European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0040OB00111.20G.0922.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird in ihrem nicht rechtskräftigen Teil dahin abgeändert, dass insgesamt das abweisende Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 8.625,20 EUR (darin enthalten 960,70 EUR USt und 2.861 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens zweiter und dritter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 21. März 2016 ereignete sich im Schigebiet von W***** in Vorarlberg ein Schiunfall, an dem die Streitteile beteiligt waren und bei dem der Kläger verletzt wurde. Der Unfall ereignete sich im Zielbereich einer vom übrigen Pistenbetrieb abgesperrten „Zeitmessstrecke“; der Zielraum war hingegen nicht zur Gänze abgesperrt, sondern blieb zu einer Seite hin teilweise offen. Die Benutzer dieser Strecke mussten beim Start ihre Liftkarte einscannen und durften diese nach einem akustischen Startsignal befahren. Die Startanlage war so konzipiert, dass beim Überfahren der Ziellinie der Start wieder freigegeben wurde. Im Normalfall dauerte es zwischen 45 Sekunden und einer Minute, bis der nachfolgende Schifahrer im Ziel ankam.
Am Unfallstag befuhren zunächst der Sohn des Klägers und in der Folge der Kläger selbst die Zeitmessstrecke. Der Kläger blieb nach dem Überfahren der Ziellinie im linken Bereich des Zielraums stehen, um sich mit anderen Mitgliedern seiner Gruppe zu besprechen, die sich außerhalb des Zielraums befanden. Unmittelbar nach dem Kläger befuhren N***** G***** und in der Folge der Beklagte die Zeitmessstrecke, wobei der Beklagte im unteren Streckenteil in einer Hocke oder Halbhocke fuhr und die Ziellinie mit einer Geschwindigkeit von rund 64 km/h überfuhr, als er den Kläger erstmals wahrnahm. Er reagierte mit einem Notsturz und prallte in der Folge gegen den Kläger. Ein rechtzeitiges Abschwingen und Stehenbleiben oder ein gezieltes und sicheres Vorbeifahren waren ihm unter Berücksichtigung einer angemessenen Reaktionszeit nicht mehr möglich. Aus der Hocke oder Halbhocke heraus hatte er beim letzten Tor noch keine Einsicht in die Auslauffläche.
Der Kläger begehrte Schadenersatz (Schmerzengeld, Verdienstentgang, Sachschäden und sonstige Kosten); zudem stellte er ein Feststellungsbegehren im Hinblick auf die Haftung des Beklagten für künftige Schäden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Dem Beklagten sei eine Vermeidung der Kollision mit dem Kläger nicht möglich gewesen, weshalb ihn kein Verschulden treffe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers (im Umfang der Anfechtung) Folge und erkannte das Zahlungsbegehren dem Grunde nach im Ausmaß von einem Drittel als zu Recht bestehend; die Abweisung des Feststellungsbegehrens hob es im Umfang von einem Drittel auf; das Mehrbegehren wies es ab. Die Zeitmessstrecke sei für jeden Schifahrer, der eine gültige Liftkarte besessen habe, benützbar gewesen. Es habe sich daher um keine Rennstrecke im eigentlichen Sinn gehandelt. Während die Strecke selbst (zwischen Start und Ziel) abgesperrt gewesen sei, sei der Zielraum auf eine Seite hin offen gewesen. Im Anlassfall sei daher zwischen der eigentlichen Strecke bis zur Ziellinie einerseits und dem Zielbereich andererseits zu unterscheiden. Jeder Nutzer der Zeitmessstrecke habe zumindest in Bezug auf den Zielbereich auf Sicht fahren müssen. Der Beklagte habe gegen dieses Gebot verstoßen; sein Verschuldensanteil belaufe sich auf ein Drittel. Die ordentliche Revision sei mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Beklagten, die auf eine Wiederherstellung der zur Gänze abweisenden Entscheidung des Erstgerichts abzielt.
Mit seiner – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Dementsprechend ist die Revision auch berechtigt.
Der Beklagte führt in seiner Revision aus, dass er aufgrund der Startfreigabe darauf hätte vertrauen dürfen, dass sich andere Benutzer weder auf der Strecke noch im Zielbereich aufhielten. Ein Gebot des Fahrens auf Sicht habe daher nicht bestanden. Außerdem wiege das Verschulden des Klägers derart schwer, dass ein allfälliges Verschulden des Beklagten gänzlich außer Acht zu bleiben habe.
