

2. Der weiters geltend gemachte Revisionsrekursgrund der „unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung“ ist in § 66 Abs 1 AußStrG nicht vorgesehen. Der Oberste Gerichtshof ist auch im Verfahren außer Streitsachen grundsätzlich nicht Tatsacheninstanz (RIS‑Justiz RS0007236). Die Anfechtung der Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens mittels Revisionsrekurs ist nur soweit möglich, als dabei ein Verstoß gegen zwingende Denkgesetze oder zwingende Gesetze sprachlichen Ausdrucks unterlaufen ist (RIS‑Justiz RS0043404). Derartige Mängel bringt der Revisionsrekurs aber nicht zur Darstellung.

3.1. Grundsätzlich gilt, dass der Unterhaltsschuldner alle Kräfte anzuspannen hat, um seiner Unterhaltsverpflichtung nachkommen zu können. Er muss alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einsetzen; tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS‑Justiz RS0047686). Die Eltern haben daher ihre Leistungskraft unter Berücksichtigung ihrer Ausbildung und ihres Könnens auszuschöpfen (RIS‑Justiz RS0047686 [T4]). Der Verzicht auf die Erzielung eines höheren Einkommens, der nicht durch besondere berücksichtigungswürdige Umstände erzwungen ist, darf nicht zu Lasten eines Unterhaltsberechtigten gehen (RIS‑Justiz RS0047686 [T5]). Der Anspannungsgrundsatz wird daher unter anderem dann verletzt, wenn sich der Unterhaltsschuldner mit einem geringeren Einkommen begnügt als es ihm möglich wäre (RIS‑Justiz RS0047686 [T28]).

3.2. Die im Gesetz vorgesehene Anspannung eines Unterhaltspflichtigen greift immer dann Platz, wenn dem Unterhaltspflichtigen die Erzielung eines höheren als des tatsächlichen Einkommens zugemutet werden kann (RIS‑Justiz RS0047550). Maßstab für die den Unterhaltspflichtigen treffenden Obliegenheiten ist das Verhalten eines pflichtbewussten Familienvaters (RIS‑Justiz RS0047590 [T4]). Es ist zu prüfen, wie sich ein solcher in der Situation des Unterhaltpflichtigen verhalten würde (RIS‑Justiz RS0047421). Eine Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf aber nur erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden am Einkommensmangel trifft (RIS‑Justiz RS0047495). Leicht fahrlässige Herbeiführung des Einkommensmangels durch Außerachtlassung pflichtgemäßer zumutbarer Einkommensbemühungen genügt dabei (RIS‑Justiz RS0047495 [T2]).

3.3. Der Anspannungsgrundsatz kommt etwa dann zur Anwendung, wenn die Nostrifizierung eines im Ausland absolvierten Studiums (10 Ob 59/14w) oder die Behandlung einer der Berufstätigkeit entgegenstehenden Krankheit (6 Ob 64/07s) unterlassen wird. Gleiches gilt, wenn der Unterhaltspflichtige aus in seiner Sphäre liegenden Gründen unterlässt, einen Antrag auf Gewährung einer öffentlich‑rechtlichen Leistung zu stellen (RIS‑Justiz RS0047385). Dies betrifft etwa die Unterlassung der Arbeitnehmerveranlagung zwecks Lohnsteuerrückvergütung (RIS‑Justiz RS0047385 [T2]), die Nichtbeantragung von Arbeitslosengeld (RIS‑Justiz RS0047385 [T4]) oder die Unterlassung eines Antrags auf Berufsunfähigkeitspension (RIS‑Justiz RS0047385 [T5]).

3.4. Je umfangreicher die Sorgepflichten sind, desto strengere Anforderungen sind an die Anspannung des Unterhaltspflichtigen zu stellen (RIS‑Justiz RS0047568).

4.1. Nach dem System „Abfertigung neu“ besteht bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses grundsätzlich eine Wahlmöglichkeit zwischen der Auszahlung der bisher angesparten Abfertigung als Kapitalbetrag oder der weiteren Veranlagung als Altersvorsorge (§ 17 Abs 1 Betriebliches Mitarbeiter‑ und Selbständigenvorsorgegesetz – BMSVG, BGBl I 2002/100 idF BGBl I 2017/107). Der Anspruch auf Verfügung über die Abfertigung besteht gemäß § 14 Abs 2 BMSVG nur dann nicht, wenn das Arbeitsverhältnis durch Kündigung durch den Anwartschaftsberechtigten, verschuldete Entlassung oder unberechtigten vorzeitigen Austritt beendet wurde oder nicht mindestens 36 Beitragsmonate in einer oder mehreren Betriebsvorsorgekassen vorliegen.

4.2. Nach der bisherigen zweitinstanzlichen Judikatur ist die Unterlassung eines Antrags auf Auszahlung der bisher angesparten Abfertigung als Kapitalbetrag dem Unterhaltspflichtigen nicht als Verschulden zurechenbar und rechtfertigt keine Anspannung (LGZ Wien 44 R 239/16x). Nach der Entscheidung 15 R 349/08m des Landesgerichts Linz sind nur tatsächlich zugeflossene Abfertigungen zu berücksichtigen (EFSlg 119.204).

