European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00216.24V.1211.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Erwachsenenschutzrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Das Erstgericht bestellte Dr. W* zunächst zum Rechtsbeistand im Bestellungsverfahren gemäß § 119 AußStrG und zum einstweiligen Erwachsenenvertreter nach § 120 Abs 1 AußStrG.
[2] Mit Beschluss vom 2. 8. 2024 bestellte dasErstgerichtihn auch zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter für den Betroffenen. Dessen Wirkungsbereich umfasst
• Vertretung vor Justizbehörden, insbesondere im Scheidungsverfahren des Betroffenen
• Vertretung vor Verwaltungsbehörden, insbesondere betreffend Wohnen, Betreuung und Einkommenssicherung
• Vertretung gegenüber Gläubigern
• Vertretung bei Verträgen betreffend Wohnen, zur Erlangung einer Wohnmöglichkeit und gegenüber Unterkunftgebern einschließlich Mietverträgen und Ähnlichem, und
• die Verwaltung von Einkünften einschließlich Verfügungen über Girokonten.
[3] Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Betroffenen und vomRechtsbeistand erhobenen Rekurs nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
[4] Dagegen richtet sich der vom Betroffenen und vom Erwachsenenvertreter erhobene außerordentliche Revisionsrekurs mit dem Antrag, das Verfahren zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters einzustellen; eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[5] 1. Die behaupteten Mangelhaftigkeiten des Verfahrens wurden geprüft, liegen jedoch nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).
[6] 1.1. Der Oberste Gerichtshof ist auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz (RS0007236). Allerdings kann eine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens vorliegen, wenn sich das Rekursgericht mit der Beweisrüge überhaupt nicht oder nur so mangelhaft befasst, dass keine nachvollziehbaren Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt und in der Entscheidung festgehalten sind (vgl RS0043371; RS0043141; RS0043027 [T3]). Die Entscheidung des Rekursgerichts über eine Beweisrüge ist daher mangelfrei, wenn es sich – wie hier – mit dieser überhaupt befasst, die Beweiswürdigung des Erstgerichts überprüft und nachvollziehbare Überlegungen über die Beweiswürdigung anstellt sowie in seiner Entscheidung festhält (vgl RS0043150).
[7] 1.2. Dass sich der Rechtsbeistand, der in der Folge auch zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter bestellt wurde (zur Zulässigkeit Schauer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 119 Rz 23), gegen seine Bestellung zum Erwachsenenvertreter aussprach, kann ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine Interessenkollision begründen, geht der Gesetzgeber doch sogar in dem Fall, dass ein Erwachsenenvertreter selbst die Übertragung der Erwachsenenvertretung beantragt, grundsätzlich davon aus, dass dieser die Interessen des Vertretenen im Übertragungsverfahren wahrnehmen kann (vgl § 128 Abs 2 AußStrG und ErläutRV 1461 BlgNR 25. GP 70).
[8] 2. Gemäß § 271 Z 1 ABGB ist ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter nur zu bestellen, wenn eine volljährige Person bestimmte Angelegenheiten aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst besorgen kann.
[9] 2.1. Die Begriffe der psychischen Krankheit oder vergleichbaren Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit sind Rechtsbegriffe, die nicht unbedingt mit medizinischen Definitionen übereinstimmen müssen. Sie umfassen jede geistige Störung, welche die gehörige Besorgung eigener Angelegenheiten hindert (RS0049003; 1 Ob 142/22x). Voraussetzung ist also, dass die psychische Krankheit oder vergleichbare Beeinträchtigung mit einer Beeinträchtigung der Fähigkeit zur selbstbestimmten Verhaltenssteuerung verbunden ist (4 Ob 215/18y; Stefula in KBB7 § 239 ABGB Rz 4; Pfurtscheller in Schwimann/Neumayr, ABGB‑TaKomm6 § 239 ABGB Rz 5; vgl auch 3 Ob 55/13d; 5 Ob 204/15h). Dazu zählt etwa eine deutlich unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit, wenn damit eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur selbstbestimmten Verhaltenssteuerung verbunden ist (Traar/Pesendorfer/ Lagger‑Zach/Fritz/Barth, Erwachsenenschutzrecht2 § 239 ABGB Rz 6).
[10] 2.2. Die Gefahr eines Nachteils für die betroffene Person liegt vor, wenn ohne Vertretung ein Schaden an Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre oder Vermögen der Person droht, sei es durch die – nicht sachgerechte und deshalb schadensträchtige – Gestion der Person, sei es wegen deren Unfähigkeit, irgendwelche Angelegenheiten zu besorgen (4 Ob 180/23h; Pfurtscheller in Schwimann/Neumayr, ABGB‑TaKomm6 § 271 ABGB Rz 4). Dabei ist konkret zu prüfen, in welchem Zusammenhang sich der Betroffene in einer seinen Interessen objektiv zuwiderlaufenden Weise verhalten hat und/oder aufgrund welcher besonderen Umstände zu befürchten ist, er werde sich auch in Zukunft Schaden zufügen (RS0072687 [T3, T5, T6]; 1 Ob 142/22x; Traar/Pesendorfer/Lagger‑Zach/Fritz/Barth, Erwachsenenschutzrecht2 § 271 ABGB Rz 18). Dies gilt besonders nach der Rechtslage aufgrund des 2. ErwSchG, dessen erklärte Absicht es ist, auch Personen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit die möglichst selbständige Besorgung ihrer Angelegenheiten zu ermöglichen (1 Ob 142/22x).
[11] 2.3. Ob ausreichend Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters vorliegen, ist immer eine individuell zu beurteilende Frage des Einzelfalls (RS0106166 [T12]).
[12] 2.4. Im vorliegenden Fall leidet der Betroffene unter einer (leichtgradigen) Intelligenzminderung (ICD‑10‑F 70) mit einem IQ von unter 60 Punkten. Er ist Analphabet, hat Probleme mit einfachen Rechenaufgaben, versteht komplexe Sachverhalte nicht und weist eine verminderte Wahrnehmung, Auffassungsgabe, Kritikfähigkeit sowie einen verminderten Realitätsbezug auf. Der Betroffene ist daher mit „schriftlichen Angelegenheiten“, insbesondere mit Behördenkontakten überfordert; ebenso mit dem anhängigen Scheidungsverfahren. Er ist aufgrund seiner Intelligenzminderung auch nicht in der Lage, vorausschauend und planend mit Geld umzugehen. Seit 2019 sindnahezu jährlich Exekutionsverfahren gegen den Betroffenen anhängig, weil er trotz ausreichendem Vermögen fällige Schulden nicht bezahlt. Er hat es in der jüngeren Vergangenheit auch nicht geschafft, sich eigenständig eine Wohnmöglichkeit zu organisieren. Einen Wohnplatz im „Psychosozialen Wohnen“ erhält er nicht und wird realistischerweise auch keine „MOWO‑Wohnung“ erhalten.
[13] 2.5. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, für den Betroffenen sei ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter zu bestellen, weil seine Intelligenzminderung die gehörige Besorgung seiner Angelegenheiten hindere, ist angesichts dieser Feststellungen nicht korrekturbedürftig. Soweit der Revisionsrekurs behauptet, es würden Feststellungen zur konkreten Gefahr eines Nachteils fehlen, entfernt er sich vom festgestellten Sachverhalt und ist somit nicht gesetzmäßig ausgeführt (vgl RS0043603 [T17]). Den (auch) festgestellten Alkoholmissbrauch des Betroffenen haben die Vorinstanzen ohnehin nicht als psychische Krankheit oder geistige Behinderung gewertet.
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