Spruch:
Dem Gericht steht ein umfassendes, auch die tatsächlichen Feststellungen der Disziplinarkommission einschließendes Recht zur Nachprüfung betrieblicher Disziplinarerkenntnisse zu
OGH 18. September 1980, 4 Ob 67/79 (LGZ Graz 2 Cg 48/78; ArbG Graz 1 Cr 21/77)
Text
Der Kläger war seit 1. Jänner 1960 Leiter der Abteilung Leistungsbelegrevision (LR) der beklagten Gebietskrankenkasse und als solcher zuletzt in Gehaltsgruppe E (gehobener Dienst), Dienstklasse III, Bezugsstufe 18, des § 37 DO. A eingereiht. Als unkundbarer Angestellter der Beklagten war der Kläger auch den "Disziplinarvorschriften" des V. Abschnittes der DO. A (§§ 103 bis 118) unterworfen.
Mit Erkenntnis der Disziplinarkommission bei der beklagten Gebietskrankenkasse vom 23. November 1976 wurde der Kläger schuldig erkannt, im Jahre 1976 in Graz als Leiter der Abteilung LR der Beklagten "durch Nichtbefolgung von Weisungen und Unterlassen der Erteilung von Weisungen, durch mangelnde Initiativen, mangelhaftes Dienstinteresse und mangelhafte Kontrolltätigkelt" ein Dienstvergehen durch grobe Verstöße gegen die Dienstpflichten, die den Dienst, das Ansehen und die Interessen des Versicherungsträgers schädigen, im Sinne des § 105 Abs. 1 DO. A begangen zu haben; er wurde hiefür gemäß § 105 Abs. 1 Z. 3 DO. A "zur strafweisen Versetzung auf einen niedrigeren Dienstposten verbunden mit der Rückreihung in die entsprechende niedrigere Gehaltsgruppe (Dienstklasse) D II/18 (Bezugsstufe) mit dem ständigen Bezug von 17 722 S" verurteilt.
Mit der Behauptung, daß der Schuldspruch im Disziplinarverfahren nicht berechtigt sei, begehrt der Kläger im vorliegenden, seit 1. Feber 1977 anhängigen Rechtsstreit 1. die Feststellung, daß die von der Beklagten auf Grund des Disziplinarerkenntnisses vom 23. November 1976 ausgesprochene strafweise Versetzung des Klägers auf einen niedrigeren Dienstposten, verbunden mit der Rückreihung in die entsprechende niedrigere Gehaltsgruppe (Dienstklasse) D II/18 (Bezugsstufe), rechtsunwirksam ist;
2. die Verurteilung der Beklagten, diese strafweise Versetzung aufzuheben und ihn in die Gehaltsgruppe (Dienstklasse) E III/18 (Bezugsstufe) zurückzuversetzen.
Die Beklagte hat das Klagevorbringen zur Gänze bestritten. Ein rechtskräftiges Disziplinarerkenntnis könne nur wegen Verletzung zwingender Vorschriften des materiellen Rechtes oder des Verfahrensrechtes mit Klage im ordentlichen Rechtsweg angefochten werden; diese Voraussetzungen lägen aber hier nicht vor und seien auch vom Kläger nicht behauptet worden. Im übrigen entspreche der Schuldspruch des Klägers im Disziplinarverfahren vollinhaltlich der Sach- und Rechtslage.
Demgegenüber hat der Kläger noch ergänzend vorgebracht, daß das Erkenntnis der Disziplinarkommission tatsächlich zwingenden gesetzlichen Bestimmungen widerspreche. Der Betriebsrat sei entgegen §§ 96, 102 ArbVG übergangen und dem Verfahren nicht beigezogen worden; er habe der Versetzung des Klägers erst nach Ablauf von mehr als 13 Wochen (§ 101 ArbVG) zugestimmt. Die vom Kläger zunächst nominierten Mitglieder der Disziplinarkommission seien von der Beklagten entgegen § 108 DO. A nicht zugelassen worden. Der Untersuchungsführer habe mit dem Kläger lediglich ein Protokoll aufgenommen, ohne ihm die ihm angelasteten Tatbestände konkret mitzuteilen. Der Kläger habe in wesentliche Urkunden keine Einsicht erhalten, seine Anträge auf Vernehmung wichtiger Zeugen seien abgelehnt worden.
Das Erstgericht erkannte im Sinne des Feststellungsbegehrens des Klägers (Punkt 1 des Urteilsantrages) und hielt deshalb eine Entscheidung auch über das - nur hilfsweise gestellte - Leistungsbegehren (Punkt 2 des Urteilsantrages) für entbehrlich. Nach den Ergebnissen des Beweisverfahrens sei das Disziplinarerkenntnis gegen den Kläger verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen. Seine näher begrundete Überprüfung in materiell-rechtlicher Hinsicht führe jedoch zu dem Ergebnis, daß die Dienstverfehlungen des Klägers in ihrer Gesamtheit kein solches Ausmaß erreicht hätten, daß eine so schwerwiegende Maßnahme wie die Versetzung in die Gehaltsgruppe D, Dienstklasse II, gerechtfertigt wäre. Das angefochtene Disziplinarerkenntnis habe deshalb für rechtsunwirksam erklärt werden müssen.
