Spruch:
Wer eine Schutzvorschrift übertreten hat, haftet auch dann, wenn im einzelnen Falle die aus der Verbotsübertretung entstehende Beschädigung nicht voraussehbar war.
Entscheidung vom 10. Jänner 1951, 3 Ob 701/50.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien.
Text
Die Klägerin begehrte die Verurteilung der Beklagten zur Bezahlung eines Betrages von 34.204.35 S mit folgender Begründung: Am 13. Jänner 1948 sei ein Teil der Feuermauer des der Beklagten gehörigen Hauses eingestürzt und auf den zwischen dieser Feuermauer und der Portierloge des Postfuhramtes gelegenen posteigenen Holzschuppen gefallen, wodurch die dort gelagerten Materialien und Gerätschaften vollständig zerstört und die Einfriedungsmauer des Postgebäudes und das Dach der Klosettanlage und der Portierloge stark beschädigt worden seien. Der Wert der zerstörten Materialien (Hartgummikasten, Prismen und Säureballons) betrage 23.909.35 S, die Kosten der Wiedererrichtung der zerstörten Gebäudeanlagen 10.000 S, überdies habe die Klägerin für ein von ihr eingeholtes Sachverständigengutachten einen Betrag von 295 S bezahlen müssen. Die Beklagte sei zum Ersatz dieser Beträge aus dem Rechtsgrunde des Schadenersatzes verpflichtet, weil das Bauvorhaben der Beklagten, nämlich die Errichtung der Feuermauer, ohne Bewilligung der zuständigen Stellen von einer nicht befugten Person mangelhaft durchgeführt worden sei und die Beklagte sich einer ungeeigneten Hausverwalterin bedient habe. Demgegenüber wendete die Beklagte ein, sie habe nach teilweiser Zerstörung des Hauses alle notwendigen Abbrucharbeiten ausführen lassen und ihrer Hausverwalterin den Auftrag erteilt, Mietverträge über die drei aufzubauenden Wohnungen abzuschließen, wobei sich die Mieter zu verpflichten hätten, diese Wohnungen aus eigenen Mitteln aufzubauen. Der Schade sei durch höhere Gewalt entstanden, weil während der Arbeiten an der Feuermauer der im dritten Stock gelegenen Wohnung Nr. 21 ein schwerer Orkan mit einer Windstärke von 123 Stundenkilometern losgebrochen sei, der die noch in Bau befindliche Feuermauer zum Einsturz gebracht habe. Übrigens liege Mitverschulden der Klägerin vor, da diese wertvolle Materialien in unmittelbarer Nähe einer Bombenruine eingelagert habe.
Das Prozeßgericht gab dem Klagebegehren hinsichtlich eines Betrages von 30.909.35 S statt und wies das Mehrbegehren ab. Es stellte nachstehenden Sachverhalt fest: Das Haus der Klägerin wurde im Februar 1945 durch einen Bombenangriff schwer beschädigt, wobei ein Drittel der 24 Bestandobjekte des Hauses und die Dachdecke im vorderen Teil des Hauses ganz zerstört wurden. Die Beklagte ließ zwar die zerstörten Teile abtragen, erteilte aber keinen Auftrag zum Wiederaufbau an eine bestimmte Baufirma, sondern gab lediglich ihrer Hausverwalterin den Auftrag, mit allfälligen Mietinteressenten über die aufzubauenden Wohnungen Mietverträge abzuschließen, wobei die Mieter selbst die notwendigen Bauaufträge zu erteilen und für die Kosten des Aufbaues ihrer Wohnungen aufzukommen hätten. Die Hausverwalterin schloß nun mit drei Mietinteressenten, und zwar mit Dr. T. hinsichtlich der aufzubauenden Wohnung Nr. 17 im zweiten Stock, mit Anna H., hinsichtlich der im ersten Stock aufzubauenden Wohnung Nr. 13 und mit einem gewissen P. hinsichtlich der im dritten Stock aufzubauenden Wohnung Nr. 21 Mietverträge ab. Die Wohnung der Anna H. wurde durch die befugte Baufirma Karl W. aufgebaut. Der bei der Firma Karl W. vorübergehend als Baupolier beschäftigt gewesene Robert H., der keine gewerberechtliche Befugnis als Baumeister besaß, trat in den Mietvertrag des Dr. T. ein und baute die Wohnung Nr. 17 im zweiten Stock selbst auf; der Mietinteressent P. wurde hinsichtlich der im dritten Stock aufzubauenden Wohnung Nr. 21 von der Hausverwalterin an Robert H. gewiesen und erteilte diesem den Bauauftrag. Weder die Beklagte noch die Hausverwalterin kümmerten sich darum, ob tatsächlich der Aufbau der beiden letztgenannten Wohnungen und der zu diesen gehörigen Feuermauer durchgeführt werde und ob eine befugte Baufirma den Wiederaufbau durchführe, sie unterfertigten auch keine Baupläne und ließen sich diese auch nicht vorlegen; lediglich der Bauplan für die Wohnung Nr. 13 der Anna H. im ersten Stock, wurde von der Hausverwalterin unterfertigt. Der Einsturz der zu der im dritten Stock gelegenen Wohnung Nr. 21 gehörigen, noch nicht völlig fertiggestellten Feuermauer, der den der Klägerin entstandenen Schaden verursachte, ist dadurch entstanden, daß Robert H., der kein befugter Gewerbetreibender war, es unterlassen hatte, die Verzahnung der Feuermauer rechtzeitig herzustellen, daß er den Bau nur in Etappen durchführte und ihn mehrere Tage vor dem Sturm abgebrochen hatte, daß Robert H. einen infolge eines mangelhaften Mischungsverhältnisses minderwertigen Mörtel verwendete und daß die alten, schief stehenden Mauerteile nicht durch neue ersetzt wurden, wobei die mangelnde Verzahnung und das schlechte Mischungsverhältnis des Mörtels die Hauptursache des Einsturzes bildeten.
