Spruch:
Keiner der beiden Revisionen wird stattgegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin an Kosten des Revisionsverfahrens die mit 12.983,40 S bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten an Umsatzsteuer 2.163,90 S), die Klägerin hingegen ist schuldig, der beklagten Partei an Kosten des Revisionsverfahrens die mit 3.087 S bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin enthalten an Umsatzsteuer 514,50 S) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 22.November 1971 geborene Klägerin wurde am 27. Dezember 1982 zur Vornahme eines nach längerer Beobachtung als angezeigt erachteten pfannenbildenden Eingriffes nach Chiari in die orthopädische Universitätsklinik der öffentlichen Krankenanstalt aufgenommen, deren Träger das beklagte Bundesland ist. Am 29. Dezember 1982 führte ein Oberarzt dieses Krankenhauses an der damals 11 Jahre alten Patientin eine Beckenosteotomie nach Chiari (rechts) aus. Bei diesem Eingriff wurden durch den Operationsmeißel im Operationsbereich verlaufende Nerven geschädigt. Die Arbeit des Operationsmeißels am Beckenknochen wurde zwar im Rönten beobachtet. Eine Nervendurchtrennung wäre aber dabei nicht erkennbar gewesen. Für die von Prof.Chiari entwickelte Methode ist die Schädigung der im Eingriffsbereich verlaufenden Nerven ein typisches Risiko. Zu dessen Beherrschung ist der Einsatz von 15 bis 20 mm breiten, von Prof.Chiari entwickelten und nach ihm benannten Spateln üblich, um die gefährdeten Nervenstränge vor unbeabsichtigten Einwirkungen abzudecken. Zu einer solchen schützenden Abdeckung gefährdeter Nervenstränge ist die Verwendung von Chiari-Spateln "grundsätzlich günstiger" als die Anwendung der sogenannten Hohmann-Hebel. Bei dem an der Klägerin vorgenommenen Eingriff verwendete der Operateur einen breiteren Hohmann-Hebel. Diese zum Schutz gefährdeter Nerven gedachte Maßnahme verhinderte nicht, daß durch den Operationsmeißel alle im Operationsbereich verlaufenden Nerven geschädigt wurden.
Auf diese Schädigung gaben erstmals die am 29.Dezember 1982 festgestellten Symptome einer verminderten Berührungsempfindlichkeit und eine verminderte Flexion der Zehen Hinweise. Am 4.Januar 1983 ergab eine neurologische Untersuchung die Beurteilung:
Peronaeusläsion rechts. An der Klägerin wurde eine Strombehandlung des Fußes begonnen. Am 10.Januar 1983 setzte auch eine medikamentöse Behandlung ein. Bei einer ambulanten Untersuchung am 8.Februar 1983, zu der die Klägerin unter Verwendung von zwei Stützkrücken erschienen war, wurde keine Veränderung der Peronaeusläsion festgestellt. Zu einer ambulanten Untersuchung am 17.Oktober 1983 erschien die Klägerin mit Peronaeusschiene und einer Stützkrücke. Es wurde "die Osteotomie als durchgebaut" festgestellt (aber trotz intensiver Stromtherapie und physikalischer Therapie keine Besserung der Peronaeusläsion). Bei der am 27.Januar 1984 durchgeführten abmulanten Untersuchung zeigte sich keine wesentliche Besserung der Parese. Eine elektromyographische Untersuchung vom 13.März 1984 ergab deutliche Zeichen eines chronisch-neurogenen Umbaues des großen mittleren Gesäßmuskels. Nach der am 10.Juli 1984 stationär erfolgten Metallentfernung (die Osteotomiestelle war bei der Operation mittels Kirschner-Draht und Spongiosaschraube fixiert worden) wurde die Patientin in ambulante Weiterbehandlung entlassen. Damals mußte sie die negativen Folgen des an ihr vorgenommenen pfannenbildenden Eingriffes nach Chiari noch nicht erkennen. Ziel des am 29.Dezember 1982 an der damals 11 Jahre alten, seit ihren ersten Lebensmonaten wegen beiderseitiger Hüftgelenksluxation in Behandlung und Beobachtung gestandenen Klägerin war die Behebung oder doch wesentliche Besserung der optisch auffälligen Gangstörung. Bei einem Operationserfolg wäre für den Bereich der rechten Hüfte ein Zustand zu erreichen gewesen, wie er im Bereich der linken Hüfte durch konservative Behandlung erzielt werden konnte. Bei unterbliebener oder gelungener Operation hätte die Klägerin ohne Stützkrücke und ohne Schiene gehen können, jeder mit einer übermäßigen Beanspruchung der Hüfte verbundenen Sportausübung hätte sich die Klägerin wegen der Gefahr arthrotischer Überbeanspruchung enthalten müssen. Ohne Eingriff wäre das Hüftgelenk instabil geblieben und es wäre damit zu rechnen gewesen, daß sich nach mehreren Jahren und Jahrzehnten erhebliche Gelenksschmerzen eingestellt hätten. Die Klägerin hätte zwar in ihrem derzeitigen Lebensalter weitestgehend normal gehen können, im Laufe der Jahre würden sich aber eine Verkürzung des Beines, eine zunehmende Instabilität des Hüftgelenkes und ein verstärktes Hüfthinken eingestellt haben.