Infolge Berufung der Beklagten änderte das Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz teilweise dahin ab, daß es die beanstandete Versetzung des Klägers nur insoweit für rechtsunwirksam erklärte, als damit eine strafweise Versetzung auf einen niedrigeren Dienstposten, verbunden mit einer Rückreihung in die entsprechende niedrigere Gehaltsgruppe (Dienstklasse) als in E II/18 DO. A verfügt wurde; das Mehrbegehren wurde abgewiesen. Das Berufungsgericht, welches die Verhandlung gemäß § 25 Abs. 1 Z. 3 ArbGG von neuem durchführte, kam auf Grund der von ihm getroffenen Feststellungen zum rechtlichen Ergebnis, daß Disziplinarerkenntnisse sowohl in bezug auf ihr formell einwandfreies Zustandekommen als auch in bezug auf die Richtigkeit der aus den festgestellten Tatsachen gezogenen Schlußfolgerungen der Überprüfung durch die ordentlichen Gerichte unterlägen. Das Disziplinarerkenntnis vom 23. November 1976 sei auf Grund eines einwandfreien Verfahrens ergangen, die vom Kläger vorgebrachten formalen Einwände aus den schon vom Erstgericht angeführten Gründen nicht stichhältig. Nach den Ergebnissen des Beweisverfahrens seien aber die dem Kläger zur Last fallenden Verfehlungen weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit so schwerwiegend, daß sie die von der Disziplinarkommission verhängte Strafe rechtfertigen könnten; dem Berufungsgericht erscheine vielmehr eine Rückreihung in die Dienstklasse II der Gehaltsgruppe E schuldangemessen. In diesem Sinne sei das Urteil des Erstgerichtes abzuändern und das darüber hinausgehende Mehrbegehren des Klägers abzuweisen.
Der Oberste Gerichtshof gab den von beiden Parteien gegen das Berufungsurteil erhobenen Revisionen nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Nachdem die ältere österreichische Rechtsprechung die Grenzen der Überprüfbarkeit betrieblicher Disziplinarerkenntnisse durch die Gerichte bald enger, bald weiter gezogen hatte und dabei zu keiner einheitlichen Auffassung gekommen war (dazu Übersicht bei Tomandl, ZAS 1974, 185), hat der OGH zunächst in Arb. 6775 = JBl. 1958, 285 und dann nochmals in Arb. 7737 = EvBl. 1963/407 die Auffassung vertreten, daß die Erkenntnisse einer Disziplinarkommission der Überprüfung durch die Gerichte sowohl in bezug auf ihr formell einwandfreies Zustandekommen als auch in bezug darauf unterlägen, ob die aus den festgestellten Tatbeständen gezogenen Folgerungen richtig sind und/oder nicht zwingenden gesetzlichen Bestimmungen zuwiderlaufen. Diese Formulierung ist im Schrifttum von Martinek - Schwarz (AngG[3], 423 f. § 25 Anm. 13) und Haslinger (Probleme bei der Verhängung betrieblicher Disziplinarmaßnahmen, ZAS 1967, 97 ff. und 134 ff., insbesondere 138 f.) übernommen worden, wobei allerdings der letztgenannte Autor - ähnlich wie Adler - Höller (in Klang[2] V, 342) - ein solches Prüfungsrecht des Gerichtes vor allem für jene Fälle bejaht, in denen eine Mitwirkung des Betriebsrates nicht möglich oder in einer Arbeitsordnung die fristlose Entlassung als Disziplinarstrafe vorgesehen ist. Im Gegensatz dazu ist Spielbüchler (Grundlagen des betrieblichen Disziplinarstrafrechtes, RdA 1970, 7 ff.) für eine umfassende Prüfung der betrieblichen Strafverhängung durch das Gericht eingetreten, welches dabei nicht nur Verstöße gegen zwingendes Recht oder gegen die guten Sitten wahrzunehmen habe, sondern insbesondere auch nicht an die Feststellungen der Disziplinarkommission gebunden sei, wenn und soweit der Beschäftigte deren Unrichtigkeit nachweisen könne (a.a.O., 14 f.). Auch in Floretta - Spielbüchler - Strasser, Arbeitsrecht I, 109 tritt Spielbüchler für eine Nachprüfung der Tatsachenfeststellungen der Disziplinarkommission durch das Gericht ein; dagegen will Tomandl (a.a.O., 185 f.) die gerichtliche Kontrolle auf die Wahrnehmung qualifizierter Mängel - grob unrichtige oder grob unbillige Gestaltungen, Überschreitung der Kompetenz der Disziplinarkommission, Verletzung von Verfahrensvorschriften, Verstoß gegen zwingendes Recht oder gegen die guten Sitten, Mißachtung der vertraglich festgelegten Bewertungen in bezug auf Disziplinarvergehen und Disziplinarstrafen - beschränken.
