European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00112.20V.1022.000
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
Der Kläger unterzog sich am 5. 3. 2018 einer medizinisch indizierten arthroskopischen Operation am linken Kniegelenk durch den beklagten Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, der die Operation lege artis durchführte und einen dem heutigen Standard gemäßen umfassenden Operationsbericht verfasste.
Nach der Operation war der Zustand des Klägers, der zuvor wochen- und monatelang an anhaltenden wechselnden Kniegelenksschmerzen gelitten hatte, zunächst noch besser als vor der Operation, nach der Nahtentfernung traten aber wieder Schmerzen auf. Eine MRT-Untersuchung vom 15. 6. 2018 zeigte eine Osteonekrose im linken Knie, konkret ein Absterben des Knochens unterhalb des Knorpels, die schicksalhaft aufgetreten war und nicht auf einer fehlerhaften Operationsdurchführung durch den Beklagten beruhte.
Die Vorinstanzen wiesen das auf den Titel des Schadenersatzes gestützte Leistungs- und Feststellungsbegehren des Klägers ab; die Operation sei lege artis durchgeführt worden, der Beklagte habe auch keine Dokumentationspflichten verletzt. Das Berufungsgericht sprach darüber hinaus aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteigt und dass die ordentliche Revision nicht zulässig ist. Soweit sich der Kläger in der Berufung auf eine nicht ordnungsgemäße Aufklärung durch den Beklagten über die Häufigkeit der Komplikation einer Osteonekrose im Zusammenhang mit arthroskopischen Eingriffen stütze, sei ihm entgegen zu halten, dass er sich im Verfahren erster Instanz nicht auf einen Aufklärungsfehler gestützt und auch kein darauf abzielendes Vorbringen erstattet habe.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.
1. Der Kläger hat sich im Verfahren erster Instanz zunächst ausschließlich darauf berufen, der Beklagte habe einen Behandlungsfehler anlässlich der Operation zu verantworten und außerdem seine Dokumentationspflichten verletzt, indem er eine tatsächlich durchgeführte Knorpelglättung nicht festgehalten habe. Beides wurde von den Vorinstanzen verneint und ist auch nicht mehr Gegenstand des Revisionsverfahrens.
Der vom Erstgericht beigezogene Sachverständige für Unfallchirurgie und Sportmedizin hielt in seinem schriftlichen Gutachten ON 18 unter anderem fest:
Aus gutachterlicher Sicht ist es bei[m] Kläger schicksalshaft zum Auftreten eines focalen osteochondralen Defekts gekommen. Diese Komplikation ist bei arthroskopischen Operationen bekannt und gefürchtet. Es wird darauf auch im Aufklärungsbogen hingewiesen.
In seinem Antrag auf mündliche Erörterung des Sachverständigengutachtens führte der Kläger unter ausdrücklichem Hinweis auf dessen Konstatierungen aus,
wenn die diesbezügliche Möglichkeit des Eintretens einer solchen Komplikation seitens der Ärzte bekannt und gefürchtet ist, stell[e] sich die Frage, inwieweit der lapidare Hinweis im Aufklärungsbogen dahin, dass „bestehende oder während der Spiegelung auftretende Verletzungen, Knorpeldefekte oder Brüche unter Umständen zur Entstehung oder Verschlimmerung einer Arthrose führen können“, ausreicht, um den Patienten auf die diesbezügliche Möglichkeit dergestalt hinzuweisen, dass er ein mögliches Operationsrisiko überdenkt. Dies insbesondere, wenn nunmehr seitens der klagenden Partei [richtig: des Beklagten] dahingehend argumentiert [werde], dass bereits vor der Operation ein höhergradiger Knorpelschaden [...] vorgelegen sei. Es [sei] nämlich bemerkenswert, dass im Aufklärungsbogen [...] in der Rubrik, in der der aufklärende Arzt besonders patientenindividuelle Punkte anführen hätte können, diesbezüglich keine Hinweise gegeben sind.
