Spruch:
Eine Verletzung der den Arbeitgeber gemäß § 15 ArbVG treffenden Verpflichtung, den Kollektivvertrag binnen drei Tagen in einem allen Arbeitnehmern zugänglichen Raum aufzulegen und darauf in einer Betriebskundmachung hinzuweisen, berührt die Wirksamkeit des Kollektivvertrages nicht; für diese ist nur die Kundmachung im Amtsblatt zur "Wiener Zeitung" maßgebend
Aus einer Mißachtung des § 15 ArbVG durch den Arbeitgeber kann der Arbeitnehmer jedenfalls dann nichts für sich ableiten, wenn er auf andere Weise Gelegenheit hatte, sich über den Inhalt des Kollektivvertrages zu informieren
OGH 18. Mai 1982, 4 Ob 56/82 (LGZ Graz 2 Cg 47/81; ArbG Voitsberg Cr 10/81).
Text
Der Kläger war beim beklagten Transportunternehmer seit November 1972 beschäftigt. Am 31. 8. 1980 löste der Kläger das Dienstverhältnis, auf das der Kollektivvertrag für das Güterbeförderungsgewerbe Österreichs Anwendung fand, unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses vorzeitig auf. Art. XI Z 6 des Kollektivvertrages für das Güterbeförderungsgewerbe Österreichs lautet:
"Ansprüche des Dienstnehmers müssen innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit bei sonstigem Verfall beim Dienstgeber schriftlich geltend gemacht werden. Als Fälligkeitstag gilt der Auszahlungstag jener Lohnzahlungsperiode, in welcher der Anspruch entstand und dem Dienstnehmer eine ordnungsgemäße Lohnabrechnung ausgefolgt wurde.
Bei rechtzeitiger Geltendmachung bleibt die gesetzliche dreijährige Verjährungsfrist gewahrt."
Der Kläger behauptet, wegen Vorliegens wichtiger Gründe zum Austritt berechtigt gewesen zu sein, und begehrt vom Beklagten die Zahlung von 60 402.96 S samt Anhang an anteiliger Weihnachtsremuneration, Urlaubsentschädigung, Abfertigung und restlichem Monatslohn.
Der Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens und wendet ua. ein, daß die Ansprüche des Klägers gemäß Art. XI Z 6 des genannten Kollektivvertrages verfallen seien.
Der Kläger erwiderte, der Beklagte habe diesen Kollektivvertrag im Betrieb nicht in der in § 15 ArbVG vorgeschriebenen Form aufgelegt; dadurch habe er keine Kenntnis vom Bestehen allfälliger Fallfristen erhalten.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es war der Ansicht, daß der Beklagte die Bestimmung des § 15 ArbVG dadurch, daß der Kollektivvertrag beim Buchhalter des Betriebes aufgelegt und den Dienstnehmern die Möglichkeit zur Einsicht geboten worden sei, eingehalten habe. Der Kläger hätte daher seine Ansprüche innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit beim Dienstgeber schriftlich geltend machen müssen. Da dies nicht erfolgt sei, seien seine Ansprüche verfallen.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.
Es verhandelte die Rechtssache gemäß § 25 Abs. 1 Z 3 ArbGG von neuem und traf folgende Feststellungen:
Der Kollektivvertrag war im Betrieb des Klägers nicht in einem für alle Arbeitnehmer zugänglichen Raum aufgelegt. Der Beklagte hatte auch keine Betriebskundmachung, die auf den Kollektivvertrag hinwies, veranlaßt. Der Kollektivvertrag lag wohl im Büro des Buchhalters Adolf B auf, der ihn meist auf seinem Schreibtisch liegen hatte, manchmal aber auch in der Schreibtischlade verwahrte. Der Buchhalter pflegte allen Dienstnehmern auf Verlangen Auskunft über den Inhalt des Kollektivvertrages zu geben. Auf Ersuchen gewährte er auch Einsicht oder händigte den Kollektivvertrag auch zur Einsichtnahme aus.
Dem Kläger war zumindest bekannt, daß für seine Rechte und Pflichten ein Kollektivvertrag maßgebend war. Eine Verweigerung der Einsichtnahme erfolgte nie.
Der Kläger fühlte sich aus gesundheitlichen Gründen für Fernfahrten nicht mehr geeignet. Er erkundigte sich deshalb 14 Tage vor Beendigung seines Dienstverhältnisses bei der Arbeiterkammer V und erhielt dort die Auskunft, unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses zu kundigen. Diesen Rat verstand der Kläger dahin, daß er das Dienstverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist auflösen könne. Etwa einen Monat später erhielt der Kläger die mit 24. 9. 1980 datierte Abrechnung seiner Bezüge. Er begab sich in das Büro seiner Rechtsschutzversicherung, wo der Versicherungsangestellte in seiner Gegenwart in den Kollektivvertrag Einsicht nahm und, da er feststellte, daß verschiedene Ansprüche des Klägers nicht berücksichtigt worden waren, die Angelegenheit schließlich an den Klagevertreter weiterleitete, bei dem der Kläger am 10. 10. 1980 eine Vollmacht unterzeichnete. Erst am 20. 1. 1981 langte beim Beklagten ein mit 16. 1. 1981 datiertes Forderungsschreiben des Klagevertreters ein, das die nunmehr geltend gemachten Ansprüche enthielt.