Infolge der Nervenschädigungen, in Ansehung derer innerhalb des ersten halben Jahres nach der Operation eine Revisionsoperation, wie sie Prof.Dr.Hanno M*** bereits erfolgreich durchgeführt hat, nicht ohne Erfolgsaussichten gewesen wäre, stellten sich eine erhebliche Atrophie und vegetative Störungen des rechten Beines und der rechten Hüfte ein.
Der Zustand der Klägerin seit ihrer Mobilisierung nach der Operation ist durch folgende Tatsachen gekennzeichnet: Die Klägerin ist ohne Stock unsicher. Sie verspürt schon nach kurzzeitiger Belastung Schmerzen und benützt aus diesem Grund eine Krücke. Sie kann schwimmen, aber nicht mehr wie vor der Operation radfahren oder eislaufen. Sie ist auch in ihrer sonstigen Freizeitgestaltung beschränkt, so kann sie etwa an Diskothekenbesuchen ihrer gleichaltrigen Bekannten nicht teilnehmen. Das bewirkt bei der Klägerin eine leichte Reizbarkeit und Depression. Sie wird nur einen sitzend ausübbaren Beruf ergreifen können.
Mit der am 23.Mai 1986 angebrachten Klage begehrte die Klägerin ein Schmerzengeld von 300.000 S, eine Verunstaltungsentschädigung von 80.000 S sowie den Ersatz von Behandlungskosten und Kosten von Krankenbehelfen im Gesamtbetrag von 2.086,15 S. Überdies stellte sie ein Feststellungsbegehren zur Haftung der Beklagten für alle durch die Fehlbehandlung anläßlich der an der Klägerin im Dezember 1982 durchgeführten Operation verursachten zukünftigen Schäden der Klägerin.
Der beklagte Krankenhausträger wendete ausdrücklich Verjährung ein, bestritt dem Grunde nach das Vorliegen eines ärztlichen Kunstfehlers und bekämpfte das Begehren auf Zahlung eines Schmerzengeldes und einer Verunstaltungsentschädigung ausdrücklich auch der Höhe nach.
Das Prozeßgericht erster Instanz gab sowohl dem Leistungs- als auch dem Feststellungsbegehren voll statt.
Das Berufungsgericht bemaß das Schmerzengeld nur mit 250.000 S und bestätigte im übrigen das erstinstanzliche Urteil. Die Vorinstanzen verneinten übereinstimmend den von der beklagten Partei eingewendeten Eintritt der Verjährung. Sie erblickten zum Grund des Anspruches einen haftungsbegründenden Kunstfehler des Operateurs darin, daß dieser zur Verhinderung der als bekannt vorausgesetzten Gefährdung von Nerven durch den vorgesehenen operativen Eingriff nicht das in Fachkreisen geläufige spezifisch dafür entwickelte Gerät (Chiari-Spatel), sondern ein weniger wirksames (Hohmann-Hebel) verwendet habe. Den der Beklagten oblegenen Schuldlosigkeitsbeweis erachteten die Vorinstanzen als nicht erbracht. Beide Vorinstanzen erachteten wegen des nun bei der heranwachsenden Klägerin bestehenden Zustandes eines ausgeprägten Wackelganges eine Verunstaltungsentschädigung in der begehrten Höhe von 80.000 S als angemessen. Das in erster Linie einem Ausgleich der psychischen Beeinträchtigungen dienende Schmerzengeld bestimmte das Prozeßgericht erster Instanz in der angesprochenen Höhe von 300.000 S, das Berufungsgericht hingegen nur im Ausmaß von 250.000 S. Die beklagte Partei ficht das Berufungsurteil in seinem bestätigenden Ausspruch aus den Revisionsgründen nach § 503 Abs 1 Z 2 und 4 ZPO mit einem auf Abweisung des Klagebegehrens zielenden Abänderungsantrag und einem hilfsweise gestellten Aufhebungsantrag an.
Rechtliche Beurteilung
Die Klägerin bekämpft das Berufungsurteil in dessen abänderndem Teil aus dem Revisionsgrund nach § 503 Abs 1 Z 4 ZPO mit einem auf Wiederherstellung des erstinstanzlichen vollen Zuspruches des begehrten Schmerzengeldes zielenden Abänderungsantrag. Die Parteien streben die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung in dem jeweils von der Prozeßgegnerin bekämpften Umfang an.