Damit ist der Beklagte im Ergebnis im Recht:
1.1 In der Entscheidung zu 7 Ob 677/89 (JBl 1990, 458) wurde zur Haftung des Pistenerhalters für einen Unfall auf einer mit der hier vorliegenden „Zeitmessstrecke“ vergleichbaren, von der allgemeinen Piste abgegrenzten „permanenten Rennstrecke“ unter anderem ausgesprochen, dass eine solche Strecke leistungsbereiten Schifahrern als spezieller Rennkurs zur Verfügung gestellt wird, auf dem der Benützer nach Sinn und Zweck der Anlage nicht kontrolliert fahren muss, sondern grundsätzlich die Grenze seiner schisportlichen Leistungsfähigkeit ausloten darf. Der Benützer einer solchen Rennstrecke ist ein „Rennläufer“, der seine sportliche Leistungsfähigkeit auch mit der Leistung anderer vergleichen kann, wozu er vom Rennstreckenerhalter geradezu aufgefordert wird. Wenn er sich dem Zweck einer solchen Anlage entsprechend verhalten will, muss er sich voll auf seinen Lauf und die Tore konzentrieren, um eine möglichst hohe Geschwindigkeit zu erreichen. Anders als bei normalen Schipisten fordert bei den permanenten Rennstrecken der Erhalter geradezu zum riskanten Fahren auf (vgl dazu RIS‑Justiz RS0023509). In der – ebenfalls die Haftung des Pistenerhalters betreffenden – Entscheidung zu 1 Ob 19/10s wurden diese Grundsätze in Bezug auf eine von der übrigen Piste abgegrenzte Geschwindigkeitsmessstrecke (WISBI‑Strecke) wiederholt.
1.2 Auch wenn es sich bei solchen Zeitmessstrecken, die von allen Schifahrern mit einer gültigen Liftkarte benützt werden können, um keine „echten“ Rennstrecken handelt, auf denen organisierte und überwachte Schirennen stattfinden, steht doch auch beim Befahren einer solchen Strecke der sportliche Anreiz und das Erzielen einer nach dem jeweiligen Können sowie den Pisten- und Sichtverhältnissen möglichst hohen Geschwindigkeit im Vordergrund. Aus diesem Grund sind die Sorgfaltsanforderungen an die Schifahrer zwar nicht aufgehoben, im Vergleich zu jenen auf einer allgemeinen Schipiste aber herabgesetzt. Dabei ist zu beachten, dass der Schifahrer im Fall einer Startfreigabe durch eine – wie hier – akustische Startanlage davon ausgeht, dass sich auf seiner Fahrstrecke keine unerwarteten Hindernisse befinden, wobei er – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – nicht zwischen der Piste vom Start bis zur Ziellinie einerseits und dem Zielraum andererseits unterscheidet. Wenn der Schifahrer bis zur Ziellinie eine höhere Geschwindigkeit als auf einer allgemeinen Piste einhalten darf, muss ihm dieses risikoerhöhte Verhalten auch im Zielbereich zugebilligt werden. Aus diesem Grund kann hier – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – nicht von einem Gebot des Fahrens auf Sicht im Zielbereich ausgegangen werden.
2. Im Anlassfall sind die Voraussetzungen für die herabgesetzten Sorgfaltsanforderungen an den eine Zeitmessstrecke benützenden Schifahrer erfüllt. Die mit Toren ausgeflaggte Strecke war bis in den Zielbereich von der allgemeinen Piste abgegrenzt und mit einer Zeitnehmungseinrichtung versehen; der Start wurde durch ein akustisches Zeichen über die Startanlage freigegeben, wobei die Startfreigabe frühestens durch das Überqueren der Ziellinie durch einen zuvor gestarteten Schifahrer ausgelöst wurde.
3. Ausgehend von diesen besonderen Umständen ist der Ansicht des Berufungsgerichts, dass die Benützer der Zeitmessstrecke in Bezug auf den Zielauslauf auf Sicht hätten fahren müssen, nicht zu folgen. Da sich der Beklagte auf einer Zeitmessstrecke mit Startfreigabe befunden hat, durfte er die von ihm eingehaltene sportliche Fahrweise auch in Annäherung an den Zielbereich wählen. Nach den Feststellungen hatte er aus der Hocke oder Halbhocke heraus beim letzten Tor noch keine Einsicht in die Auslauffläche, weshalb er sich auf den Kläger als Hindernis nicht einstellen musste. Auch bei Wahrnehmung des Klägers ist ihm kein Fehlverhalten anzulasten, weil für ihn ein Stehenbleiben oder ein gezieltes Vorbeifahren objektiv nicht mehr möglich war. Damit fehlt es an einem Verschuldensvorwurf gegenüber dem Beklagten. Das Alleinverschulden am Schiunfall trifft den Kläger, der den Zielbereich sofort nach Beendigung seiner Fahrt hätte verlassen können und müssen. Das Risiko war ihm bekannt, zumal er zuvor seinen Sohn aufgefordert hatte, sich aus dem Zielbereich zu entfernen.
4. Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof damit nicht stand. In Stattgebung der Revision des Beklagten war daher die zur Gänze abweisende Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.
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