Spruch:
Der Ausdruck "Stücke" im § 1440 ABGB. betrifft auch vertretbare Sachen. "Listig und eigenmächtig entzogen" sind auch veruntreute Sachen. Anwendbarkeit des § 1440 ABGB. im Falle der Verwandlung eines Herausgabeanspruches in einen Schadenersatzanspruch auf Geld.
Entscheidung vom 11. Mai 1960, 5 Ob 140/60.
I. Instanz: Kreisgericht Wels; II. Instanz: Oberlandesgericht Linz.
Text
Der Kläger wurde mit dem in Rechtskraft erwachsenen Urteil des Kreisgerichtes Wels vom 13. Jänner 1955 des Verbrechens der Veruntreuung nach § 183 StG. schuldig erkannt. Im Urteil ist festgestellt, er aber in der Zeit vom 12. Februar 1950 bis November 1951 in A. als inkassoberechtigter und mit der Geldgebarung betrauter Vorstandsobmann der beklagten Genossenschaft ihm anvertrautes Gut, nämlich 88.164 S 40 g, vorenthalten und sich zugeeignet. Die beklagte Partei wurde als Privatbeteiligte mit ihren Ersatzansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen, den sie aber bisher nicht beschritten hat. Der Kläger begehrt die Feststellung, die Ansprüche der beklagten Partei seien infolge Aufrechnung erloschen. Er behauptet, von der beklagten Partei statutengemäß die Baustelle Nr. 19 mit der Anwartschaft, deren Eigentümer zu werden, erworben zu haben. Er habe den Grundpreis gezahlt und die Kosten der Herstellung des Rohbaues des Siedlungshauses, der Einleitung von Wasser und Licht und des Einbaues einer Zentralheizung getragen. Durch die sich daraus ergebenden Gegenforderungen von mindestens 100.000 S erscheine der Schaden zur Gänze gutgemacht. Versuche, mit der beklagten Partei zu einer einverständlichen Abrechnung zu gelangen, seien gescheitert. Deren Abrechnung erkenne er nicht an.
Das Erstgericht wies die Klage, ohne - außer der Einsicht in den Vorstrafakt - Beweise aufzunehmen, mit der Begründung ab, eigenmächtig oder listig entzogene Stücke seien nach § 1440 ABGB. kein Gegenstand der Kompensation.
Die Berufung des Klägers blieb erfolglos.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Ansicht des Revisionswerbers, die Bestimmung des § 1440 ABGB. sei nicht anwendbar, kann nicht geteilt werden. Nach dem zweiten Satz dieser Gesetzesstelle sind eigenmächtig oder listig entzogene Stücke kein Gegenstand der Zurückbehaltung oder der Kompensation. Der Ausdruck "Stücke" betrifft auch vertretbare Sachen. Die Bestimmung ist im Falle der Entziehung von Geld, das mit eigenem Geld vermengt wurde, und sogar dann anwendbar, wenn sich der Anspruch auf Herausgabe bestimmter Sachen infolge schuldbarer Nichterfüllung oder verschuldeter Unmöglichkeit der Leistung in einen Schadenersatzanspruch auf Geld verwandelt hat (Gschnitzer in Klang 2. Aufl. VI 510). Unter listig und eigenmächtig entzogenen Sachen sind auch veruntreute Sachen zu verstehen. Der Grundgedanke der Gesetzesbestimmung ist der, das Zurückbehaltungs- und Kompensationsrecht bei Verhältnissen zu versagen, wo der Mißbrauch geradezu als Vertrauensbruch empfunden wird. Dies ist hier der Fall. Die Wirkung der Kompensation besteht in der gegenseitigen Aufhebung der Verbindlichkeiten (§ 1438 ABGB.). Diese Wirkung soll nach dem zweiten Satz des § 1440 ABGB. bei eigenmächtig oder listig entzogenen, entlehnten, in Verwahrung oder Bestand genommenen Stücken nicht eintreten. In diesen Fällen bleiben die beiderseitigen Forderungen aufrecht. Das bedeutet, daß nicht nur die Aufrechnungseinrede, sondern auch die Klage auf Feststellung des Erlöschens der Hauptforderung durch Aufrechnung mit der Gegenforderung keinen Erfolg haben kann. Dies führt zur Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)