Keine der beiden Revisionen ist berechtigt:
Die von der beklagten Partei gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Fragen nach der Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit einzelner fachbezogener Maßnahmen oder eines ganzen Systems solcher Vorgangsweisen zur Bewirkung eines bestimmten Erfolges unterliegen zwar einer Wertung nach dem Wissens- und Erfahrungsstand der spezifischen Wissenschaft oder des Berufes. Diese Wertung obliegt dem Sachverständigen als Fachmann. Er hat sie dem Gericht, das auf diese Wertung sein Urteil zu gründen hat, auf dessen Befragen zur Bildung der richterlichen Überzeugung auch nach Tunlichkeit in den tatsächlichen Grundlagen und Ableitungen in nachvollziehbarer Weise darzulegen. Für die richterliche Urteilsbildung bleibt die erwähnte fachliche Wertungsfrage aber dennoch Tatfrage, die Frage nach der Überzeugungskraft der Darlegungen des Sachverständigen Beweisfrage. Die Revisionsausführungen der beklagten Partei zum Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, die das Fehlen einer für den medizinischen Laien nachvollziehbaren Begründung der dem Sachverständigengutachten zugrunde gelegten Wertung im Urteil rügen, stellen ihrem sachlichen Gehalt nicht mehr als eine Beweis- und Tatsachenfeststellungsrüge dar, die keinen Revisionsgrund nach § 503 Abs 1 ZPO zur gehörigen Darstellung zu bringen vermögen. Auf die Grundlage der getroffenen Feststellungen haben die Vorinstanzen entgegen der von der beklagten Partei ausgeführten Rechtsrüge insofern mit Recht das Vorliegen eines für die im Zuge der Operation der Klägerin eingetretenen Nervenschädigungen ursächlichen Kunstfehlers angenommen, als zur gebotenen weitestmöglichen Einschränkung der bekannten Gefahr solcher unbeabsichtigter Nervenschädigungen nicht der in Fachkreisen als wirkungsvollster Schutz angesehene und verwendete, speziell für diese Art von Eingriffen entwickelte Behelf (ChiariSpatel), sondern ein für die gestellte Aufgabe weniger geeignetes Operationsinstrument (Hohmann-Hebel) eingesetzt wurde. Die Übung in dem von der beklagten Partei unterhaltenen Krankenhaus vermöchte daran nichts zu ändern, daß die gewählte Maßnahme hinter dem in Fachkreisen anerkannten Standard der besten Vorsorge vor unbeabsichtigter Schädigung durch eine Nebenwirkung der Operation zurückblieb. Die Patientin hatte aus dem Behandlungsvertrag Anspruch auf Anwendung der nach dem Stand der Wissenschaft zu fordernden sichersten Maßnahmen zur möglichsten Ausschaltung oder Einschränkung bekannter Operationsgefahren. Die Voristanzen sind zutreffend davon ausgegangen, daß die beklagte Parttei, die für die rechtswidrige, verletzungsursächliche Unterlassung ihres Operateurs der Klägerin als Patientin gegenüber einzustehen hat, einen Schuldlosigkeitsbeweis nicht erbracht habe. Die Übung im Krankenhaus, aber auch eine subjektive Überzeugung der dort tätigen Operateure, reichten hiezu nicht hin.
Die Vorinstanzen haben die Haftung der Beklagten dem Grunde nach zutreffend bejaht. Sie haben auch mit Recht eine Verjährung der Schadenersatzansprüche der Klägerin verneint, weil die beklagte Partei nicht zu erweisen vermochte, daß den gesetzlichen Vertretern der Klägerin bereits früher als drei Jahre vor der Klagserhebung die spezifische schadenskausale Unterlassung in ihrer fachlichen Wertung nach dem Operationsstandard in einer für eine aussichtsreiche Anspruchsverfolgung erforderlichen Weise positiv bekannt gewesen wäre.
Die von beiden Prozeßparteien bekämpfte Ausmittelung des Schmerzengeldes in der Höhe von 250.000 S verlangt aus den vom Berufungsgericht dargelegten Gründen der Schwere und Nachhaltigkeit der psychischen Belastung eines im Entwicklungsstadium befindlichen Mädchens einerseits und dem Vergleich mit Fällen der Schmerzengeldbemessung bei völligem Verlust von Gliedmaßen anderseits weder die von der beklagten Partei geforderten Korrektur nach unten noch die von der Klägerin angestrebte Berichtigung nach oben.
Aus diesen Erwägungen war keiner der beiden Revisionen stattzugeben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.
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