Spruch:
Im Falle der notwendigen Streitgenossenschaft ist jeder Streitgenosse allein zur Einbringung einer Wiederaufnahmsklage legitimiert. Wird der Wiederaufnahmsklage stattgegeben, sind sodann die anderen Streitgenossen im wiederaufgenommenen Hauptprozeß wieder als Partei beteiligt
Nicht jedes Vergessen von Tatsachen und Beweismitteln kann einer Partei als Verschulden im Sinne des § 530 Abs. 2 ZPO angelastet werden
Für die Berechtigung der auf § 530 Abs. 1 Z. 7 ZPO gestützten Wiederaufnahmsklage genügt es, daß die neuen Tatsachen und Beweise geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung im Hauptprozeß herbeizuführen
OGH 16. Dezember 1981, 6 Ob 741/81 (LGZ Graz 4 R 176/80)
Text
Die Wiederaufnahmsbeklagte ist seit 1951 als Rechtsnachfolgerin ihres im Jahre 1961 verstorbenen Vaters Josef A Eigentümerin der Liegenschaft EZ 79 KG P mit dem Haus P Nr. 61. Der Wiederaufnahmskläger und sein Sohn Dr. Otto K sind je zur Hälfte Eigentümer der Liegenschaft EZ 350 KG P mit dem Wohnhaus P Nr. 60.
In der am 27. September 1977 beim Bezirksgericht Deutschlandsberg gegen den nunmehrigen Wiederaufnahmskläger und Dr. Otto K eingebrachten Klage behauptete die nunmehrige Wiederaufnahmsbeklagte, sie und ihre Rechtsvorgänger seien seit unvordenklichen Zeiten, jedenfalls seit mehr als 30 Jahren, im Bewußtsein der Ausübung eines Rechtes, ohne darum zu fragen oder etwas dafür zu leisten, "zu auf der Ostseite des Hauses Nr. 61 gelegenen Zugängen, wie einem im Südosten gelegenen Stiegenaufgang, einem im Südosten gelegenen derzeitigen Kohlenkeller, einem dort gelegenen Abstellplatz, einer südöstlich gelegenen Jauchengrube", in der Weise gelangt, daß sie von der Hauptstraße in P in der nordwestlichen Ecke der Liegenschaft EZ 350 KG P in einer Breite von rund 3.30 m und in einer Länge von 23 m in nordsüdlicher Richtung gegangen und mit Fahrzeugen aller Art gefahren seien. Hiebei seien Fahrzeuge im südlichen Bereich des Grundstückstreifens in dem dort gelegenen Hof gewendet worden, sodaß sich der beschriebene Weg in seinem südwestlichen Teil auf 7 m verbreitert habe. Die nunmehrige Wiederaufnahmsbeklagte begehrte die Feststellung des Bestandes der Dienstbarkeit des Fahrens, Gehens und des Abstellens von Land- und Wirtschaftsfahrzeugen gegenüber den jeweiligen Eigentümern des Grundstücks 48/1 der EZ 350 KG P sowie die Zustimmung zur Einverleibung der begehrten Dienstbarkeit des Fahrens, Gehens und des Abstellens von Land- und Wirtschaftsfuhrwerken auf dem genannten Grundstück. Während Dr. Otto K bereits in der ersten mündlichen Streitverhandlung das Klagebegehren anerkannte, bestritt es der nunmehrige Wiederaufnahmskläger Dr. Leopold K.
Das Bezirksgericht Deutschlandsberg wies mit Urteil vom 7. März 1978 das Klagebegehren auf Feststellung der Dienstbarkeit ab. Es nahm zwar als erwiesen an, daß Josef A und seine Rechtsvorgänger seit 1908 ihr Brennmaterial, Wein, Obst u. dgl. über den Hof des Grundstücks 48/1 der EZ 350 KG P eingebracht und auch die Fäkaliengrube vom Hof aus entleert hätten, kam jedoch zu dem Schluß, die Klägerin und ihr Rechtsvorgänger Josef A hätten den Hof nur bittweise benützt. Die Tatsache der Benützung des Hofraumes zum Fahren war im erstinstanzlichen Verfahren unbestritten. Strittig war nur, ob dieses Fahren in Ausübung eines Rechtes oder bittweise erfolgte.