Das Berufungsgericht war der Ansicht, daß der Beklagte die in § 15 ArbVG normierte Kundmachungspflicht nicht erfüllt habe. Die Wirksamkeit von Verfallsbestimmungen sei aber von der Erfüllung dieser Pflichten nicht abhängig. Nur wenn die Verletzung der Kundmachungspflicht zur Folge habe, daß ein Dienstnehmer über die Verfallsbestimmungen in Unkenntnis bleibe, bedeute das Erheben der Verfallseinrede eine gegen Treu und Glauben verstoßende mißbräuchliche Rechtsausübung. Davon könne aber etwa ab dem Zeitpunkt nicht mehr gesprochen werden, zu dem sich ein Dienstnehmer bei seiner Gewerkschaft Rat und Hilfe geholt habe. Der Kläger habe sich vor Ablauf der Verfallsfrist, die erst mit dem Zugang der Abrechnung Anfang Oktober zu laufen begonnen habe, von verschiedenen, dazu berufenen Stellen Rechtsbelehrung erteilen lassen. Im Zeitpunkt des Einlangens des vom Klagevertreter verfaßten ersten Forderungsschreibens beim Beklagten sei die Verfallsfrist bereits abgelaufen gewesen.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Gemäß § 15 ArbVG hat jeder kollektivvertragsangehörige Arbeitgeber den Kollektivvertrag binnen drei Tagen nach dem Tage der Kundmachung (§ 14 Abs. 4 ArbVG) im Betrieb in einem für alle Arbeitnehmer zugänglichen Raum aufzulegen und darauf in einer Betriebskundmachung hinzuweisen. Diese aus § 8 KollVG unverändert übernommene Bestimmung bezweckt, den kollektivvertragsangehörigen Arbeitnehmern die Gelegenheit zu vermitteln, den Inhalt des für sie geltenden Kollektivvertrages auf eine möglichst einfache und für sie möglichst wenig mühevolle Weise kennenzulernen. § 15 ArbVG ist daher als eine die Kundmachungsvorschriften des § 14 ArbVG ergänzende Norm anzusehen (Floretta - Strasser, Komm. z. ArbVG 112; Wachter, Gedanken zur Publikation arbeitsrechtlicher Vorschriften im Betrieb, ZAS 1976, 168 f.), die der Steigerung der Publizitätswirkung dient (Nikisch, Arbeitsrecht[2] II 358). Die Verletzung der den Arbeitgeber nach § 15 ArbVG treffenden Pflichten hat auf die Wirksamkeit des Kollektivvertrages keinen Einfluß;
Wirksamkeitsvoraussetzung ist nur die Kundmachung des Abschlusses des Kollektivvertrages im Amtsblatt zur "Wiener Zeitung" (Floretta - Strasser aaO 113; die selben, Kurz-Komm. 61; Weissenberg - Cerny, ArbVG[2] 65; Kinzel im Wirtschaftsverlag Komm. z. ArbVG 98; Haslinger, Die Kundmachung des Kollektivvertrags im Betrieb, ZAS 1968, 129 ff., 130 mwN FN 9 bzw. 3, 135 f.; Floretta - Spielbüchler - Strasser, Arbeitsrecht I 127; Arb. 10 003).
Auch die deutsche Lehre vertritt zu der ähnlichen Bestimmung des § 7 TVG, die den Arbeitgeber verpflichtet, die für seinen Betrieb maßgebenden Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, die Ansicht, daß die Vorschrift für die Geltung des Tarifvertrages keine konstitutive Bedeutung hat. Ob der Arbeitnehmer aus der Nichtbefolgung Schadenersatzansprüche gegen den Arbeitgeber ableiten kann, ist streitig. Die Bestimmung wird überwiegend weder als Schutzgesetz noch als Konkretisierung der sich aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden allgemeinen Fürsorgepflicht angesehen (Nikisch aaO 358; Hueck - Nipperdey, LB des Arbeitsrechts[7] II/1, 503 mwN; vgl. dazu auch Haslinger aaO 131, 135 f.).
