European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0060OB00193.18B.1025.000
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.274,30 EUR (darin enthalten 379,05 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
Die beklagte Rechtsanwältin hat die Klägerin in einem Vorprozess vertreten. Während dieses Vorprozesses leistete die dort Beklagte an die Klägerin zwei auf das eingeklagte Kapital gewidmete Teilzahlungen. Das Zinsenbegehren hingegen wurde von der dort Beklagten bestritten. Die jetzt Beklagte als Parteienvertreterin der Klägerin schränkte mit deren Zustimmung daraufhin in der der Teilzahlung jeweils folgenden Streitverhandlung den eingeklagten Kapitalbetrag um den Betrag der jeweiligen Teilzahlung ein. Wäre dies nicht erfolgt, hätte die dortige Beklagte in der jeweiligen Verhandlung ein Teilanerkenntnis über den bezahlten Kapitalteilbetrag abgegeben.
Im jetzigen Verfahren nimmt die Klägerin die Beklagte wegen Schlechtvertretung im Vorprozess auf Schadenersatz in Anspruch. Die Beklagte hätte die Klägerin über die Tilgungsregeln des § 1416 ABGB aufklären müssen. Bei Kenntnis dieser Regeln hätte die Klägerin im Vorprozess der Widmung der Teilzahlungen auf das Kapital durch die dort Beklagte widersprochen. Dann wären entsprechend dieser Bestimmung zuerst die eingeklagten Zinsen und nicht das Kapital getilgt worden. Dadurch hätte die Klägerin höhere Zinsen lukrieren können und wäre sie im Vorverfahren auch kostenmäßig besser ausgestiegen.
Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht meinte, auf strittige Forderungen seien die Tilgungsregeln des § 1416 ABGB jedenfalls dann nicht anzuwenden, wenn über sie ein Rechtsstreit anhängig sei. Der Beklagten sei kein Anwaltsfehler vorzuwerfen.
Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu vorliege, ob die Tilgungsregeln des § 1416 ABGB auf strittige, insbesondere prozessverfangene Forderungen anzuwenden seien.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Klägerin ist unzulässig.
Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).
1. Der Rechtsanwalt haftet grundsätzlich nur für den notwendigen Fleiß und die erforderliche Gesetzeskenntnis (RIS-Justiz RS0026727). Er haftet jedoch nicht für eine unrichtige, aber vertretbare Gesetzesauslegung, auch wenn diese in der Folge vom Gericht nicht geteilt wird; vertretbar ist eine Rechtsmeinung dann, wenn sie in der Rechtsprechung, wobei allerdings höchstgerichtliche Rechtsprechung ausschlaggebend ist, und Lehre bereits geäußert wurde (RIS‑Justiz RS0026727 [T1]).
Eine unzulängliche Rechtsbelehrung macht den sie erteilenden Rechtsanwalt dann nicht schadenersatzpflichtig, wenn sich eine Spruchpraxis zu einer bestimmten Rechtsfrage noch nicht gebildet hat: In diesem Fall kann dem Rechtsanwalt kein Vorwurf gemacht werden, wenn ein von ihm eingenommener, an sich vertretbarer Rechtsstandpunkt in der Folge von der Rechtsprechung nicht geteilt werden sollte (RIS-Justiz RS0023526). Handeln unter Zugrundelegung einer vertretbaren Rechtsansicht ist daher auch bei objektiver Unrichtigkeit an sich keine Verletzung der gebotenen Sorgfalt (RIS-Justiz RS0023526 [T9]). Ein Verschulden liegt bei fehlender Rechtsprechung dann vor, wenn bei pflichtgemäßer Überlegung die vom Anwalt eingehaltene Vorgangsweise nicht mehr als vertretbar bezeichnet werden kann (RIS-Justiz RS0026732). Eine Haftung ist im Fall fehlender Rechtsprechung aber auch dann zu bejahen, wenn das Schrifttum klar gegen die vom Anwalt gewählte Vorgehensweise spricht (6 Ob 116/05k).
Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht eines Rechtsberaters dürfen nicht überspannt werden; es können von ihm nur der Fleiß und die Kenntnisse verlangt werden, die seine Fachgenossen gewöhnlich haben (RIS-Justiz RS0026584). Ob ein Rechtsanwalt im Einzelfall die gebotene Sorgfalt eingehalten hat, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls geprüft werden und stellt regelmäßig keine Frage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RIS‑Justiz RS0026584 [T21]).