Mit Urteil vom 29. November 1978 gab das Landesgericht für ZRS Graz als Berufungsgericht der Berufung der damals klagenden Partei teilweise Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß der damaligen Klägerin und ihren Rechtsnachfolgern die Dienstbarkeit des Fahrens mit Land- und Wirtschaftsfuhrwerken über diese 23 m lange Strecke zusteht. Die Beklagten wurden schuldig erkannt zu erklären, daß sie in die Einverleibung der begehrten Dienstbarkeit einwilligen. Das Mehrbegehren der Klägerin auf Feststellung und Einverleibung der Dienstbarkeit des Gehens wurde abgewiesen. Das Berufungsurteil wurde von der Klägerin und vom Erstbeklagten Dr. Otto K nicht bekämpft. Der Revision des Zweitbeklagten Dr. Leopold K wurde vom OGH nicht Folge gegeben.
In der nunmehr nur vom Zweitbeklagten des Hauptverfahrens, Dr. Leopold K, am 9. November 1979 erhobenen Wiederaufnahmsklage nach § 530 Abs. 1 Z. 7 ZPO behauptet der damals 87 jährige Wiederaufnahmskläger, ihm sei durch ein ihm von den Ehegatten B am 10. Oktober 1979 gezeigtes Foto wieder in Erinnerung gekommen, daß im hinteren Hofteil bis 1957 eine mit einem 14 cm über das Bodenniveau hinausreichenden Betonkranz versehene und mit Schwarteln schlecht überdeckte Mistgrube (5 m lang und 2.5 m breit) bestanden habe. Daraus ergebe sich, daß bis 1957 ein Befahren des hinteren Hofteiles (also eines Teiles der 23 m) überhaupt unmöglich gewesen sei. Infolge seines hohen Alters habe er sich im Vorprozeß an diesen Umstand nicht mehr erinnern können. Dies könne ihm nicht als Verschulden angerechnet werden. Daraus ergebe sich die objektive Unrichtigkeit der Aussagen der Zeugen, die ein Befahren des Hofteiles, in dem sich die Mistgrube befunden habe, durch Josef A vor dem Jahre 1957 bekundet hätten.
Die Wiederaufnahmsbeklagte bestritt die Klagsbehauptungen und brachte vor, daß wohl bis 1957 im hinteren Teil des Hofes eine Mistgrube vorhanden gewesen sei. Diese sei jedoch gut abgedeckt und nicht erhöht gewesen, sodaß Land- und Wirtschaftsfahrzeuge ohne weitere Behinderung über die Mistgrube hätten fahren können.
Mit Beschluß des OGH vom 9. April 1980, 6 Ob 530/80, wurde ausgesprochen, daß zur Verhandlung und Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage das Berufungsgericht zuständig ist.
Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil bewilligte das Berufungsgericht die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens 4 R 341/78 hob das Urteil vom 29. November 1978, 4 R 341/78-33, sowie das Urteil des OGH vom 25. April 1979, 6 Ob 563/79-45, auf. Es vertrat die Auffassung, der Wiederaufnahmskläger sei zur Klage legitimiert, obgleich er nur zur Hälfte Eigentümer der Liegenschaft sei und der andere Hälfteeigentümer, Dr. Otto K, sich am Wiederaufnahmsverfahren nicht beteiligt habe. Es liege zwar nach der Beschaffenheit des streitigen Rechtsverhältnisses eine einheitliche Streitgenossenschaft vor, doch könne eine Wiederaufnahmsklage auch nur von einem der Streitgenossen erhoben werden. Führe die Klage zum Erfolg, dann trete auch das Verfahren gegen Dr. Otto K wieder in den Stand des Verfahrens über die Berufung gegen das Ersturteil zurück.