Aus diesen Feststellungen zog das Prozeßgericht folgende rechtliche Schlußfolgerungen: Die Beklagte habe äußerst fahrlässig gehandelt, weil sie als Hauseigentümerin die gehörige Aufmerksamkeit unterlassen habe, indem sie es dritten Personen überlassen habe, wie diese ihre Wohnungen aufbauen und mit wem sie Bauverträge abschließen würden, obwohl es sich doch um das Haus der Beklagten gehandelt habe. Die Unterlassung dieser Sorgfalt begrunde die Haftung der Beklagten nach § 1319 ABGB. Der Sturm, der am Tage des Einsturzes herrschte, könne die Beklagte von ihrer Haftung nicht befreien, da nicht bewiesen sei, daß nur der Sturm die Ursache des Einsturzes gewesen sei. Der Sturm habe nur den unmittelbaren Anlaß hiezu gebildet, die Ursache sei in der mangelhaften Beschaffenheit des Werkes zu suchen. Die Haftung der Beklagten sei aber auch nach § 1315 ABGB. gegeben, da sowohl Robert H. als auch die Hausverwalterin vollkommen untüchtige Personen gewesen seien. Bei letzterer sei eine beharrliche und konstante Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit zutage getreten, wie sie bei einer gewissenhaften Hausverwalterin nicht vorkommen dürfe. Ein Mitverschulden der Klägerin sei nicht gegeben, da die Beschaffenheit des Schuppens, in welchem die Materialien der Klägerin untergebracht waren, einwandfrei gewesen sei und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Anbringung des Holzschuppens an der Mauer eines bombenbeschädigten Hauses und dem Einsturz der Feuermauer infolge deren mangelhaften Beschaffenheit nicht bestehe. Da der Schaden, der an den Gebäudeanlagen entstanden sei, nur 7000 S betrage und der Klägerin ein Ersatzanspruch für die Kosten des Sachverständigengutachtens nicht zustehe, sei der Klägerin nur ein Betrag von 30.909.35 S zuzuerkennen, das Mehrbegehren aber abzuweisen gewesen.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil.
In rechtlicher Beziehung trat das Berufungsgericht der Beurteilung des Sachverhaltes durch das Prozeßgericht bei und sprach aus, daß die Beklagte es zu vertreten habe, daß die Hausverwalterin untüchtig sei und es an der gehörigen Aufmerksamkeit habe fehlen lassen, die von einer vorsichtigen und fürsorglichen Hausverwalterin gefordert werden müsse. Die Hausverwalterin habe es, obwohl der Wiederaufbau von Wohnungen im Interesse der Hauseigentümerin liege, unterlassen, sich um die Bauführung und darum, wer die Bauarbeiten durchführe, zu kümmern, habe sich weder Pläne noch sonstige Unterlagen vorlegen lassen, obwohl eindeutig und offenkundig zu ersehen gewesen sei, daß die in den oberen Stockwerken gelegenen Wohnungen neu aufgebaut und die dazugehörigen Teile der Feuermauer aufgerichtet würden. Es handle sich auch nicht um ein einmaliges Versehen der Hausverwalterin, da diese es fortlaufend unterlassen habe, sich um die Durchführung der Arbeiten zu kümmern und sich zu überzeugen, ob die Bauvorschriften eingehalten, Pläne eingereicht und die Arbeiten von einer befugten Baufirma durchgeführt wurden. Die Beklagte sei auch selbst verpflichtet gewesen, die ordnungsgemäße Art der Durchführung der Verwaltung zu überwachen, und hätte sich nicht damit begnügen dürfen, alles der Hausverwalterin zu überlassen, die im allgemeinen lediglich das Zinsinkasso durchzuführen, Mietverträge abzuschließen und gegebenenfalls auch Kündigungen vorzunehmen habe. Da die Instandsetzung einer so weit reichenden Zerstörung, wie im vorliegenden Falle, die Substanz des Hauses betreffe, sei die Beklagte verpflichtet gewesen, selbst für die ordnungsgemäße, den baubehördlichen Vorschriften entsprechende Behebung der Schäden Sorge zu tragen. Um sich zu exkulpieren, hätte die Beklagte gemäß § 1319 ABGB. beweisen müssen, daß sie alle zur Abwendung der Gefahr erforderliche Sorgfalt angewendet habe; diesen Beweis habe die Beklagte nicht erbracht. Auch die Haftung der Beklagten nach § 1315 ABGB. sei begrundet; auch wenn die Hausverwalterin konzessionierte Hausverwalterin sei, so werde dadurch die Haftung der Beklagten nicht ausgeschlossen, da sich die Hausverwalterin im vorliegenden Fall als untüchtige Person erwiesen habe; ob dieser Umstand der Beklagten bekannt war, sei ohne rechtliche Bedeutung. Ein Mitverschulden der Klägerin sei nicht gegeben, da die Beklagte weder behauptet noch bewiesen habe, daß die Klägerin die Materialien an der gefährlichen Stelle verwahrte, als die Mauer erbaut wurde, vorher aber die Stelle nicht gefährdet war.