Anlässlich der mündlichen Gutachtenserörterung ON 25 hielt der Sachverständige zu dieser Frage ausdrücklich fest,
er [sei] im Wesentlichen gefragt [worden], ob diese Osteonekrose oder das jetzige Zustandsbild des Klägers durch Ungeschicklichkeit des Operateurs entstanden ist, ob [diesem] sozusagen ein handwerklicher Fehler vorgeworfen werden kann. Man [könne] – wie man es auch dreht und wendet – hier einen handwerklichen Fehler nicht feststellen. Die Frage [des Klägers habe] aber jetzt im Wesentlichen eigentlich schon wieder ganz andere Grundlagen. Es geh[e] hier um die Aufklärung, [die aber] nicht Gegenstand des Gutachtens [gewesen sei].
Auf Frage der Erstrichterin zum Aufklärungsbogen führte der Sachverständige unter anderem weiter aus:
Erstens, der Aufklärungsbogen ist üblich [...] Bei einem arthroskopischen Eingriff zu einer Meniskussanierung ist es im Allgemeinen nicht üblich, speziell die Möglichkeit einer Osteonekrose zu erwähnen, präoperativ. Die Komplikation der Osteonekrose im Zusammenhang [mit] arthroskopischen Eingriffen war noch vor 20 Jahren eigentlich unbekannt und ist seitdem zunehmend in den Fokus des Interesses gerückt, weil sie auch eine eben schwerwiegende Komplikation ist. Studien gehen davon aus, dass erstens das Risiko einer Osteonekrose häufiger ist bei älteren Patienten, dass das Risiko häufiger ist bei vorbestehenden Knorpelschäden, bei Achsenabweichungen, und dass das Risiko höher ist, wenn thermische Instrumente verwendet werden; in einem derartigen Krankengut wird eine Häufigkeit von bis zu 20 % beschrieben. Beim Kläger war allenfalls beachtenswert, dass er ein mäßiges überlastungsbedingtes Knochenmarksödem gehabt hat und dass er doch übergewichtig gewesen ist. Eine signifikante Risikoerhöhung [sei] daraus nicht ab[zu]leiten.
2. Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehlendes Parteivorbringen nicht durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens ersetzt werden kann (RS0037780 [T13]; 10 Ob 49/11w) und dass selbst nach Durchführung eines Beweisverfahrens vorliegende Beweisergebnisse weder fehlendes Klagsvorbringen ersetzen noch unzureichendes Vorbringen konkretisieren können (RS0043157 [T5]; vgl RS0037552). Richtig ist auch, dass nach der Entscheidung 8 Ob 173/68 Fragen an den Sachverständigen Prozessbehauptungen nicht ersetzen können.
Allerdings ist im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen, dass in der vom Kläger gestellten Frage auch die Tatsachenbehauptung enthalten war, dass der „lapidare Hinweis“ im Aufklärungsbogen dahin, dass „bestehende oder während der Spiegelung auftretende Verletzungen, Knorpeldefekte oder Brüche unter Umständen zur Entstehung oder Verschlimmerung einer Arthrose führen können“, nicht ausreicht, um den Patienten auf die diesbezügliche Möglichkeit dergestalt hinzuweisen, dass er ein mögliches Operationsrisiko überdenkt. Der Kläger stützte sich somit – wenn auch erst ausgelöst durch die Äußerungen des Sachverständigen – nunmehr auch auf einen Aufklärungsfehler des Beklagten, den er außerdem dahin weiter ausführte, dass bei ihm tatsächlich bereits vor der Operation ein höhergradiger Knorpelschaden vorgelegen sein soll und dieser im Aufklärungsbogen in der Rubrik, in der der aufklärende Arzt besonders patientenindividuelle Punkte anführen hätte können, nicht angeführt sei.