In der Sache selbst stellte das Berufungsgericht folgenden Sachverhalt fest: Bis zum Jahre 1957 befand sich im Hof des Wohn- und Geschäftshauses P 60 im Bereich der durch die Servitut belasteten Fläche eine Mistgrube, von der allerdings keine Spuren mehr zu sehen sind. An diese Mistgrube hatte sich der Wiederaufnahmskläger, der zur Zeit des Vorprozesses 86 Jahre alt war, während des Verfahrens nicht mehr erinnert. Am 10. Oktober 1979 fand Hans B nach einem Rohrbruch im Haus P Nr. 60 eine stark beschädigte Fotografie. Diese Fotografie stellt den Abbruch der seinerzeitigen Mistgrube und im Hintergrund die Tür zum Keller des Hauses P 61 dar. Hans B und seine Gattin Herta B zeigten dieses Foto sofort dem Wiederaufnahmskläger und seiner Gattin. Sie machten ihn darauf aufmerksam, daß im hinteren Teil des Hofes bis 1957 eine Mistgrube gewesen war. Dr. Leopold K erinnerte sich nunmehr wieder an diese Mistgrube.
Rechtlich vertrat das Berufungsgericht die Auffassung, die Wiederaufnahmsklage sei innerhalb der Notfrist des § 534 Abs. 1 ZPO eingebracht worden. Da das Vorhandensein dieser Mistgrube unter Umständen ein Hindernis für das Befahren eines Teiles der 23 m langen Strecke mit Land- und Wirtschaftsfahrzeugen und damit für den Erwerb eines diese Strecke umfassenden Fahrrechtes sein könne, liege ein Wiederaufnahmsgrund nach § 530 Abs. 1 Z. 7 ZPO vor. Im Hinblick auf das hohe Alter des Wiederaufnahmsklägers sei das Vergessen einer von ihm wahrgenommenen Tatsache als Wiederaufnahmsgrund zu werten. Die Kenntnis der neuen Tatsache (Bestehen der Mistgrube im Hinterteil des Hofes bis 1957) könne möglicherweise zu einem für den Wiederaufnahmskläger günstigeren Ergebnis im Hauptprozeß führen. Es sei für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Aussage der Zeugen und Parteien, die im erstinstanzlichen Verfahren und im Berufungsverfahren ein Befahren des Hofes, sei es bittweise, sei es in Ausübung eines Rechtes, vor dem Jahr 1957 bekundet hätten, wesentlich, zu prüfen, ob ein solches Befahren überhaupt möglich oder allenfalls durch das Vorhandensein der Mistgrube und des Betonkranzes um diese Grube unmöglich gewesen sei.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Wiederaufnahmsbeklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Vorerst ist zu prüfen, ob die Wiederaufnahmsklage von nur einem der Beklagten des Hauptprozesses erhoben werden konnte. Dies ist zu bejahen. Wohl liegt im vorliegenden Fall auf Seite der Eigentümer der durch die zuerkannte Servitut belasteten Liegenschaft eine unzertrennliche Streitgenossenschaft im Sinn des § 14 ZPO vor. Grundsätzlich können sie daher im Rechtsstreit über das Bestehen oder Nichtbestehen dieser Servitut nur gemeinsam geklagt werden. Die Klage im Hauptprozeß wurde daher auch sowohl gegen den nunmehrigen Kläger als auch gegen den Miteigentümer Dr. Otto K eingebracht. Ebenso wie im Falle der unzertrennlichen Streitgenossenschaft jeder Streitgenosse sogar gegen den Willen des anderen Rechtsmittel ergreifen kann, muß auch im Falle einer Wiederaufnahmsklage einem der Streitgenossen allein das Recht zur Klagsführung mit dem Ziel, eine günstigere Entscheidung im Hauptprozeß zu erreichen, zugestanden werden. Im Falle der Stattgebung der Wiederaufnahmsklage sind sodann die anderen Streitgenossen im wiederaufgenommenen Hauptprozeß wieder als Partei beteiligt (Fasching II, 200, IV, 474 und 497).