2. Zu der vom Berufungsgericht für die Zulassung der Revision gestellten Rechtsfrage gibt es folgende höchstgerichtliche Rechtsprechung und Lehre:
2.1. Rechtsprechung:
In der Entscheidung 2 Ob 735/54 = EvBl 1955/129 sprach der Oberste Gerichtshof unter Berufung auf Ehrenzweig aus, es sei anerkannt, dass bei der Anrechnung gemäß § 1416 ABGB bestrittene Verbindlichkeiten nicht in Betracht kämen.
In der Entscheidung 1 Ob 667/80 SZ 54/34 (RIS‑Justiz RS0033269) setzte sich der Oberste Gerichtshof mit mehreren, zum Teil sehr alten (unter Punkt 2.2. zitierten) Lehrmeinungen zu dieser Frage auseinander. Schließlich meinte er obiter, die Bestimmungen der §§ 1415, 1416 ABGB könnten wohl auch nicht dahin verstanden werden, dass sie bei einer laufenden Geschäftsverbindung und Strittigkeit einer Schuldpost dem Gläubiger die Möglichkeit einräumen wollten, durch Nichtannahme später fällig gewordener und weder dem Grunde noch der Höhe nach strittiger weiterer Forderungen das Prozesskostenrisiko in unangemessener Weise auf den Vertragspartner zu überwälzen.
2.2. Lehre:
Die Lehre ist geteilt:
Unger, Über Obligationenrecht, GrünhutsZ XV (1888) 531, Ofner, GrünhutsZ XVIII (1891) 177 und Ehrenzweig, System II/12 (1928) 319 FN 7 vertreten den Standpunkt, dass bestrittene Forderungen bei Anwendung des § 1416 ABGB nicht in Betracht kommen.
Hasenöhrl, Das Österreichische Obligationenrecht II2 (1899) 398 FN 20, Gschnitzer in Klang VI2 (1951) 385, Reischauer in Rummel, ABGB3 (2002) § 1416 Rz 18, Heidinger in Schwimann/Kodek, ABGB4 (2016) § 1416 FN 13 und Stabentheiner in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 (2017) § 1416 Rz 14, vertreten die gegenteilige Ansicht, nämlich dass es für die Anwendung des § 1416 ABGB nicht darauf ankomme, ob Forderungen bestritten seien. Teilweise wird dafür als Begründung angegeben, es wäre sonst dem Schuldner leicht, durch mutwilliges Bestreiten die Regeln des § 1416 ABGB zu umgehen.
Zur – hier vorliegenden – Sondersituation, dass die strittigen Forderungen auch prozessverfangen sind, liegen – soweit ersichtlich – keine Stellungnahmen im Schrifttum vor.
2.3. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die spärliche oberstgerichtliche Rechtsprechung die Vorgangsweise der Beklagten im Vorprozess, ihre Mandantin nicht über die Tilgungsregeln des § 1416 ABGB aufzuklären, (zumindest eher) deckt, weil danach bei strittigen Forderungen § 1416 ABGB nicht gilt. Dies muss angesichts der in SZ 54/34 ansatzweise aufgezeigten prozessualen Probleme (Kostenfolgen) umso mehr für prozessverfangene strittige Forderungen gelten. In der Lehre ist die Frage strittig.
3. Legt man bei diesem Befund die unter Punkt 1. dargestellten Grundsätze der anwaltlichen Sorgfaltspflicht auf das Verhalten der Beklagten im Vorprozess an, so ist die Ansicht des Berufungsgerichts, der Beklagten falle mit der Unterlassung der Aufklärung über die Tilgungsregeln des § 1416 ABGB kein Anwaltsfehler zur Last, durchaus vertretbar und jedenfalls keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung. Eine Beantwortung der vom Berufungsgericht gestellten Rechtsfrage ist daher nicht nötig.
4. Auch die Revision zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf. Ihre Behauptung, es existiere keine höchstgerichtliche Rechtsprechung, die Lehre sei einhellig der Meinung, die Strittigkeit von Forderungen habe auf die Verrechnung von Zahlungen nach § 1416 ABGB keinen Einfluss, wurde unter Punkt 2. widerlegt. Rechtshistorische Überlegungen (hier zum römischen und preußischen Recht), wie sie in der Revision angestellt werden, überspannen in der Regel den Sorgfaltsmaßstab eines Rechtsanwalts. Soweit die Revisionswerberin schließlich Argumente für die Auffassung, § 1416 ABGB sei auch auf strittige Forderungen anzuwenden, vorbringt, so kommt es auf deren Richtigkeit nicht an. Entscheidend ist nur, ob das Verhalten der Beklagten im Vorprozess dem anwaltlichen Sorgfaltsmaßstab genügt hat, was das Berufungsgericht – wie ausgeführt – vertretbar bejaht hat.
5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
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