Nach abermaliger Prüfung dieser Frage schließt sich der erkennende Senat der überzeugend begrundeten Auffassung Spielbüchlers an: Daß die Verhängung betrieblicher Disziplinarstrafen im Einzelfall einem Dritten - insbesondere einem Disziplinarausschuß oder einer Disziplinarkommission - übertragen wird, welcher dabei ein bestimmtes Verfahren einzuhalten hat, kann die Überprüfbarkeit der Ausübung dieses Gestaltungsrechtes durch das Gericht schon deshalb nicht beschränken, weil diese Rechtsgestaltung nach dem Willen der Parteien auch in einem solchen Fall regelmäßig nur bei Vorliegen bestimmter, erst festzustellender Tatsachen vorgenommen werden soll. Wenn eine Disziplinarordnung die Verhängung von Disziplinarstrafen gestattet, dann knüpft sie diese Befugnis primär nicht an die Feststellung des betreffenden Tatbestandes durch die hiefür zuständige Einrichtung, sondern an das Vorliegen des Tatbestandes selbst. Daß dabei ein bestimmtes Verfahren vorgeschaltet wird, erscheint durchaus zweckmäßig, weil so eine bessere Gewähr für die unparteiische Prüfung der gegen den Arbeitnehmer erhobenen Vorwürfe geboten ist und damit Streitigkeiten über die Art und die Angemessenheit der Ausübung der Disziplinarstrafbefugnis faktisch weitgehend vermieden werden können. Eine darüber hinausgehende Bedeutung im Sinne einer Bindung des Gerichtes an die im Disziplinarverfahren festgestellten Tatumstände kann einer solchen Regelung jedoch umso weniger zuerkannt werden, als selbst einer paritätisch zusammengesetzten Disziplinarkommission, wie sie § 18 DO. A vorsieht, die dem Gericht zur Verfügung stehenden Mittel einer objektiven Wahrheitsfindung - insbesondere die unter Strafsanktion stehende Verpflichtung der vernommenen Auskunftspersonen zur wahrheitsgemäßen Aussage sowie überhaupt Zwangsmittel gegen Zeugen, die nicht aussagen wollen - fehlen. Soll also die in der Verhängung einer Disziplinarstrafe liegende (einseitige) Rechtsgestaltung nach dem Willen der Parteien nur dann ausgeübt werden, wenn der Arbeitnehmer die ihm angelasteten Verfehlungen tatsächlich begangen hat, dann muß es auch möglich sein, im Verfahren vor dem Gericht die Unrichtigkeit der von der Disziplinarkommission getroffenen Tatsachenfeststellungen nachzuweisen. Warum dieses Prüfungsrecht des Gerichtes auf "grob unrichtige Gestaltungen" beschränkt bleiben sollte, kann auch Tomandl (a.a.O.) nicht überzeugend begrunden. Angesichts der von Spielbüchler (a.a.O., 14) zutreffend hervorgehobenen Fragwürdigkeit einer Abgrenzung zwischen "Unwahrheit" und "offenbarer Unwahrheit" (bzw. "Unrichtigkeit" und "offenbarer Unrichtigkeit") kann der erkennende Senat dieser Meinung Tomandl nicht folgen; er bejaht vielmehr im Einklang mit Spielbüchler ein umfassendes, auch die tatsächlichen Feststellungen der Disziplinarkommission einschließendes Recht des Gerichtes zur Nachprüfung betrieblicher Disziplinarerkenntnisse. Nur der Vollständigkeit halber sei schließlich noch darauf verwiesen, daß auch die arbeitsrechtliche Lehre und Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland zum überwiegenden Teil eine ähnliche Auffassung vertritt (siehe dazu etwa Nipperdey in Hueck - Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts[7] II/2, 1379 f. mit weiteren Hinweisen; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 211; weniger weitgehend allerdings Nikisch, Arbeitsrecht[2] III, 420).
Geht man aber im Sinne dieser Rechtsauffassung bei der Überprüfung des Disziplinarerkenntnisses vom 23. November 1976 nicht von den von der Disziplinarkommission getroffenen Sachverhaltsfeststellungen, sondern von den Tatsachenfeststellungen des angefochtenen Urteils aus, dann erweist sich die Revision der Beklagten ebensowenig als stichhältig, wie jene des Klägers.
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