Die Beklagte meint, die Wiederaufnahmsklage sei deshalb nicht berechtigt, weil während einer Prozeßführung vergessene Umstände und Tatsachen nicht geeignet seien, einen Wiederaufnahmsgrund darzustellen. Dem kann in dieser allgemeinen Form nicht beigepflichtet werden. Gemäß § 530 Abs. 2 ZPO ist die Wiederaufnahme nur dann zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außerstande war, die neuen Tatsachen oder Beweismittel vor Schluß der mündlichen Verhandlung, auf welche die Entscheidung erster Instanz erging, geltend zu machen. Es ist nun richtig, daß das Vergessen einer Tatsache, die von einer Partei für so bedeutsam gehalten wird, daß sie darauf eine Wiederaufnahmsklage stützt, in der Regel auf die Unterlassung der nach § 1297 ABGB vermuteten Aufmerksamkeit zurückzuführen sein wird (EvBl. 1958/27; Arb. 8562 u. a.). Nicht jedes Vergessen kann aber als Verschulden gewertet werden. Es kommt auch hier auf die Umstände des Einzelfalles an (EvBl. 1967/439). So kann etwa eine krankhafte Beeinträchtigung der Merkfähigkeit unter Umständen ein prozessuales Verschulden nach § 530 Abs. 2 ZPO ausschließen (EvBl. 1958/27). Beachtet man, daß der Wiederaufnahmskläger im Zeitpunkt des Hauptprozesses bereits 86 Jahre alt war, dann kann es ihm nicht zum Verschulden zugerechnet werden, daß er sich an die nur bis 1957 vorhanden gewesene Mistgrube erst erinnerte, als ihm am 10. Oktober 1979 von Hans B und dessen Gattin die Fotografie gezeigt wurde, welche den Abbruch der Mistgrube festhält. Immerhin waren zwischen dem Abbruch der Mistgrube und dem Termin des Vorprozesses 20 Jahre verstrichen, sodaß in Anbetracht des überaus hohen Alters des Wiederaufnahmsklägers nicht gesagt werden kann, er habe es an der erforderlichen Sorgfalt bei der Vertretung seiner Interessen im Hauptprozeß fehlen lassen.
Die Beklagte meint schließlich, die aufgefundenen Fotografien seien nicht geeignet, eine für den Kläger günstigere Entscheidung im Hauptprozeß herbeizuführen. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Aussagen der Zeugen im Hauptprozeß, wonach das Zufahren zum Keller des Hauses der Beklagten möglich gewesen sei. Dem Foto komme auch keinerlei Beweiskraft in der Richtung zu, ob das Befahren dieses Hofabschnittes möglich gewesen sei. Dem ist folgendes zu entgegnen: Es ist in Lehre und Rechtsprechung anerkannt, daß sich die neuen Tatsachen oder Beweismittel, auf die das Wiederaufnahmsbegehren im Sinne des § 530 Abs. 1 Z. 7 ZPO gestützt wird, nicht unmittelbar auf die rechtliche Beurteilung auswirken müssen, sondern daß es genügt, wenn sie geeignet sind, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung herbeizuführen (Fasching IV, 514; EvBl. 1961/26; JBl. 1979, 268 u.a.). Sie müssen aber so wichtig sein, daß ihre Berücksichtigung zu einer anderen Entscheidung des Hauptprozesses führen könnte (EvBl. 1961/26 u. a.). Im Wiederaufnahmsverfahren sind daher die neuen Tatsachen und Beweismittel nicht nur im Hinblick auf ihre abstrakte Eignung, eine Änderung der im Hauptprozeß erflossenen Entscheidung herbeizuführen, zu prüfen, sondern es muß eine eingeschränkte Beweiswürdigung dahin erfolgen, ob die Nichtberücksichtigung dieser Tatsachen und Beweismittel im Vorprozeß einen Verstoß gegen die Findung der materiellen Wahrheit und die Vollständigkeit der Urteilsgrundlage darstellt (Fasching IV, 551 und in JBl. 1956, 250 f.; SZ 32/33; SZ 38/215 u. a., zuletzt etwa 8 Ob 181/81).
Das Berufungsgericht hat auf Grund seiner beschränkten Beweiswürdigung im dargestellten Sinne dem vom Kläger geführten neuen Beweismittel die Eignung zugesprochen, eine für ihn günstigere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen. Da im Revisionsverfahren die Beweiswürdigung der Vorinstanzen nicht bekämpft werden kann, ist diese durch das Berufungsgericht erfolgte Beurteilung der Eignung des im Sinne des § 530 Abs. 1 Z. 7 ZPO vom Wiederaufnahmskläger geltend gemachten neuen Beweismittels, eine ihm günstigere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen, der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof entzogen (8 Ob 181/81; 1 Ob 538/81).
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