4.3. Im Verfahren 10 Ob 60/16w konnte der Oberste Gerichtshof die Antwort auf diese Frage offenlassen, weil nach dem dortigen Sachverhalt keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass der Unterhaltspflichtige tatsächlich über seinen Abfertigungsanspruch im Sinne einer Auszahlungsmöglichkeit verfügen konnte. Demgegenüber ist im vorliegenden Fall nicht strittig, dass sich der Vater die Abfertigung nach § 17 Abs 1 BMSVG auszahlen lassen könnte.

4.4. Nach Neuhauser (in Schwimann/Kodek, ABGB4 Ia§ 231 Rz 253) muss bei der „Abfertigung neu“ vermieden werden, dass der Unterhaltspflichtige das Begehren auf Auszahlung der Abfertigung unterlasse, um deren Einbeziehung in die Unterhaltsbemessungsbasis zu verhindern. Demgegenüber sei aber auch das Interesse des Unterhaltspflichtigen an einer angemessenen Pensionsvorsorge zu berücksichtigen. Entscheidend seien die Umstände des Einzelfalls und das Verhalten eines rechtstreuen Familienvaters. In einem beweglichen System werde vom Unterhaltspflichtigen zu fordern sein, dass je niedriger (unter dem Durchschnittsbedarf) der laufende Unterhaltsanspruch liege, desto eher die Auszahlung der Abfertigung zu verlangen sei und das Interesse an einer zusätzlichen Pensionsvorsorge in den Hintergrund zu treten habe. Auch in einer intakten Familie werde ein vorhandener Anspruch auf Abfertigung von einem Elternteil dann realisiert werden, wenn es gelte, der Familie eine finanzielle Notlage zu ersparen. Andererseits werde ein bereits überdurchschnittlich alimentiertes Kind vom Unterhaltspflichtigen nicht verlangen können, dass die Abfertigung ausbezahlt werde, damit es einen Unterhaltsanspruch nahe der Luxusgrenze erreiche. Sei der Unterhaltspflichtige nicht bereit, sich die Abfertigung auszahlen zu lassen, obwohl er dazu verpflichtet sei, werde der Unterhaltsbemessungsgrundlage über einen angemessenen Zeitraum jener Betrag zuzurechnen sein, den der Unterhaltspflichtige bei Auszahlung der Abfertigung erhalten hätte. An anderer Stelle (aaO § 231 Rz 341) präzisiert Neuhauser seine Auffassung dahin, dass eine Ausschüttung vom Unterhaltspflichtigen vor allem dann zu wählen sei, wenn sonst nur deutlich unterdurchschnittliche Unterhaltsbeträge zufließen würden, weil auch in intakten Familien in dieser Situation keine Veranlagung verfügbarer Mittel um den Preis drastischer aktueller Bedürfniseinschränkungen erfolgen würde.

4.5. Nach Gitschthaler (Unterhaltsrecht3 Rz 241 Anm 2) ist an eine Verpflichtung zur Auszahlung unter anspannungsrechtlichen Grundsätzen nur dann zu denken, wenn der Unterhaltspflichtige aus seinen Einkünften angemessenen Unterhalt nicht leisten könne.

4.6. Im vorliegenden Fall liegt der zugesprochene Unterhaltsbetrag mit 311 EUR um mehr als 100 EUR unter dem aktuellen Regelbedarf für Kinder in der hier relevanten Altersgruppe von 446 EUR (bis 30. 6. 2017) bzw 454 EUR (vgl Zak 2017/486). Andererseits muss bei der Abwägung, ob das Interesse des Vaters an einer Pensionsvorsorge oder das Interesse der Kinder an einer höheren Unterhaltsbemessungsgrundlage überwiegt, auch berücksichtigt werden, dass die Auszahlung der Abfertigung als Kapitalsbetrag mit pauschal 6 % Einkommenssteuer belastet wird (§ 67 Abs 3 EStG), während die Auszahlung als Zusatzpension nach Erreichen des Pensionsalters steuerfrei ist (§ 25 Abs 1 Z 2 lit a sublit cc EStG). Zur Inkaufnahme dieses steuerlichen Nachteils durch den Unterhaltsschuldner wird man ein deutliches Überwiegen der Interessen des Unterhaltsberechtigten verlangen müssen. Im Rahmen der hier vorzunehmenden Interessenabwägung wäre dies dem unterhaltspflichtigen Elternteil nur zumutbar, wenn es – im Sinne der im vorigen zitierten Ausführungen Neuhausers– darum ginge, der Familie eine finanzielle Notlage zu ersparen. Davon kann aber bei einer voraussichtlich nur vorübergehenden Arbeitslosigkeit und einer Unterschreitung des Regelbedarfs von weniger als 25 % keine Rede sein.

5. Damit erweist sich die Entscheidung des Rekursgerichts aber als frei von Rechtsirrtum, sodass dem unbegründeten Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen war.

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