OGH 6Ob118/03a

OGH6Ob118/03a10.7.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber, Dr. Prückner, Dr. Schenk und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 13. Februar 1996 geborenen Alexandra Anna und des am 7. Mai 1998 geborenen Karl Andreas G*****, beide ***** wegen Gewährung von Unterhaltsvorschüssen, über den Revisionsrekurs der Kinder, vertreten durch ihre Mutter Anna Luise C*****, ohne Beschäftigung, ***** diese vertreten durch Dr. Walter Kreissl & Mag. Karl Pichler, Rechtsanwälte in Liezen, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Leoben als Rekursgericht vom 31. März 2003, GZ 3 R 64/03y und 3 R 65/03w-34, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichtes Schladming vom 5. Februar 2003, GZ 1 P 25/02y-23, und 1 P 25/02y-24, abgeändert wurden, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die am 13. 2. 1996 geborene Alexandra und der am 7. 5. 1998 geborene Karl sind wie ihre eheliche Mutter schwedische Staatsangehörige. Die Ehe der Eltern wurde mit Urteil des Familiengerichtes in Famagusta (Zypern) vom 7. 2. 2001 geschieden. Obsorgeberechtigt ist die Mutter. Sie hält sich nach eigenen Angaben seit 2. 11. 2001 mit den Kindern in Österreich auf. Einer versicherungspflichtigen Tätigkeit geht die Mutter nicht nach.

Am 3. 6. 2002 forderte die Mutter vom Vater monatlichen Unterhalt für die Kinder. Das Aufforderungsschreiben konnte an der aus dem Scheidungsurteil und der Vereinbarung über die Obsorge bekannten Adresse des Vaters in Zypern nicht zugestellt werden. Am 31. 1. 2003 stellte die Mutter den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 4 Z 2 UVG. Sie und die Kinder seien in Österreich in der Krankenversicherung anspruchsberechtigt. Außerdem bestünde für sie und die Kinder ein "sozialversicherungspflichtiges Versicherungsverhältnis", sofern sie "länger" in Schweden wohnhaft wären. Das Vorschussbegehren werde auf die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 gestützt. Es widerspreche dem Diskriminierungsverbot, wenn Leistungen nach dem UVG nicht sämtlichen Unionsbürgern unter den gleichen Bedingungen offen stünden.

Das Erstgericht gewährte Unterhaltsvorschüsse nach § 4 Z 2 UVG für die Zeit zwischen 1. 1. 2003 bis 31. 12. 2005. Angesichts ihrer Anspruchsberechtigung in der gesetzlichen Krankenversicherung in Österreich seien die Kinder vom persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr 1408/71 erfasst und hätten Anspruch auf Leistungen nach dem UVG.

Das Rekursgericht wies den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ab. Für die Anspruchsberechtigung sei maßgeblich, ob die Kinder in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr 1408/71 fielen. Dies sei nicht der Fall. Die angeführte Verordnung gelte für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates seien oder als staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedsstaates wohnten, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Die Kinder selbst seien nicht Arbeitnehmer oder Selbständige im Sinn dieser Bestimmung, auch ihre Mutter gehe in Österreich keiner versicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Wenngleich die Kinder im selben Haushalt wie der Lebensgefährte der Mutter lebten, seien sie nicht als dessen Familienmitglieder anzusehen. Auch aus ihrer "Mitversicherung" beim Lebensgefährten ergebe sich keine Anwendung der Verordnung. Das bloß hypothetische Bestehen eines Versicherungsverhältnisses in Schweden sei nicht geeignet, einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen zu begründen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Frage, ob auch eine "Mitversicherung" beim Lebensgefährten eines Elternteils die Familienangehörigeneigenschaft des Art 2 Abs 1 der Verordnung Nr 1408/71 begründe, Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Kinder ist zulässig und im Sinn des darin enthaltenen Aufhebungsantrages auch berechtigt.

Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. In seiner Entscheidung vom 15. 3. 2001, C-85/99 - Offermanns (Slg 2001, I-2261, 2285; vgl ecolex 2001, 797) qualifizierte der EuGH Leistungen nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz als Familienleitung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Wanderarbeitnehmerverordnung). Er sprach aus, dass die im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnenden Personen, für die diese Verordnung gelte, nach deren Art 3 unter denselben Voraussetzungen wie (österreichische) Inländer Anspruch auf eine solche im Rechte des Mitgliedsstaats vorgesehene Leistung haben.

Im vorliegenden Fall ist daher ausschlaggebend, ob die Anspruchswerber vom persönlichen Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung umfasst sind. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fallen (Art 2 Abs 1) Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedsstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedsstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen unter Bedachtnahme auf die Begünstigung der Kinder nach der Wanderarbeitnehmerverordnung setzt daher voraus, dass sie Familienangehörige eines im EWR tätigen oder arbeitslosen Arbeitnehmers oder Selbständigen sind und sich dieser als solcher innerhalb des EWR aufhält (EuGH C-55/99 - Anna Humer; ÖA 2001, 314; RZ 2002/41; RIS-Justiz RS0115509). Zu den Familienangehörigen zählt Art 1 lit f der Verordnung (EWG) 1408/71 jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet ist; wird nach diesen Rechtsvorschriften eine Person nur dann als Familienangehöriger oder Haushaltsangehöriger angesehen, wenn sie mit dem Arbeitnehmer oder dem Selbständigen (oder dem Studierenden) in häuslicher Gemeinschaft lebt, so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von diesem bestritten wird. Der persönliche Geltungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung erstreckt sich also auf alle jene Personen, die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates, dessen Familienleistung in Anspruch genommen wird, als Familienangehörige eines der in Art 2 Abs 1 der Verordnung näher bezeichneten Arbeitnehmers (Selbständigen oder Studenten) anerkannt sind. Entscheidend ist daher, ob die Anspruchswerber nach den österreichischen Rechtsvorschriften als Familienangehörige des Lebensgefährten der Mutter gelten.

Nach den Feststellungen der Vorinstanzen sind die Kinder seit 19. 8. 2002 in der Krankenversicherung des Lebensgefährten der Mutter anspruchsberechtigt. Nach § 123 Abs 1 ASVG (gleichlautend mit § 83 Abs 1 GSVG) besteht Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung für Angehörige. Nach § 123 Abs 2 Z 6 ASVG (§ 83 Abs 2 Z 6 GSVG) gelten als Angehörige auch Pflegekinder, sofern sie vom Versicherten unentgeltlich verpflegt werden oder das Pflegeverhältnis auf einer behördlichen Bewilligung beruht.

Sollten diese Voraussetzungen auf die im Haushalt des Lebensgefährten der Mutter lebenden Kinder zutreffen - Feststellungen dazu fehlen - wären sie als seine Angehörigen anzusehen und damit als Familienangehörige eines Arbeitnehmers vom Geltungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung umfasst. Die begehrten Unterhaltsvorschüsse stünden ihnen daher schon aus diesem Grund und unabhängig davon zu, ob auch die Mutter als Arbeitnehmerin anzusehen ist.

Die Feststellungen der Vorinstanzen reichen zur Beurteilung dieser hier entscheidungswesentlichen Frage nicht aus, sodass sich die Aufhebung und Zurückverweisung an das Erstgericht als erforderlich erweist. Das Erstgericht wird zu prüfen haben, ob das in § 123 Abs 2 Z 6 ASVG näher umschriebene Pflegeverhältnis zwischen den Anspruchswerbern und dem Lebensgefährten ihrer Mutter besteht und Grundlage für die Anspruchsberechtigung der Kinder in der gesetzlichen Krankenversicherung ist.

Dem Revisionsrekurs der Kinder wird daher Folge gegeben, die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

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