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Den Ausführungen der Revision zum Revisionsgrunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, die darzutun versuchen, daß es sich bei dem Sturm um eine höhere Gewalt gehandelt habe und daß der Einsturz nur auf diesen Sturm zurückzuführen sei und auch bei Anwendung allergrößter Vorsicht und beim besten Bauzustande nicht zu vermeiden gewesen wäre, ist zunächst entgegenzuhalten, daß nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanzen, an die das Revisionsgericht bei Prüfung der rechtlichen Beurteilung gebunden ist, der Einsturz in erster Linie auf die mangelhafte Bauführung zurückzuführen ist, für die die Beklagte, wie noch zu erörtern sein wird, nach § 1319 ABGB. haftet. Abgesehen davon besteht dann, wenn ein Schutzgesetz, das zufälligen Beschädigungen vorzubeugen sucht, übertreten wurde, keine Notwendigkeit, die Unfallskausalität mit voller Strenge nachzuweisen. In einem solchen Falle haftet der Schädiger bzw. der nach dem Gesetze zum Schadenersatz Verpflichtete auch dann, wenn im einzelnen Falle die aus der Verbotsübertretung entstehende Beschädigung nicht voraussehbar war. Es handelt sich um einen Fall gemischter Gefährdungshaftung. Es kann niemandem zugebilligt werden, daß er sich der Verantwortung für solche in abstracto voraussehbare Zufälle mit der Begründung entziehe, daß er sie in concreto nicht gekannt habe oder nicht habe voraussehen können, daß gerade im Einzelfalle in concreto die Ereignisse so verlaufen würden, daß der schädliche Zufall eintrete. Ein solches Entgegenkommen gegenüber dem Schuldtragenden wäre auch rechtspolitisch nicht zu rechtfertigen, da es nur zu einer Häufung von Fahrlässigkeiten führen würde. Zu den "Gesetzen" im Sinne des § 1311 ABGB. gehören auch die einschlägigen Bestimmungen der Gewerbeordnung und der Bauordnung. Derjenige, der diese Vorschriften übertritt, haftet daher für jeden Schaden, der eine solche Beschädigung darstellt, welcher das Schutzgesetz vorzubeugen sucht (Klang, zu § 1311 ABGB., S. 82; Ehrenzweig System Obligationenrecht, 1928, S. 43 Anm. 33, GlUNF. 7260; SZ. V/267; 2 Ob 535/50; 2 Ob 819/50). Selbst wenn daher der zur Zeit des Einsturzes herrschende Sturm wesentlich zum Einsturz beigetragen haben sollte (daß der Sturm die alleinige Ursache des Einsturzes war, hätte die Beklagte im Hinblick auf die festgestellten Mängel bei der Bauführung niemals beweisen können und es war auch nach dem Vorgesagten eine noch weitergehende Untersuchung bezüglich des Kausalzusammenhanges wegen der festgestellten Übertretung von Schutzgesetzen nicht notwendig), könnte hiedurch weder der Kausalzusammenhang ausgeschlossen noch die Beklagte von ihrer Haftung befreit werden. Daß aber die Beklagte nicht bewiesen hat, daß sie alle zur Abwendung der Gefahr notwendige Sorgfalt angewendet habe (§ 1319 ABGB.), haben die Untergerichte ohne Rechtsirrtum festgestellt. Der zutreffenden Begründung des Berufungsgerichtes ist im Hinblick auf die Ausführungen der Revision lediglich folgendes beizufügen: Die Beklagte wäre als Eigentümerin des Hauses verpflichtet gewesen, sich um den Wiederaufbau ihres Hauses selbst zu kümmern, da es sich ja um ihr Eigentum handelte, insbesondere dafür Sorge zu tragen, daß der Bau baubehördlichen Vorschriften gemäß mit Bewilligung der Baubehörde durch einen befugten Baumeister durchgeführt werde. Schon dadurch, daß die Beklagte diese Pflicht vollkommen vernachlässigt und alles der Hausverwalterin überlassen hat, in deren normalen Aufgabenbereich die Durchführung und Überwachung eines Hauswiederaufbaues nicht fällt, hat sie die ihr als Hauseigentümerin obliegende Sorgfalt verletzt und haftet daher gemäß § 1319 ABGB. für allen durch den Einsturz entstandenen Schaden.
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