In der Rechtsprechung arbeitsgerichtlicher Erst- und Berufungsgerichte wurde allerdings mehrmals die Ansicht vertreten, daß das Erheben einer auf Kollektivvertrag gestützten Verfallseinrede eine gegen Treu und Glauben verstoßende mißbräuliche Rechtsausübung sei, wenn der maßgebende Kollektivvertrag im Betrieb nicht aufgelegt worden sei (SozM I C 121, 267; Arb. 8324; dagegen Haslinger aaO 135 f.); dies gelte zumindest in jenen Fällen, in denen die Vernachlässigung der Kundmachungspflicht für den Verfall ursächlich gewesen sei (Arb. 8063); nach den Grundsätzen von Treu und Glauben sei aber der Beginn einer Verfallsfrist zumindest für den Zeitpunkt anzusetzen, zu dem sich der Dienstnehmer bei der gesetzlich anerkannten Interessenvertretung Rat und Hilfe geholt habe (Arb. 8419).
Der OGH hat in der Entscheidung vom 14. 5. 1957, SozM I C 235, nicht den Standpunkt eingenommen, daß die Geltendmachung kollektivvertraglicher Verfallsbestimmungen gegen Treu und Glauben verstoße, wenn der Arbeitgeber den die Verfallsbestimmung enthaltenden Kollektivvertrag nicht entsprechend § 15 ArbVG (damals § 8 KollVG) im Betrieb aufgelegt habe, obwohl man dies im Wege eines Umkehrschlusses aus dem veröffentlichten Rechtssatz ("Von dem Zeitpunkte an, wo feststeht, daß der Dienstnehmer Kenntnis von der Verfallsbestimmung eines Kollektivvertrages hat, kann er sich nicht mehr darauf berufen, daß der Dienstgeber entgegen der Vorschrift des § 8 KollVG den Kollektivvertrag im Betrieb nicht aufgelegt hat") schließen könnte. Der OGH konnte vielmehr, wie sich aus der Entscheidung klar ergibt (vgl. Die Worte ".... selbst wenn man der .... Rechtsansicht ..... beitreten würde ...."), diese Frage
dahingestellt sein lassen, weil der dortige Kläger von den Verfallsbestimmungen rechtzeitig Kenntnis erlangt hatte und danach die Frist (zur Klagsänderung) ungenützt verstreichen ließ.
Im vorliegenden Fall hat zwar der Beklagte die ihm nach § 15 ArbVG obliegenden Pflichten allein durch die Unterlassung der betrieblichen Kundmachung, in der darauf hinzuweisen gewesen wäre, an welchem genau bezeichneten Ort die Auflegung erfolgt ist (Floretta - Strasser, Komm. z. ArbVG 112), verletzt, sodaß die weitere Frage, ob die in der festgestellten Form erfolgte "Auflegung" beim Buchhalter den gesetzlichen Bestimmungen (insbesondere hinsichtlich der allgemeinen Zugänglichkeit) entsprach, auf sich beruhen kann.
Die Frage, ob, unter welchen Voraussetzungen und aus welchem Rechtstitel (Verstoß gegen Treu und Glauben; Schadenersatzanspruch aus Verletzung einer Fürsorgepflicht oder wegen Verletzung eines Schutzgesetzes) der Kläger der Einwendung des Anspruchsverfalles entgegenhalten könnte, daß der die Verfallsbestimmung enthaltende Kollektivvertrag nicht gemäß § 15 ArbVG im Betrieb kundgemacht (und aufgelegt) wurde, kann auch diesmal dahingestellt bleiben. Da der Zweck der Bestimmung nur darin besteht, dem Arbeitnehmer die Gelegenheit zu verschaffen, auf möglichst einfache Weise vom Inhalt des Kollektivvertrages Kenntnis zu erhalten, kann ein Arbeitnehmer aus der Verletzung dieser Bestimmung jedenfalls dann nichts mehr für sich ableiten, wenn er tatsächlich auf andere Weise Gelegenheit hatte, sich über die einzelnen Bestimmungen des Kollektivvertrages zu informieren. Im vorliegenden Fall steht fest, daß sich der Beklagte unmittelbar nach dem Beginn des Laufes der Verfallsfrist in das Büro seiner Rechtsschutzversicherung begab, wo der Versicherungsangestellte in Gegenwart des Klägers in den Kollektivvertrag Einsicht nahm. Der Kollektivvertrag lag somit entweder im Büro der Rechtsschutzversicherung auf oder es hatte ihn der Kläger überhaupt dorthin mitgebracht. Der Kläger hatte also jedenfalls leicht Gelegenheit, sich über den Inhalt des Kollektivvertrages zu informieren und auch durch dritte Personen beraten zu lassen. Mehr hätte er auch bei voller Einhaltung der Bestimmungen des § 15 ArbVG nicht erreichen können, so daß sich seine Behauptung, er habe mangels Einhaltung der Vorschriften des § 15 ArbVG von den im Kollektivvertrag enthaltenen Verfallsbestimmungen keine Kenntnis erlangt, als unzutreffend erweist.
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