Dass auch die Erstrichterin die Ausführungen des Klägers in diesem Sinn verstanden hat, zeigt der Umstand, dass sie anlässlich der mündlichen Gutachtenserörterung selbst Fragen an den Sachverständigen zum Thema Aufklärung bezüglich Osteonekrose stellte und zu dieser Frage in ihrem Urteil auch Stellung nahm, worauf der Kläger in seiner außerordentlichen Revision auch ausdrücklich hinweist. Indem das Berufungsgericht bei dieser Aktenlage annahm, der Kläger habe sich im Verfahren erster Instanz nicht auf einen Aufklärungsfehler gestützt und auch kein darauf abzielendes Vorbringen erstattet, verletzte es seine Verpflichtungen nach §§ 182, 182a ZPO, was der Kläger in seiner außerordentlichen Revision – gerade noch ausreichend – auch rügt. So darf das Berufungsgericht beispielsweise nicht (erstmals) annehmen, ein (erstinstanzliches) Vorbringen sei unsubstanziiert und unverständlich, ohne zuvor diese Frage zur Erörterung gestellt zu haben (vgl Rassi in Fasching/Konecny II/3³ [2015] §§ 182, 182a ZPO Rz 98 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung), welcher Grundsatz auch in der vorliegenden Konstellation zur Anwendung zu kommen hat.
3.1. Die Vorinstanzen sind auf Tatsachenebene (bloß) davon ausgegangen, dass die Osteonekrose beim Kläger schicksalshaft aufgetreten und dass auf diese Komplikation im Aufklärungsbogen hingewiesen worden sei; im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht noch aus, der Kläger sei vor der Operation über mögliche Risiken und Folgen aufgeklärt worden, darunter auch das Risiko der Nekrose. Dem lag offensichtlich die Äußerung des Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Gutachtenserörterung zugrunde, „die Möglichkeit der Ausbildung eines Knochenmarksödems und das Absterben von Knochenknorpeln im Zusammenhang mit der Operation [sei] definitiv [im] Aufklärungsbogen auf [dessen] Seite drei unten angeführt“. Tatsächlich heißt es dort:
Infektionen und Störungen der Gewebe-, Knochen-, Knorpel- und Wundheilung
[...]
Ein Knochenmarködem kann sich vor allem bei über 40‑jährigen Patienten bilden und zu lang anhaltenden, starken Gelenkschmerzen führen. Gelegentlich kommt es zu einem Absterben von Knochen- oder Knorpelgewebe (Knochennekrose) [...]
3.2. Die Vorinstanzen haben dabei zum einen übersehen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine Rechtsfrage darstellt, in welchem Umfang im konkreten Fall der Arzt den Patienten aufklären muss (RS0026763) und ob er das ausreichend getan hat. Und zum anderen wurde außer Acht gelassen, dass der Sachverständige selbst darauf hingewiesen hat, dass er den Aussagen (der in erster Instanz vernommenen Parteien und Zeugen) keine Hinweise darauf entnehmen könne, dass über die Möglichkeit des Knochenmarksödems im Rahmen der Aufklärung gesprochen worden wäre. Des Weiteren wies der Sachverständige darauf hin, dass jedenfalls bei einem bestimmten „Krankengut“, zu dem möglicherweise auch der Kläger gehören könnte, das Auftreten dieser Komplikation mit einer Häufigkeit von 20 % beschrieben wird.
Sollte aber der Kläger tatsächlich zu diesem gefährdeten „Krankengut“ gehört haben, was das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren mit den Parteien zu erörtern und wozu es konkrete Feststellungen zu treffen haben wird, könnte nicht so ohne Weiteres angenommen werden, dass beim Auftreten der genannten Komplikationen mit einer Häufigkeit von 20 % (!) der schriftliche und nicht weiter mit dem Kläger erörterte Hinweis, dass es sich dabei um eine gelegentliche (!) Komplikation handeln würde, eine insoweit ausreichende Aufklärung dargestellt hätte.
3.3. Sollte sich tatsächlich im weiteren Verfahrensverlauf eine Aufklärungspflichtverletzung ergeben, wird das Erstgericht auch zu erörtern und festzustellen haben, ob sich der Kläger auch in Kenntnis dieser Komplikation hätte operieren lassen.
4. Damit waren aber die Entscheidungen der Vorinstanzen auszuheben und dem Erstgericht eine neuerliche nach Verfahrensergänzung zu fällende Entscheidung aufzutragen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.
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